Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in Geschichtsmuseen – Potentiale, Methoden, Vermittlung, Rezeption. Herbsttagung 2012 der Fachgruppe Geschichtsmuseen im Deutschen Museumsbund 19. Fachgruppentag

Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in Geschichtsmuseen – Potentiale, Methoden, Vermittlung, Rezeption. Herbsttagung 2012 der Fachgruppe Geschichtsmuseen im Deutschen Museumsbund 19. Fachgruppentag

Organisatoren
Fachgruppe Geschichtsmuseen im Deutschen Museumsbund
Ort
Nürnberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.11.2012 - 12.11.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Claudia Gemmeke, Stadtmuseum Berlin

„Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in Geschichtsmuseen – Potentiale, Methoden, Vermittlung, Rezeption“ war das Thema der Herbsttagung 2012 der Fachgruppe Geschichtsmuseen im Deutschen Museumsbund, die am 10.-12. November 2012 in Nürnberg stattfand. Anhand von Projektvorstellungen wurden Methoden der Zeitzeugenarbeit, Vermittlungsansätze und die Rezeption beim Besucher reflektiert und erörtert.

Einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur ‚Oral History‘ gab zunächst SARAH SCHOLL-SCHNEIDER (Mainz). Sie erläuterte, dass Oral History zwar methodologisch seit jeher umstritten ist, aber gerade für Museen große Potentiale bereithält, wenn Kontextmaterialien (Objekte und Quellen) sowie eine strenge wissenschaftliche Durchführung und methodisch-kritische Beobachtung einen kritischen Bewertungsrahmen bieten. In der Nutzung von Zeitzeugen-Interviews ist längst ein Paradigmenwechsel eingetreten: Von Bedeutung ist die Form der Präsentation des Interviews und die Art und Weise, wie es angelegt wurde; das historisch Faktische kann dahinter zurücktreten. Ein Fallstrick für die Zeitzeugenarbeit ist heute der gegenwärtige Kulturwandel mit einer überaus starken Medialisierung und Emotionalisierung der Geschichtserzählung. Aus Film- und Fernsehdokumentationen und aus der Gedenkstättenarbeit sind die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nicht mehr wegzudenken. Sie sind als „Quelle“ unverzichtbarer Bestandteil einer Erinnerungskultur geworden, die auf emotionale Zugänge zu historischen Prozessen setzt. MATTHIAS HENKEL (Nürnberg) warnte daher in seiner Begrüßung vor der Gefahr einer Authentizitätssuggestion, die mit der zunehmenden Mediali¬sierung der Geschichtserfahrung vor allem der jungen Generation einhergeht.

Wie stark die Überformung der Zeitzeugen-Interviews durch die Medienrezeption einerseits und den korrigierenden Rückblick auf das Leben andererseits ist, legte OLIVER DOETZER-BERWEGER (Herne) anhand eines Oral-History-Projektes zu Kindheiten im Nationalsozialismus dar. Durchaus bewusst ist den Experten das vor allem von Harald Welzer kritisch herausgearbeitete Phänomen, dass Zeitzeugen in ihrer Rückschau auf bekannte Stereotypen verfallen. Dies ist als Faktum in die wissenschaftliche Konzeption und Verarbeitung der Zeit¬zeugenaussagen einzubeziehen. Zentrale Bedeutung kommt daher der Interviewstrategie und Gesprächsführung zu. Letztlich muss eine kommunikative Situation geschaffen werden, die geprägt ist von Vertrauen und Ebenbürtigkeit der Gesprächspartner, stellte der Experte für Erzählforschung ALBRECHT LEHMANN (Hamburg) im Podiumsgespräch heraus. Die Rolle wie auch die Kompetenz des Interviewers ist daher von entscheidender Bedeutung für das Gesprächsergebnis.

