Aktuelle Forschungen zur jiddischen und jüdischen Literatur

Aktuelle Forschungen zur jiddischen und jüdischen Literatur

Organisatoren
Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft, Marburg
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.02.2013 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Magdalena Fober, Marburg

Der vom Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung ausgerichtete Workshop „Aktuelle Forschungen zur jiddischen und jüdischen Literatur“ umfasste vier Vorträge, die jiddischsprachige Texte, sowie Werke jüdischer Autorinnen und Autoren aus der Perspektive unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen beleuchteten. Ein Schwerpunkt lag hierbei auf der Holocaustliteratur. Ideenstiftend für den Workshop war, so die Moderatorin Heidi Hein-Kircher in ihrem Begrüßungswort, das Projekt „GeoBib – Frühe deutsch- bzw. polnischsprachige Holocaust- und Lagerliteratur (1933-1949) – Annotierte und georeferenzierte Online-Bibliografie zur Erforschung von Erinnerungsnarrativen“, das am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, dem Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI), sowie der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Justus-Liebig Universität Gießen angesiedelt ist. Ziel des Projektes, erläuterte Projektmitarbeiterin Annalena Schmidt, sei die Erstellung eines virtuellen Atlasses, der den Nutzerinnen und Nutzern eine vollständige Liste der bis 1949 publizierten Holocaust- und Lagertexte, der wichtigsten Ghettos und Lager, die in diesen Werken Erwähnung finden, eine Vielzahl an Rezensionen, Sekundärliteratur und Bildquellen zur Verfügung stellt. Ergänzt werden diese Materialien durch Geodaten, die die Verknüpfung der Texte mit weiteren auf die Orte und Regionen bezogenen Daten und Informationen ermöglichen. Vor diesem Hintergrund war es das Ziel des Workshops, aktuelle Forschungen mit unterschiedlichen Perspektiven auf den Gegenstand zu präsentieren und zu diskutieren. Neben judaistischen, germanistischen, slawistischen und historischen Ansätzen, beleuchtete auch ein Vortrag die Thematik aus informationswissenschaftlicher Sicht.

Eingeleitet wurde die Veranstaltung durch einen Beitrag von GODA VOLBIKAITE (Kaunas), die sich mit jiddischer Zwischenkriegsliteratur von Autoren aus Kaunas befasste. Volbikaite beschrieb das Kaunas der Jahre 1918-1941 als heterogenen Literatur- und Kulturraum, der von Vorurteilen gegenüber der jüdischen Bevölkerung geprägt gewesen sei. Diese Voreingenommenheit ließe sich teilweise bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt eruieren und blockiere, so die Argumentation der Referentin, die Wahrnehmung der jiddischen und jüdischen Literatur im kollektiven Gedächtnis Litauens. Vor diesem Hintergrund haben die Forschungen Volbikaites zum Ziel, die in der Zwischenkriegszeit in Kaunas entstandenen jiddischen Werke unter Berücksichtigung ihrer sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen und ihrer translokalen und transnationalen Beziehungen zu erschließen und damit aus dem Archiv des Speichergedächtnisses ins Funktionsgedächtnis zu transformieren. Als fundamentales Konzept diene hierbei die Denkfigur der Insel, sowie Fragen nach der Geschlossenheit und Offenheit der jiddisch-literarischen Kultur im Kaunas der Zwischenkriegszeit. Vor dem Hintergrund einer gewissen sozialen und kulturellen Abgeschiedenheit der jüdischen Literaten, untersucht Volbikaite in ihrem Dissertationsprojekt Einflüsse regionsspezifischer Faktoren auf diese Literatur, die Wahrnehmung der Werke in der transnationalen jiddischen Presse, sowie das Verhältnis zwischen Kaunas und der litauisch-jüdischen Provinz. Trotz ihrer geographischen und metaphorischen Grenzen, so eine zentrale These, sei die jiddisch-literarische Kultur im Kaunas der Zwischenkriegszeit gegenüber den zeitgenössischen Tendenzen der Moderne durchaus aufgeschlossen gewesen. Am Beispiel der jiddischen Literaturzeitschrift „Vispe“ wies Volbikaite nach, dass sich insbesondere Charakteristika des messianischen Expressionismus, wie beispielsweise ein das Bild des „neuen Menschen“ einschließender Erneuerungspathos und eine dezidiert christliche Metaphorik, in der Literatur der Kaunasser Autoren eruieren lassen. In Abgrenzung zu „Vispe“, wurde in der Zeitschrift „Mir aleyn“ die Zugehörigkeit zum litauischen Land und die lokale jüdische Identität akzentuiert. So betonten beispielsweise Autoren wie Dovid From und Aron Goldblat die Schönheit der litauischen Landschaften und die Sehnsucht nach ihrer Heimat und grenzten sich deutlich von der expressionistischen Ästhetik der „Vispe“ ab. Doch auch diese Autoren seien, akzentuierte Volbikaite, unausweichlich den Ideen des Neorealismus und der Neoromantik ausgesetzt gewesen. „Die jiddischen Autoren in Kaunas“, so das Fazit der Referentin, „gingen also Hand in Hand mit der Zeit und versuchten in ihrem sprachlich-kulturellen Umfeld die modernen Ideen durchzusetzen“.

