Crossing Thresholds: Decoloniality and Gender in Caribbean Knowledge

Crossing Thresholds: Decoloniality and Gender in Caribbean Knowledge

Organisatoren
Romanisches Seminar, Leibniz Universität Hannover; Gesellschaft für Karibikforschung/Society of Caribbean Research
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.01.2013 - 25.01.2013
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Von
Martina Urioste-Buschmann, Romanisches Seminar, Leibniz Universität Hannover

Die Verknüpfung von Genderthematiken und Fragen der Dekolonialität ist in den Forschungen über die verschiedenen Sprachräume der Karibik unterschiedlich vorangeschritten. Jedoch spielt die Untersuchung von Geschlechterfragen innerhalb der interdisziplinären Karibikforschung seit mehreren Jahrzehnten generell eine große Rolle.

Der interdisziplinäre Nachwuchsworkshop „Crossing Thresholds“, zu dem das Romanische Seminar der Leibniz Universität Hannover und die Gesellschaft für Karibikforschung/Society of Caribbean Research - SoCaRe eingeladen hatten, widmete sich daher genderspezifischen dekolonialen Perspektiven im Bereich der Karibikforschung. Der Nachwuchsworkshop hatte zum Ziel, diese im sprachraumübergreifenden Kontext bisher wenig bearbeitete Schnittstelle sichtbar zu machen und Wege zu erkunden, wie sich diese künftig systematisch bearbeiten lässt.

In ihrem Einführungsvortrag diskutierte SABINE BROECK (Bremen) das epistemische Projekt Sylvia Wynters und deren Begriff des Humanen: Ausgehend von Wynters Aufsatz „Beyond Miranda’s Meanings; Unsilencing the ‚Demonic Ground of Caliban’s Woman’“1 legte Broeck den Fokus auf Wynters Kritik am Gender-Konzept und zeigte dessen Grenzen auf. Am Beispiel der sozialen Position des schwarzen Sklaven2 führte Broeck die Diskussion auf den Ausgangspunkt der Moderne zurück und zeigte die problematischen Überlagerungen und Ausblendungen von Gender und Race im Ringen um den Subjektstatus: In der Unsichtbarkeit der schwarzen Sklavin zeige sich mit Wynter die Aporie der modernen Konzepte. Diese historische Perspektive führte Broeck zu einer Kritik des Konzepts der Intersektionalität, das einerseits wichtige Beiträge eines afroamerikanischen Feminismus ausblende und zugleich die problematischen Überschneidungen, Überlagerungen und Ausblendungen von Identitätspositionen nicht fassen könne. Broecks Plädoyer, die theoretischen Überlegungen und Analysen der karibisch-US-amerikanischen Theoretikerin Sylvia Wynter in die post- und dekoloniale Diskussion einzubringen, fand in den anschließenden Diskussionen Widerhall.

NADIA CELIS (Brunswick) ging in ihrem Einführungsvortrag der Frage nach, wie die karibische Kolonialgeschichte als eine verkörperlichte Erfahrung verstanden werden kann. Widerstand und Körperbewusstsein, so argumentierte sie, müssen in diesem Kontext jenseits des Symbolismus à la Judith Butler zusammengedacht werden. Am Beispiel verschiedener Erzähltexte von Mayra Santos-Febres, Fanny Buitrago, Marvel Moreno und Magali García Ramis verdeutlichte Celis, wie karibische Autorinnen weibliche Körperautonomien inszenieren, die auf einer materiellen Ebene Zugänge zu dekolonialen Denkformen lesbar machen.

Zu Beginn des ersten Panels „Decolonizing Gender Identities in Caribbean History“ erläuterte ULRIKE SCHMIEDER (Hannover) unter Auswertung verschiedener historischer Quellen, wie europäisch-bürgerliche Geschlechterkonzepte in den Sklavengesellschaften des spätkolonialen Kuba als individuelle Strategien sozialer Mobilität und zur Erlangung von Freiheit genutzt wurden.

LISSETTE ACOSTA CORNIEL (Albany) wendete sich im folgenden Vortrag den Gewalterfahrungen spanischer Frauen auf Hispaniola zu. Hierbei zeigte sie anhand historischer Frauenbiografien die von Unterdrückung gekennzeichnete marginale Gesellschaftsposition weißer Frauen im spanischen Kolonialreich auf und kontrastierte diese mit der selektiven Ausrichtung patriarchalischer Menschenrechtsdiskurse.