Einig waren sich die Gesprächsteilnehmer der öffentlichen Podiumsdiskussion auch in der Bewertung der Aussagen von Harald Welzer (Harald Welzer/Dana Giesecke: Das Menschenmögliche, Hamburg 2012) und der Protagonisten der Hirnforschung: Zeitzeugenaussagen sind immer unsicher im Hinblick auf das historisch Faktische. Von unschätzbarem Wert sind sie jedoch in ihrer Authentizität, wenn es um die Opfer und ihre Geschichte geht. WOLFGANG RUPPERT (Berlin) betonte die besondere Bedeutung der Zeitzeugenaussagen für die Entmythisierung des Nationalsozialismus. Der Leiter des Dokumentationszentrums Reichsparteitaggelände HANS-CHRISTIAN TÄUBRICH (Nürnberg) machte darauf aufmerksam, wie wichtig die Begegnung mit Zeitzeugen und Opfern der Diktatur besonders für Jugendliche im Dokumentations¬zentrum ist und einen elementaren Teil der Gedenkstättenarbeit darstellt, die mittlerweile von der ‚Zeitzeugenschwemme‘ in den Medien in Misskredit zu geraten drohe.

Von unvergleichlicher Bedeutung sind die Gespräche mit Zeitzeugen für die Gedenkstättenarbeit wenn keine schriftlichen Quellen oder Überlieferungen aus dem Lageralltag vorliegen, Schriftquellen eine andere Wirklichkeit in den Akten vorzugeben suchen oder Briefe und Berichte diesen gezwungen fälschlich wiedergeben. Die Bewertung als Narration der vergan¬gen¬en Situation und nicht als Zeugnis der Situation ist methodische Prämisse, so KIRSTEN JOHN-STUCKE (Wewelsburg, Paderborn). Dort wird in einer Medieninstallation mit Einspielungen von Zeitzeugenerzählungen die Summe der subjektiven Wahrnehmungen von Lagerinsassen für die Besucher zu einem beeindruckenden Gesamtbild verwoben. Wie sehr allerdings das Erinnerungsvermögen jener Generation doch zum Teil fragmentarisch bleibt, wenn es um Details der Alltagsgeschichte geht, verdeutlichte die Projektpräsentation des LVR-Industriemuseums Ratingen zu Kleidungsgewohnheiten in der NS-Zeit von CLAUDIA GOTTFRIED (Ratingen).

Doch was tun, wenn man nur Briefe als Zeitzeugnisse hat? Wie gelingt es, eine Betroffenheitsebene für die nachgeborene Generation und eine Kommunikation mit dem Betrachter herzustellen? Diese Fragen loteten MONIQUE BEER (Frankfurt am Main) und Jesko Bender in ihrem Ausstellungs¬projekt im Jüdischen Museum Frankfurt am Main anhand vier erhaltener Auschwitz-Briefe von Emil Beer aus (<http://www.briefzeugenschaft.de>).

Eine andere Variante, Zeitzeugen in den Dienst der Vermittlung zu stellen, ist es, Narrationen von Zeitzeugen als thematisch orientierte Biografien zu präsentieren. Als Beispiel dafür steht das Zeitzeugenprojekt am Haus der Bayerischen Geschichte. Mittlerweile sind rund 400 Interviews mit Persönlichkeiten der bayerischen Zeitgeschichte über das Online-Portal <http://www.zeitzeugen.hdbg.de> zugänglich sowie aufbereitet auf DVD mit Materialien für den Schulunterricht. Dem Großprojekt und seiner Veröffentlichung liegen, so WOLFGANG REINICKE (Augsburg), eine intensive wissenschaftliche Vor- und Nachbereitung sowie eine professionell ausgearbeitete Interview-Führung zugrunde. Die lebensgeschichtlichen Interviews verstehen sich bewusst als biografische Erzählungen zu Schwerpunktthemen, nicht als objektive Darstellung von Bayerischer Geschichte und sie haben ihre Relevanz in eben diesem Kontext.

Diesen Ansatz verfolgte auch das Schlesische Museum zu Görlitz mit seinem Beitrag zur Sächsischen Landesausstellung „Via Regia“. Görlitz sollte als Zentrum für Flucht- und Migrationsprozesse in der Lausitz anhand von ausgewählten biografischen Interviews von Vertretern verschiedener Volksgruppen erfahrbar werden, so MARTINA PIETSCH (Görlitz). Besonders dieses Projekt resümierte noch einmal eine zentrale Erkenntnis der Veranstaltung: Voraussetzung ist eine klare Zielsetzung für das Projektvorhaben mit Zeitzeugen. Diese hat den Rahmen und die Relevanz für das historisch Faktische wie auch für die Methodik und ihre Wirkung zu definieren.