Auch ANNALENA SCHMIDT (Marburg/Gießen) wandte sich in ihrem Vortrag einem erinnerungskulturellen Desiderat zu. In ihrem Dissertationsprojekt, das als Grundlage des Workshopbeitrages diente, untersucht Schmidt die bisher weitgehend unerforschte Geschichte zweier Institutionen, die während der nationalsozialistischen Besatzungszeit für die Unterstützung der jüdischen Bevölkerung in Polen zuständig waren – der Jüdischen Sozialen Selbshilfe (JSS) und deren Nachfolgeorganisation der Jüdischen Unterstützungsstelle (JUS). In diesem Kontext wertete die Referentin unter anderem die Selbstzeugnisse des ehemaligen Präsidenten der JSS und Leiters der JUS Michał Weichert aus und ging in ihrem Vortrag der Frage nach, ob und wie Holocaustliteratur als Quelle zur Erforschung der Verwaltung des Holocaust dienen kann, bzw. muss. Im Fokus stand hierbei Weicherts Text „Jidische Aleinhilf“ (1962) und die darin beschriebene Übergangszeit von der JSS zur JUS. Mithilfe einer Gegenüberstellung von historischen Quellen und Weicherts Werk wies Schmidt nach, dass eine differenzierte Analyse bestimmter Ereignisse dieser Übergangszeit nur unter Berücksichtigung des literarischen Textes möglich ist. Stelle man beispielsweise die Frage nach dem Mitspracherecht der JSS-Akteure bei der Schließung der Organisation, ergebe sich je nach Betrachtung der archivalisch überlieferten Quellen oder des Selbstzeugnisses Weicherts ein jeweils anderes Bild. Analysiere man das archivalische Material, gewinne man den Eindruck, dass die Schließung der JSS ein Akt der deutschen Regierung gewesen sei, bei dem die Zivilverwaltung keinerlei Interventionsmöglichkeiten gehabt habe. Aus „Jidische Aleinhilf“ gehe, so die Argumentation Schmidts, jedoch hervor, dass die Vertreter der JSS durchaus ein – wenn auch geringes – Mitspracherecht bei der Schließung der Organisation hatten und sogar gewisse Zugeständnisse, wie etwa das Fortbestehen der lokalen und regionalen Einrichtungen, erwirken konnten. Die Holocaustliteratur sei demnach, so hält Schmidt abschließend fest, eine „unabdingbare Quelle“ für die Erforschung von Verwaltungsabläufen und Entscheidungsprozessen im Kontext des Holocaust, da entscheidende Abläufe, die im Zusammenhang mit der Geschichte der JSS und JUS stehen erst unter Einbeziehung des literarischen Materials historisch erschlossen werden können.

An den Vortrag von Schmidt anknüpfend, befasste sich ELISA-MARIA HIEMER (Gießen/Marburg) in ihrem Beitrag mit Identitätskonstruktionen in deutschen, polnischen und tschechischen autobiographischen Holocaustwerken nach 1989. Die polnische und tschechische Literatur nach der demokratischen Wende sei, bemerkte Hiemer eingangs, von einer „Überfülle an Geschichte“ geprägt. Dominiert werde hierbei der Buchmarkt von späten Erlebnisberichten Überlebender, aber auch Werke der nachfolgenden Generationen, die sich mit dem Trauma der Shoah auseinandersetzen, fänden seit den 1990er-Jahren zunehmend Beachtung. Eine systematische literaturwissenschaftliche Analyse dieser Werke im Hinblick auf Identitätsproblematiken sei jedoch eine Forschungslücke, die die Referentin mit ihrem Dissertationsprojekt schließen möchte. Im Zentrum stehe hierbei die Frage, inwiefern in der zeitgenössischen Literatur eine dezidiert jüdische Identität konstruiert werde. In den Werken der Überlebenden, führte Hiemer aus, dominiere wider Erwarten nicht die individuelle Holocausterfahrung, und auch das Jüdischsein werde nicht zwingend zum zentralen Motiv. In den Texten der zweiten und dritten Generation begegne man sogar zunehmend Erzählern, die sich kritisch mit den eigenen jüdischen Wurzeln auseinandersetzen oder bei der Suche nach eben diesen Wurzeln scheitern. Exemplarisch verdeutlichte Hiemer dies am Beispiel des polnischsprachigen Romans Pensjonat (2010) von Piotr Paziński, in dem der junge Ich-Erzähler in einer polnischen Pension auf eine Gruppe Senioren trifft und sich, durch deren Erlebnisse in der Vergangenheit animiert, auf die Suche nach dem eigenen jüdischen Ursprung begibt. In Pensjonat konfrontiere Paziński, so die Argumentation Hiemers, das Lesepublikum mit einer Erlebnisgeneration, für die ihre Vergangenheit zur Bürde geworden sei und die ihre Hoffnungen, nicht in Vergessenheit zu geraten, auf die nachfolgende Generation projiziere. Diese wisse die Ereignisse der Vergangenheit jedoch nicht einzuordnen, da dies den Dialog mit der älteren Generation erfordern würde, der jedoch weitgehend ausbliebe. Schließlich scheitere die Suche des Protagonisten nach seiner eigenen Identität und seinen jüdischen Wurzeln. Durch das Schweigen der Zeitzeugen könne der Erzähler nicht in die Vergangenheit vordringen, die historischen Ereignisse blieben diffus und befremdlich. Somit ließe sich das Werk auch als Kritik an der nicht stattgefundenen Aufarbeitung der Vergangenheit seitens der Erlebnisgeneration lesen. Im Hinblick auf die Analyse weiterer zeitgenössischer Werke, so das Resümee der Referentin, stelle sich somit nicht nur die Frage, inwiefern die Kinder- und Enkelgeneration bereit sei, sich mit der Vergangenheit ihrer Vorfahren auseinanderzusetzen und welchen Stellenwert sie dem jüdischen Teil im eigenen Leben zukommen lassen möchte, sondern auch die Frage, inwieweit die ältere Generation überhaupt zur Kommunikation bereit sei.

