Gedenkstätten und Geschichtspolitik

Gedenkstätten und Geschichtspolitik

Organisatoren
KZ-Gedenkstätte Neuengamme; Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück
Ort
Fürstenberg/Havel
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.05.2013 - 01.06.2013
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Von
Jutta Mühlenberg, Hamburg

Welche Veränderungen sind in den Gedenkstätten an Orten ehemaliger Konzentrationslager seit der deutschen Vereinigung festzustellen? Wie gehen die Gedenkstätten mit ihren eigenen und den an sie gestellten Ansprüchen, Verpflichtungen und Aufgaben um, die vom Gedenken an die Verfolgten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, der Zusammenarbeit mit den Überlebenden und ihren Angehörigen, der Realisierung von Foren für internationale Begegnungen sowie der historisch-politischen Bildung und der Forschung reichen? An diese Fragen knüpfte der Workshop „Gedenkstätten und Geschichtspolitik“ an, der von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück gemeinsam in Fürstenberg/Havel organisiert wurde.

Ausgangspunkt der Veranstalter/innen war, die KZ-Gedenkstätten als Kristallisationspunkte unterschiedlicher geschichtspolitischer Interessen und Ansprüche vorzustellen. Dabei habe sich in den letzten Jahrzehnten ein Funktionswandel hin zu Orten der kulturellen und politischen Selbstverständigung in der Bundesrepublik Deutschland vollzogen, in dem staatliche Ansprüche auf die Interessen von zivilgesellschaftlichen Gruppen und Akteuren sowie von Besucher/innen und Mitarbeiter/innen träfen. Ziel des Workshops sollte es sein, herauszufinden, wie sich das Zusammenspiel der einzelnen Akteure konkret ausgestaltet. Außerdem sollten die gesellschaftlichen Tendenzen, Verbrechen des Nationalsozialismus und des Stalinismus als eine gemeinsame Negativfolie zu interpretieren, genauer in den Blick genommen werden. So formulierten INSA ESCHEBACH (Fürstenberg/Havel) und DETLEF GARBE (Hamburg) eingangs in ihren einleitenden Begrüßungsworten, dass die Gedenkstätten von der Peripherie ins Zentrum der Geschichtskultur gerückt und einem dauernden Prozess der Selbstverständigung unterworfen seien.

Im eröffnenden Vortrag zeigte CORNELIA SIEBECK (Berlin) auf, dass der Nationalsozialismus im gedächtnispolitischen Diskurs in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1990er-Jahren in eine nationale Meistererzählung mit Happy End integriert worden sei und sein Irritationspotential verloren habe. Sie deutete dies nicht als einen Lernprozess, sondern als einen Ausdruck, dass diese Vergangenheit nicht mehr schmerze. Das negative Gedächtnis ermögliche demnach eine affirmative, nationale Identitätsbildung. Es sei jedoch falsch, auf dem Rücken des Nationalsozialismus Identitätspolitik zu betreiben. In der Diskussion zeigte sich, wie viele unterschiedliche Erwartungen an die Gedenkstätten herangetragen werden, sowohl von innen als auch von außen, und dass sie innerhalb dieses Spannungsfelds agieren.

Dies verwies unmittelbar auf das erste Panel, das nach der Bedeutung des staatlichen und zivilgesellschaftlichen Engagements für die Entwicklung von Geschichtspolitik und Gedenkstätten und den Akteuren fragte, die mit sehr unterschiedlichen Interessen die Gedenkstättenarbeit begleiteten. So sprach OLIVER PLESSOW (Kassel) über den Einfluss geschichtspolitischer Akteure auf die Tätigkeit von Gedenkstätten als Bildungseinrichtungen. Er differenzierte das Feld der geschichtspolitischen Akteure im Kontext der Gedenkstättenarbeit aus und hob zwei externe Akteursgruppen, die die Gedenkstättenarbeit wesentlich (mit-) beeinflussten, hervor: Jene, die starke eigene Interessen einbrächten und dadurch unmittelbar auf die Gedenkstättenarbeit einwirkten (zum Beispiel staatliche Träger und politische Initiativen) und als zweites jene, die mit den Gedenkstätten kooperierten, weil sie sich davon etwas versprechen würden (zum Beispiel Anbieter von Freiwilligendiensten). Ausgehend von diesem Akteurstableau, in das – so wurde in der Diskussion deutlich – die Überlebendenverbände als zentrale Akteure einbezogen werden müssten, stellte sich die Frage, wer wem Legitimität zuweise und welche Interessen als legitim angesehen würden, gerade wenn die Interessen in Konkurrenz zueinander stünden.

