Grenzüberschreitungen und Historische Diskursanalyse

Grenzüberschreitungen und Historische Diskursanalyse

Organisatoren
Lehrstuhl für Nordamerikanische Geschichte, Historisches Seminar, Universität Erfurt
Ort
Erfurt
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.05.2013 - 24.05.2013
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Von
Timo Bonengel, Historisches Seminar, Universität Erfurt

Die historische Diskursanalyse ist inzwischen zu einem unverzichtbaren, geradezu omnipräsenten Bestandteil moderner Geschichtsschreibung geworden. Da Methoden und Konzepte durch ihre vermehrte Anwendung in verschiedenen Bereichen oftmals zu verwässern drohen und damit ihre Trennschärfe verlieren, war es ein Ziel der vierten Tagung der Reihe zur „Historischen Diskursanalyse“ (organisiert von Franz Eder, Achim Landwehr, Philipp Sarasin und Jürgen Martschukat), für die historische Diskursanalyse sinnvolle Formen der Operationalisierung zu diskutieren. Besonders im Fokus stand dabei die Frage nach diskursiven Grenzen und wie diese konzeptionalisiert werden können: als Schwellen, Linien, Übergangsräume oder auf andere Art und Weise.

In einer kurzen Einführung betonten JÜRGEN MARTSCHUKAT (Erfurt) und SILVAN NIEDERMEIER (Erfurt), dass Diskursgrenzen als Grenzen des Sag- und Denkbaren durch (mögliche) Grenzüberschreitungen erst konstituiert würden. Für eine fruchtbare historische Diskursanalyse sei es demnach unerlässlich, sich im Sinne Foucaults an den Grenzen zu bewegen und eine kritische Haltung einzunehmen. Die Geschichtswissenschaft sei dabei diejenige Disziplin, welche die Kontingenz der Entstehung von Grenzen, aber auch deren Verschiebungen am besten aufzuzeigen vermöge.

Einen methodenkritischen Ansatz vertrat dabei CAROLINE BRAUNMÜHL (Berlin), die den ersten Block der Tagung unter dem Titel „Grenzen (be)greifen“ eröffnete. In ihrem Vortrag skizzierte sie eine dekonstruktivistisch angelegte Diskursanalyse mit psychoanalytischen Elementen in Anlehnung an Judith Butler. Ihre Prämisse dabei war, dass Diskurse sich über ein „konstitutives Außen“ formieren, das eng mit dem Element des Unbewussten verbunden sei. Dieses konstitutive Außen sei in dem Sinne „unbewusst“, als es nicht sagbar sei. Auch konkurrierende Diskurse müssten demzufolge auf das hin analysiert werden, was sie gemeinsam als undenkbar bzw. unsagbar ausgrenzen. Braunmühl kritisierte weiterhin, dass der Poststrukturalismus nach wie vor Binaritäten verhaftet sei, welche es eigentlich zu überwinden gelte. Dies könne gelingen, indem Zuschreibungen wie aktiv-passiv oder Gefühl-Verstand nicht als Dualismen, sondern als relationale Kategorien, als Gleichzeitigkeiten, verstanden würden.

Mit der (Un-)Möglichkeit von Grenzüberschreitungen beschäftigte sich ROBERT FEUSTEL (Leipzig). In seiner Präsentation diskutierte er die Frage nach dem Verhältnis zwischen Rauschdiskursen und deren Gegenstand, dem Rausch selbst. Eine unüberwindbare Grenze sah Feustel dabei zwischen Sprache und Erfahrung: Versuche man den Rausch sprachlich zu fassen und wiederzugeben, müsse dies zwangsläufig scheitern, da er in die Realität eingebunden werde, zu der er seinem Wesen nach in Opposition stehe. Durch die Einbindung in den Diskurs gehe so das Charakteristische des Rausches unweigerlich verloren: Die Grenzüberschreitung werde im Sprechen bzw. Schreiben darüber an die diskursive Ordnung rückgekoppelt und damit zu einem konstitutiven Element derselben.