HENNING MARQUARDT (Hannover) untersuchte in seinem Vortrag anhand zweier Kurzgeschichten von Walter Jekyll und Peter Abraham die literarische Darstellung christlich-bürgerlicher Familienmodelle in der jamaikanischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Dabei verdeutlichte er, wie die jamaikanischen Autoren in ihren Texten europäische Familienkonzepte als gescheiterte Gesellschaftsmodelle und Sinnbilder britischer Kulturhegemonie verhandeln.

JEANETTE EHRMANN (Frankfurt am Main) untersuchte die Rolle weiblicher Sklaven in der haitianischen Revolution als historiographische Leerstelle und mythische Repräsentation. Unter Bezugnahme auf Sylvia Wynters Kritik an der Kolonialität der europäischen Moderne, fußend auf dem rationalen politischen Subjekt des Humanismus, brachte Ehrmann diese Leerstelle mit der kolonialen Negation von weiblicher Identität innerhalb der Sklavenbevölkerung und den eurozentrischen Begrenzungen von Feminismusdiskursen in Verbindung. In diesem Zusammenhang zeigte sie auf, dass der politische Widerstand von Sklavinnen während der haitianischen Revolution nicht mit herkömmlichen Widerstandskonzepten erfasst werden kann, da er in alltäglichen subversiven Handlungspraxen, wie beispielsweise der systematischen Abtreibung von Schwangerschaften, seinen Ausdruck gefunden habe.

Das Panel und die anschließende Diskussion wurden von BASTIENNE SCHULZ (Nancy) moderiert.

Im zweiten Panel „Caribbean Conceptions of Maculinity and Race“ untersuchte RAFAEL GÓMEZ (Albany) narrative Inszenierungen von Männlichkeitskonzepten innerhalb der hispanoantillischen Diaspora-Literatur in den USA. Am Beispiel der Erzähltexte Down These Mean Streets von Piri Thomas und The Brief Wondrous Life of Oscar Wao von Junot Díaz verdeutliche Gómez metaphorische Verbindungslinien zwischen heteronormativen Geschlechteridentitäten und Konstruktionen (bi-)nationaler Zugehörigkeit. Gómez zeigte anhand der Textbeispiele zudem auf, dass die narrative Vermittlung des archetypischen ‚Latinos‘ innerhalb der hispanokaribischen Diaspora-Literatur einem generationellen Wandel unterworfen ist.

MARITA RAINSBOROUGH (Hamburg) diskutierte anschließend die Darstellung von sexuellem Begehren im Kontext fortlebender kolonialer Machtstrukturen am Beispiel brasilianischer Erzähltexte der Autoren Rachel de Queiroz und Rubem Fonseca. Anhand ausgewählter Textstellen analysierte Rainsborough, wie erotisch/sexuelles Begehren über die Kategorie ‚race‘ lesbar gemacht wird. Bezug nehmend auf Frantz Fanons Kritik am kolonialen Rassismus verdeutlichte sie, dass die geschlechtliche Performanz in jenen Texten nicht zu emanzipatorischen Verschiebungen im Sinne Butlers führt, sondern vielmehr den Ausdruck einer kolonialen Kontinuität annimmt.

Das Panel und die anschließende Diskussion wurden von REBECCA FUCHS (Mannheim) moderiert.

Im Rahmen des dritten Panels „Conceptions of Womenhood in Caribbean Literature“ beleuchtete ANA MATEOS (München), wie Rassenideologien im Kontext der karibischen Plantagengesellschaft textlich dekonstruiert werden. Am Beispiel des kubanischen Romans Sofía von Martín Morúa Delgado diskutierte sie narrative Strategien, welche die Kategorie ‚race‘ als eine interessenbezogene Erfindung weißer Plantagenbesitzer entlarven. Mit Blick auf die Figurenkonstellation um die weibliche Protagonistin Sofía und ihre Halbschwestern Ana María und Magdalena warf Mateos zudem die Frage auf, inwieweit koloniale Unterdrückungserfahrungen von Frauen jenseits der Hautfarbe vergleichbar sind. Deutlich unterstrich sie hierbei die Unterschiede zwischen der subalternen Position spanischer Frauen und afrokubanischen Sklavinnen innerhalb der Plantagengesellschaft.

Im anschließenden Beitrag erörterte GUDRUN RATH (Konstanz) die Rolle des weiblichen Zombies innerhalb haitianischer Kriminalromane. Der weibliche Zombie, so Rath, stelle innerhalb des zeitgenössischen Haiti Noir-Genres eine heteronormative Kategorie dar, die weibliche Figuren mit dem Bild der ‚femme fatale‘ überzeichne. Das exotistische Stereotyp des weiblichen Zombies konfiguriere außerdem jenseits postkolonialer Schreibstrategien ein weibliches Handeln, welches männliche Konzepte des ‚Unheimlichen‘ à la Freud lesbar mache.