Daran anschließend nahm CLAUDIA KRIEG (Berlin) auf die Rolle der Zeitzeug/innen als geschichtspolitische Akteure Bezug und stellte die Frage, ob nicht die Gedenkstätten dem Erbe dieser verpflichtet seien. Sie wies darauf hin, dass der Nationalsozialismus in vielerlei Hinsicht fortlebe und kritisierte das verbreitete Narrativ der Diskontinuität. Sie problematisierte, dass die Funktion des Gedenkens und damit auch das Gewicht von Zeugenschaft in der praktischen Gedenkstättenarbeit in den Hintergrund getreten seien. Die politischen Positionen der Zeitzeug/innen würden nicht mehr angemessen berücksichtigt. In der Diskussion wurde deutlich, dass einige der anwesenden Mitarbeiter/innen von Gedenkstätten die Einschätzung vertraten, dass viele Zeitzeug/innen die staatliche Verankerung von Gedenkstätten und die stärkere Ausrichtung auf Bildungsaspekte eher begrüßten als ablehnten. Außerdem wurde die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung Historiker/innen als orientierende Instanz der Gedenkstättenarbeit im Verhältnis zu anderen Akteuren einnehmen würden, also ob die wissenschaftlichen Annäherungen eine größere Legitimität hätten als die Ansprüche, die von anderen Akteuren formuliert würden.

JENNY WÜSTENBERG (Berlin) zeigte auf, dass sich mit dem Wirken der Akteure im Feld der Geschichtswerkstätten – zumindest für Berlin – seit den 1980er-Jahren geschichtspolitisch viel verändert habe. Das Selbstverständnis dieser Akteure sei davon geprägt, dass sie mit dem sich an das Engagement in den Geschichtswerkstätten anschließenden Gang durch die Institutionen auch diese nachhaltig beeinflusst und verändert hätten – und damit auch die Geschichtspolitik. Dies sei nicht mit einer affirmativen Identitätsbildung einhergegangen. In der Diskussion wurde deutlich, dass der Hinweis auf das dezentrale Element zahlreicher Geschichtsprojekte zum Nationalsozialismus im städtischen Raum eher auf einen Prozess der Auseinandersetzung gerichtet sei, als auf ein Ergebnis. Mit Blick auf die Rolle von Gedenkstätten im Streit um das Gedenken an verfolgte Homosexuelle sprach CORINNA TOMBERGER (Berlin) darüber, dass es für Gedenkstätten eine Notwendigkeit gebe, geschichtspolitische Positionen ständig zu hinterfragen; Gedenkstätten seien stets auch Orte symbolpolitischer Akte, an denen ausgehandelt werde, welche (Opfer-) Gruppen gesellschaftlich wahrgenommen würden und welche nicht. So seien mit der vorgeblich geschlechtsneutralen Sprache der „homosexuellen Opfer“ stets nur Männer und keine Frauen gemeint. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass Gedenkstättenmitarbeiter/innen häufig institutionell zwischen staatlichen Interessen und den Interessen zivilgesellschaftlicher Akteure stünden, die sich teilweise bis heute in einer gegenstaatlichen Position sähen. Das Thema der Repräsentation und der Sichtbarmachung sei ein Kernthema der Gedenkstättenarbeit, die immer auch geschichtspolitisch sei. Der Vortrag regte dazu an, über die geschichtspolitische Verantwortung von Gedenkstätten im Hinblick auf vernachlässigte Opfergruppen nachzudenken.