Abgeschlossen wurde der Workshop durch einen Beitrag des Diplom-Informatikers FRANK BINDER (Gießen) zu Use Cases und zur Dialoggestaltung bei geographisch-bibliographischen Suchportalen. Besondere Berücksichtigung fand hierbei das GeoBib-Projekt, dessen Ergebnis Binder als „Katalog, der mit geographischen Informationen verbunden werde“ beschrieb. Eine „innovative“ Aufarbeitung der Texte im Internet stelle jedoch für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Projektes eine besondere Herausforderung dar und werfe zahlreiche Fragen auf, die bisher unbeantwortet geblieben seien und nun an das Publikum des Workshops weitergegeben werden sollten. Ziel sei hierbei, die Anforderungen an eine solche Plattform im Plenum zu definieren und Eigenschaften, die das Portal aufweisen sollte, zu benennen. Zu diesem Zweck stellte Binder einige aktuelle Forschungsprojekte und deren – teilweise noch im Aufbau befindlichen – Internetseiten und Portale kurz vor. Im Anschluss diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer anhand dieser Beispiele über den Aufbau, den Informationsgehalt, die Zielgruppenorientierung und die Nutzerfreundlichkeit der Seiten und gelangten zu dem Ergebnis, dass der virtuelle Atlas des GeoBib-Projektes möglichst „gut steuerbar“, „selbstbeschreibend“ und „lernförderlich“ sein sollte.

Abschließend lässt sich festhalten, dass der Workshop ein breites Spektrum an Forschungsperspektiven zur jiddischen und jüdischen Literatur offengelegt hat, das nicht nur für Historiker und Literaturwissenschaftler von großem Interesse ist. Durch Projekte wie GeoBib eröffnen sich nicht nur neue Herausforderungen für zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen, es entsteht auch eine innovative Form der Verwaltung von literarischen Texten. Insbesondere im Hinblick auf die Holocaustforschung – die aufgrund des altersbedingten Schwindens der Zeitzeugen vor neuen Problematiken steht – ist dies von besonderer Relevanz. Vor diesem Hintergrund ermöglichte die Veranstaltung vielfältige Einblicke in laufende Projekte von Nachwuchswissenschaftler/innen, stellte diesen einen professionellen Rahmen zum Austausch und zur Diskussion der Literatur jüdischer Autoren und Autorinnen zur Verfügung und warf zahlreiche Fragen auf, die für zukünftige Forschungsprojekte unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen relevant sein können.

Konferenzübersicht

Heidi Hein-Kircher (Marburg): Begrüßung und Moderation

Annalena Schmidt (Marburg/Gießen): Vorstellung des GeoBib-Projektes

Goda Volbikaite (Kaunas): „Kaunas – eine jiddische Literaturinsel (1918-1941)“

Annalena Schmidt (Marburg/Gießen): „Literatur als Quelle zur Erforschung der Verwaltung des Holocaust“

Elisa-Maria Hiemer (Gießen/Marburg): „Mitteleuropa als Raum jüdischer Selbstverortung: Deutsche, polnische und tschechische autobiographische Werke nach 1989“

Frank Binder (Gießen): „Geographisch-bibliographische Suchportale – Überlegungen zu Use Cases und Dialoggestaltung“

Heidi Hein-Kircher (Marburg): Zusammenfassung und Kommentar


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