Es wurde allen Teilnehmern der Tagung deutlich: Eine professionelle Projekt-, Interview- wie auch Medienregie eines Zeitzeugenprojektes ist unabdingbar - nicht nur für die wissenschaftliche Reputation, sondern auch für die narrative Dichte und letztlich für den Erfolg beim Besucher und Rezipienten. Die Beiträge werden auf der Homepage des Deutschen Museumsbundes, unter der Fachgruppe Geschichtsmuseen unter ‚Vorträge‘ veröffentlicht.1

Konferenzübersicht

Begrüßung

Markus Moehring, Sprecher der Fachgruppe Geschichtsmuseen im DMB und Leiter des Dreiländermuseums Lörrach
Julia Lehner Kulturreferentin der Stadt Nürnberg
Matthias Henkel, Direktor der Museen der Stadt Nürnberg

I.
Sarah Scholl-Schneider, Johannes Gutenberg-Universität Mainz: Erinnerung und Medialität. Entwicklungen und Perspektiven der Oral History

Wolfgang Reinicke, Haus der Bayerischen Geschichte, Augsburg: Das Zeitzeugenprojekt am Haus der Bayerischen Geschichte: Themenschwerpunkte, Onlineportal und rechtliche Fragen

II. Öffentliche Podiumsdiskussion „Zeit der Zeugen – Zeugen der Zeit“

Michael Diefenbacher, Stadtarchiv Nürnberg
Michael Henker, Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern
Albrecht Lehmann, Institut für Volkskunde/ Kulturanthropologie, Hamburg
Matthias Murko, Leiter Museum Industriekultur, museen der stadt nürnberg
Wolfgang Ruppert, Universität der Künste, Berlin
Hans-Christian Täubrich, Leiter Dokumentationszentrum Reichsparteitaggelände, museen der stadt nürnberg

Moderation: Matthias Henkel, Direktor der Museen der Stadt Nürnberg

III.
Oliver Doetzer-Berweger, Städtische Museen der Stadt Herne: „Krempelkrams im Plutokratenfähnlein“ oder: Oral History als Forschungsmethode im Kontext einer Kindheits-und Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus

Claudia Gottfried, LVR-Industriemuseum, Ratingen: „Man konnte die Kleidung lesen“ – Zeitzeugenbefragungen zu Kleidung im „Dritten Reich“. Aus einem von der VW-Stiftung geförderten Projekts zur Erschließung von Kleidung und Textilien

Kirsten John-Stucke, Kreismuseum Wewelsburg: „Wewelsburg ich kann dich nicht vergessen!“ – Zur Vermittlung der Erinnerungen von Überlebenden des KZ Niederhagen-Wewelsburg in der Erinnerungs-und Gedenkstätte Wewelsburg 1933–1945 des Kreismuseums Wewelsburg

Monique Behr, Frankfurt am Main: Emil Behr – Briefzeugenschaft vor, aus, nach Auschwitz, 1938–1959. Aneignung und Transformation von Zeitzeugnissen in einem Forschungs- und Ausstellungsprojekt

Martina Pietsch, Schlesisches Museum zu Görlitz: Inszenierte Begegnung. Zeitzeugen in der Ausstellung „Lebenswege ins Ungewisse“ des Schlesischen Museums zu Görlitz

IV.
Beate Hauck, Historisches Centrum Hagen: Interkulturelle Erinnerungsarbeit als Bestandteil des kommunalen Gedächtnisses – oder: Der Wert internationaler Zeitzeugen/innen für die kommunale Geschichtskultur. Das Beispiel Hagen,

Sabine Vogel, Berlin: Ins Gespräch kommen. Zeitzeugen-Videos als partizipatives Projekt

Anmerkung:
1 <http://www.museumsbund.de/de/fachgruppen_arbeitskreise/geschichtsmuseen_fg/vortraege/> (23.07.2013).


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Deutsch
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