Das zweite Panel „Geschichtspolitische Interessen in Deutschland und die Arbeit von Gedenkstätten seit der Vereinigung“ wurde durch CAROLINE PEARCE (Sheffield) eröffnet, die sich mit der Herausforderung der „doppelten Vergangenheit“ für deutsche Gedenkstätten befasste. Deutlich wurde, dass der Referenzpunkt der Geschichtspolitik auch vom Standpunkt der Betrachter abhänge. Es gebe einen eher rechten Diskurs, der die Erinnerung an die Verbrechen der SED-Diktatur als tendenziell gleichrangig interpretiere, während andere eher linke Diskurse eine Bagatellisierung der nationalsozialistischen Verbrechen befürchteten. In der Entwicklung der Gedenkstättenkonzeption habe es Gleichsetzungstendenzen gegeben, durchgesetzt habe sich allerdings die Position, dass den Verbrechen des Nationalsozialismus mehr Raum gegeben werden müsse. In diesem Zusammenhang verwies sie auf die „Faulenbach-Formel“:„[…] dass die NS-Zeit mit ihren einzigartigen Verbrechen durch die stalinistischen Verbrechen nicht relativiert oder die stalinistischen Verbrechen mit Hinweisen auf die NS-Verbrechen bagatellisiert werden“ dürfe.

In der Diskussion wurde die Differenz zwischen öffentlichen und familiären Erinnerungsformen hervorgehoben, und auf ostdeutsche Positionen zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hingewiesen, die das Rechts-Links-Schema durchbrechen würden und Differenzierungspotentiale aufwiesen. Die Erinnerungen an beide deutsche Vergangenheiten müssten jeweils kontextualisiert werden. Dabei komme den Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“ eine zentrale Rolle zu. CAROLA RUDNICK (Betzendorf) zeigte auf, dass sich der Umgang mit der DDR auf die Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus ausgewirkt habe. Die Ergebnisse der beiden Enquete-Kommissionen zur SED-Diktatur in den 1990er-Jahren seien in dieser Hinsicht die Geburtsstunde der Gedenkstättenpolitik gewesen, da sie mit der Bundesförderung zu einer dauerhaften Absicherung auch der NS-Gedenkstätten geführt hätten. Die Diskussion um die Aufarbeitung der SED-Diktatur habe zugleich zu einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung geführt, ob die beiden Vergangenheiten gleichrangig zu behandeln, bzw. sogar gleichzusetzen seien. Es habe sich im Konzept der Gedenkstättenförderung die Position durchgesetzt, dass eine einseitige Förderung von DDR-Gedenkstätten nicht sinnvoll sei. Die Gleichstellung der Opfergruppen sei in den Fördergrundsätzen vermieden worden; die Geschichte der beiden deutschen Vergangenheiten sollte in einem regionalen Zusammenhang dargestellt werden, zugleich wurde die Erinnerung an das Unrecht als gesamtstaatliche Aufgabe festgeschrieben, mit einem Fokus unter anderem auf die Menschenrechte.

VERENA HAUG (Berlin) widmete sich den Kommunikationsweisen an Gedenkstätten als Bildungseinrichtungen. In pädagogischen Veranstaltungen werde deutlich, dass es besondere Erwartungen an Gedenkstätten als sogenannte „authentische Orte“ gebe, die von Besucher/innen mitgebracht und zugleich durch die pädagogischen (und vermutlich auch andere) Mitarbeiter/innen hergestellt würden. Die Gedenkstätten würden als belastete und zugleich besondere Orte vorgestellt, wobei die Ursache der Belastung als bekannt vorausgesetzt werde. Damit gehe es nicht um eine Wissensvermittlung, sondern eine Einordnung als Sterbeorte und als Friedhof. Die Akteure versteckten sich bei dieser die Erwartungshaltungen wenig durchbrechenden Perspektive hinter der vermeintlichen Unmittelbarkeit des Ortes und begründeten mit dem Ort auch ein „angemessenes“ Verhalten als Disziplinierungsstrategie. Verallgemeinert bedeute dies, dass Gedenkstätten ihre Legitimität immer wieder daraus generierten, dass sie sich als besondere Orte konstruierten, denen auch eine besondere Aufmerksamkeit zustehe. Das Selbstverständnis der Mitarbeiter/innen und ihre Art der Kommunikation passten insofern zu der politisch-moralischen Aufladung der Orte, die mit Wirkungserwartungen ausgestattet würden.