Der anschließende Beitrag von GEORGETTE MITCHELL (New York/New Brunswick) erörterte am Beispiel der Romantrilogie Amour, colère et folie der haitianischen Autorin Marie Chauvet die Denkfigur des ‚Unheimlichen‘ im Sinne Homi K. Bhabhas. Mitchell zeigte hierbei auf, dass die Protagonist/innen Claire, Rose und René als hybride Grenzgänger/innen agieren, die im Kontext repressiver Gesellschaftsstrukturen des Duvalier Regimes die lineare Ordnung von Zeit durchbrechen. Das Konzept der ‚métissage‘, so Mitchell, erscheine hierbei im narrativen Gewand der ‚folie‘ und vermittle eine Alienität inmitten haitianischer Gesellschaft, die sich im Zusammenspiel mit genderbezogenen Prozessen universeller Kontamination entfalte.

ANNIKA MCPHERSON (Oldenburg) setzte sich in ihrem Vortrag mit der Karibik als ‚translokalem’ Ort einer dekolonialen Denkfabrik auseinander. McPherson konkretisierte anhand verschiedener anglokaribischer Kultur- und Textproduktionen, wie zum Beispiel Dub Performance Poetry und ‚neo-slave-narratives’, und mit Bezugnahme auf Sylvia Wynter eine Tendenz dekolonialer Kritik, die eine ‚Re-Humanisierung’ der Sklavereierfahrung einfordert. Dabei ging McPherson auch auf die Bedeutung von Rastafari-Autorinnen ein, die aus ihrer weiblichen Position heraus Geschichten des Widerstands in den Blickpunkt rücken und ‚das Menschliche’ jenseits eurozentrischer Kulturkritik ergründen. Das Panel und die anschließende Diskussion wurden von PAULINE BACHMANN (Berlin) moderiert.

Im letzten Panel „Caribbean Queerness – Crossing the Gender Threshold“ beschäftigte sich zunächst MARTINA URIOSTE-BUSCHMANN (Hannover) mit narrativen Artikulationsformen kubanischer Exiliarität im Kontext lesbischer Identitätspositionen. Am Beispiel von Achy Obejas Roman Memory Mambo untersuchte sie narrative Entwürfe des ‚sexilios’, die sich unter anderem über das Stilmittel der Ekphrasis entwerfen. Urioste-Buschmann schlussfolgerte, dass jene literarischen Ausformungen ein ‚Border Thinking’ im Sinne Gloria Anzaldúas lesbar machen, worüber das Spannungsverhältnis zwischen sexueller Identität und kultureller Zugehörigkeit in der kubanisch-amerikanischen Diaspora ausgelotet werde.

WIEBKE BEUSHAUSEN (Heidelberg) gab anhand ihrer Analyse von fiktionalen Erzähltexten der jamaikanisch-kanadischen Autorin Makeda Silvera Einblick in narrative Dekonstruktionen heteronormativer Geschlechterrollen. Beushausen betonte, dass Silveras Werk eine geschlechtsbezogene Perspektive auf karibisches Leben in der Diaspora entwerfe, welche die Verbindung zwischen viriler Männlichkeit und karibischer Nationalidentität radikal in Frage stelle. Aus einer lesbischen Perspektive inszenierten diese Erzähltexte weibliche Unterdrückungsmechanismen im transnationalen Kontext zwischen Jamaika und Kanada. Beushausen schlussfolgerte hierbei, dass Silveras politisch-engagierte Literatur Impulse für einen ‚black-Canadian feminism’ konstituiere.

Der letzte Beitrag von JULIA ROTH (Berlin) widmete sich den musikalischen Kulturproduktionen der queer-lesbischen Hip Hop Gruppe Las Crudas Cubensí. Anhand von Live-Performance-Ausschnitten und der Analyse einzelner Liedtexte zeigte Roth auf, wie sich die in den USA lebende kubanische Band heteronormativ-männlich konnotierte Musikgenres aneignet, um Homophobie und Rassismus zu thematisieren. Hierbei erläuterte Roth ihre These, dass jene lesbisch-queeren Appropriationen des Hip-Hop aus einer kubanisch-diasporischen Perspektive intersektionelle und gegenhegemoniale Kulturkritik zum Ausdruck bringen und zur Herausbildung einer dekolonial-feministischen Praxis –einem ‚New Caribbean Feminism’ – beitragen. Das Panel und die anschließende Diskussion wurden von ILKA BRASCH (Hannover) moderiert.