Im abschließenden Tagungskommentar hob OLIVER VON WROCHEM (Hamburg) zwei Dimensionen hervor, die auf der Tagung zu wenig thematisiert worden seien: Die Frage nach dem Einfluss von Überlebendenverbänden auf die Geschichtspolitik in Deutschland während der letzten 20 Jahre und die Frage nach dem zunehmenden Einfluss supranationaler Akteure wie der Task Force und anderer Institutionen, die die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen unter dem Begriff der „Holocaust-Education“ internationalisiert und damit nationale Erinnerungskulturen nachhaltig beeinflusst hätten.

Die Tagung ermöglichte Einblicke in die vielfältigen geschichtspolitischen Erwartungen, Interessen und Ansprüche, die die Arbeit von Gedenkstätten beeinflussen. Es wurde deutlich, dass es in Deutschland keine homogene Erinnerungskultur gibt, sondern eine Vielzahl von Akteuren, deren sich teilweise widersprechenden Positionen, wie mit der nationalsozialistischen Vergangenheit an Gedenkstätten umzugehen sei, analysiert werden müssen. Manche der genannten Aspekte konnten auf dem Workshop nur angesprochen werden, dennoch wurden vielfältige Perspektiven auf das Verhältnis von Gedenkstättenarbeit und Geschichtspolitik diskutiert. Die Veranstaltung diente der Vorbereitung des Themenhefts 16 der Zeitschrift „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“, dessen Erscheinen für 2014 angekündigt wurde.

Konferenzübersicht

Begrüßungen und Einleitungen
Insa Eschebach (Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück) / Detlef Garbe (KZ-Gedenkstätte Neuengamme)

Eröffnungsvortrag
Moderation: Oliver von Wrochem (KZ-Gedenkstätte Neuengamme)

Cornelia Siebeck (Berlin): „[…] und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Zur Neukonstitution des gedächtnispolitischen Diskurses in der Bundesrepublik seit 1990

Panel 1: Die Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements für die Entwicklung von Geschichtspolitik und Gedenkstättenarbeit

Moderation: Andreas Ehresmann (Stiftung Lager Sandbostel)

Oliver Plessow (Kassel): NS-Gedenkstätten, zivilgesellschaftliche Bildungsarbeit und staatliche Geschichtspolitik in nationaler und transnationaler Perspektive – Muster sozialer Interaktion zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Claudia Krieg (Berlin): Wissenschaft braucht keine Tränen

Jenny Wüstenberg (Berlin): Zivilgesellschaftliches Engagement als maßgeblicher Impuls der bundesdeutschen Erinnerungskultur: Geschichtswerkstätten und „public memory“ seit den 1980er-Jahren

Corinna Tomberger (Berlin): Sachwalter der Geschichte oder Vertreter geschichtspolitischer Interessen? Die Rolle der Gedenkstätten im Streit um das Gedenken an verfolgte Homosexuelle

Panel 2: Geschichtspolitische Interessen in Deutschland und die Arbeit von Gedenkstätten seit der Vereinigung

Moderation: Habbo Knoch (Stiftung niedersächsische Gedenkstätten)

Caroline Pearce, Sheffield: Die Herausforderung der „doppelten Vergangenheit“ für deutsche Gedenkstätten

Carola S. Rudnick (Betzendorf): Die Erfindung der Gedenkstättenpolitik und das geschichtspolitisch umkämpfte Ende der Singularität der NS-Aufarbeitung

Verena Haug (Berlin): Erlebniserwartung und Erwartungsproduktion. Zur kommunikativen Herstellung des „authentischen“ Ortes in gedenkstättenpädagogischen Veranstaltungen

Tagungskommentar und Moderation der Abschlussdiskussion

Oliver von Wrochem (KZ-Gedenkstätte Neuengamme)


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