Im Rahmen eines runden Tisches, der die Tagung offiziell beendete, stand zum einen die internationale Vernetzung von Karibikforscher/innen im Kontext der Gesellschaft für Karibikforschung /Society of Caribbean Research - SoCaRe im Vordergrund. Hierbei wurden erste Ideen für ein gemeinsames Publikationsprojekt gesammelt, das die Tagungsbeiträge zusammenführen soll. Außerdem wurden Vorschläge für die Fortsetzung der Workshop-Reihe, welche seit 2011 existiert, hinsichtlich zukünftiger Themenstellungen und Austragungsorte sondiert. Zum anderen konnten in der Abschlussrunde inhaltliche Aspekte aufgegriffen und zusammengeführt werden, die Gegenstand der Diskussionen in den einzelnen Panels gewesen waren. Wesentliche erkenntnisreiche Punkte waren hierbei:

- Die historisierte Perspektive auf Konzepte karibischer und schwarzatlantischer Feminismusströmungen, welche die Impulse aus den 1960er und 1970er Jahren in den Blickpunkt rückt, muss bei der Betrachtung vergleichsweise neuer Dekolonialitäts- und Intersektionalitätstheorien berücksichtigt werden.
- Die Beschäftigung mit genderspezifischen Thematiken der karibischen Region erfolgt aus unterschiedlichen institutionellen Kontexten und Wissenschaftskulturen. Daraus entstehende Synergieeffekte müssen genutzt werden, um spezifische Schnittstellen zwischen Lokalem, Transnationalem, Ethnischem und Geschlechtlichem sichtbar zu machen.
- Die Theoriebildung aus der Karibik muss in ihrem Spannungsverhältnis zur Theoriebildung anderer Zentren gedacht werden.

Konferenzübersicht

Sabine Broeck (Bremen): Re-Reading the Human: Repercussions of Sylvia Wynter's Epistemic Project

Nadia Celis (Brunswick): The Rebellion of the Girls: Reflections for an Embodied Decolonization

Panel A: Decolonizing Gender Identities in Caribbean History

Ulrike Schmieder (Hannover): Identidades masculinas y femininas de esclavos, patrocinados y libertos en Cuba en la década de 1880

Lisette Acosta Corniel (Albany): Decolonizing Gender: Women’s Rights and Resistance in Colonial Hispaniola

Henning Marquardt (Hannover): (De-)Constructing Gender Roles within the Family – Negotiations of Christian Middle-Class Ideals in Jamaican Literature before Independence

Jeanette Ehrmann (Frankfurt am Main): After ‘Man’, Towards Emancipation. Female Gendered Agency in the Haitian Revolution

Panel B: Caribbean Conceptions of Masculinity and Race

Rafael Gómez (Albany): The Negotiation of Manhood and the Masculine in two Caribbean Diasporic Novels

Marita Rainsborough (Hamburg): The erotic/sexual as crossing threshold – desire in the Brazilian postcolonial context in the literature of Rachel de Queiroz and Rubem Fonseca

Panel C: Conceptions of Womanhood in Caribbean Literature

Ana Mateos (München): Mismatched Metaphors: White Women and Slavery in Morúa Delgado's Sofía

Gudrun Rath (Konstanz): Decolonization of Gender/Genre in Haiti Noir

Georgette Mitchell (New York): Une rencontre avec l’Unheimlich: liminalité, fracture, et théâtralisation de frontières dans Amour, Colère et Folie de Marie Chauvet

Annika McPherson (Oldenburg): Negotiating the Gendered ‘Human’ in Caribbean Literature and Criticism

Panel D: Caribbean Queerness – Crossing the Gender Threshold

Martina Urioste-Buschmann (Hannover): Queering the Hyphen: A Narrative Approach to Lesbian Diasporic Caribbeanness in Achy Obeja’s Memory Mambo

Wiebke Beushausen (Heidelberg): 'Yuh uncle is a battyman': Sexualities and Queer Bodies in Makeda Silvera’s The Heart Does Not Bend and Selected Short Stories

Julia Roth (Berlin): Las Krudas Cubensis’ Queer Diaspora Hip Hop as ’New Caribbean Feminism’

Anmerkung:
1 Sylvia Wynter, „Beyond Miranda’s Meanings: Un/silencing the ‚Demonic Ground’ of Caliban’s Woman’“ in: Out of the Kumbla. Caribbean Women and Literature, hrg. v. Carole Boyce Davies und Elaine Savory Fido (Trenton, NJ: Africa World Press, 1990): S. 355-372.
2 Broeck bezog sich hierbei auf Orlando Pattersons Begriff vom ‚Social Death‘. Vgl. Orlando Patternson, Slavery and Social Death: A Comparative Study, Cambridge 1982.


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