Die zweite Sektion der Tagung unter dem Thema „Begegnungen“ wurde von NORA KREUZENBECK (Erfurt) eröffnet. Im Mittelpunkt ihres Vortrags stand die Frage, ob es möglich sei, durch das Überschreiten geographischer Grenzen auch diskursive Grenzen zu transzendieren. Dabei wählte sie einen mikroperspektivischen Ansatz, da das Handeln einzelner vom Diskurs strukturiert sei und sich somit durchaus für eine historische Diskursanalyse eigne. Am Beispiel des afroamerikanischen Karibikreisenden Joseph D. Harris im Jahr 1860 zeigte Kreuzenbeck, dass in den jeweiligen geographischen und kulturellen Räumen USA und Karibik verschiedene diskursive Wahrheitsordnungen existierten: So wurde AfroamerikanerInnen in den Vereinigten Staaten die Staatsbürgerschaft aufgrund ihrer Hautfarbe verweigert, wohingegen Harris auf Haiti wie selbstverständlich als US-amerikanischer Staatsbürger behandelt worden sei. Aufgrund der räumlichen Bewegung hätten sich somit Selbst- und Fremdwahrnehmung verschoben. Deutlich wurde zudem, dass auch Harris selbst von amerikanischen race-Diskursen geprägt war und rassistische Stereotype gegenüber Menschen karibischer Abstammung reproduzierte. Daraus folgerte Kreuzenbeck, dass es durch die Reise weniger zu Überschreitungen diskursiver Grenzen, sondern vielmehr zu Verschiebungen gekommen sei.

Die Rolle geographischer Grenzen untersuchte auch BARBARA LÜTHI (Köln). Ausgehend vom „material turn“ führte sie am Beispiel der US-mexikanischen Grenze die These aus, dass staatliche Grenzen zwar Artefakte von dominanten diskursiven Prozessen seien, die zu Abzäunungen und Eingrenzungen von Territorien und Menschen geführt hätten. Zugleich seien diese Grenzen in der Vergangenheit und Gegenwart aber immer auch als Ergebnis der Rolle von materiellen Formationen zu verstehen, die Diskurse der Sicherheit überhaupt erst mit ermöglichten und operationalisierbar machten. Eine zentrale Frage dabei sei: Wie werden – im Kontext der Grenzzone – nicht nur Menschen, sondern auch Objekte der Sicherheit im Sinne von Bruno Latour zu „Aktanten“?

Den Abschluss am Freitag bildete das Referat von MALGORZATA MAKSYMIAK (Rostock). Sie setzte sich mit der Rolle europäisch-jüdischer Frauen in Palästina vor 1948 auseinander. So habe die „mythical norm“ (Audre Lorde) für die jüdische Gemeinde in Palästina aus Markern wie „männlich“, „jüdisch“, „Hebräisch sprechend“ bestanden. Die Rolle der jüdischen Frau habe zwischen Konzepten von „Helferin des Mannes“ und „Gegnerin des Mannes“ oszilliert. Maksymiak zeigte am Beispiel einer Akteurin auf, wie europäisch-jüdische Frauen gegen die konstruierte Binarität zwischen Europa und „Orient“ agierten und in Kontaktzonen Projekte zur Schaffung einer gemeinsamen Zukunft von jüdischen und arabischen Bevölkerungsgruppen vorantrieben, während sie sich oftmals sowohl inner-, als auch außerhalb der hegemonialen „mythical norm“ bewegten. Auch dieser Vortrag veranschaulichte, wie schon der vorhergehende, die Vorteile einer mikroperspektivisch gefärbten historischen Diskursanalyse.

Am Samstag eröffnete MATEJ KRALJ (Erfurt) den thematischen Block „Grenz(neu)ziehungen“. Am Beispiel der Staatsgründung Sloweniens erläuterte er unter Rückbindung an die soziologische Raumtheorie die Verschränkung von nationalem Diskurs und territorialen Grenzen. So seien sprachliche Grenzüberschreitungen (das Verwenden der kroatischen Sprache in Slowenien) als Herausforderung des hegemonialen nationalen Diskurses verstanden worden und hätten zum Ausschluss des Kroatischen geführt. Auch Kralj betonte die Notwendigkeit, im Kontext von (diskursiven) Grenzziehungen nicht nur inkorporierte Elemente, sondern besonders das Ausgeschlossene zu untersuchen.

Die (In-)Stabilität von diskursiven Grenzen erörterte anschließend FREDERIK SCHULZE (Münster). Anhand von Deutschtumsdiskursen, die im 19. Jahrhundert von deutschen Auswanderinnen und Auswanderern nach Brasilien „importiert“ wurden, zeigte Schulze, wie solche hegemonialen kolonialen Diskurse durch örtliche Widerstände und abweichende Lebensrealitäten herausgefordert wurden – von Seiten der brasilianischen Bevölkerung und Regierung wie auch der deutschen Einwanderinnen und Einwanderer selbst. Durch diskursive „Wahrheiten“ aus dem soziokulturellen Kontext des Deutschen Reichs geprägt, hätten sich für die Einwanderer schnell Veränderungen der Selbstwahrnehmung eingestellt. In einem zweiten Schritt zeigte Schulze dann, wie hegemoniale Deutschtumsdiskurse im Deutschen Reich auf kreative Weise versuchten, diese Grenzdestabilisierungen bzw. -neuziehungen zu inkorporieren und in ihrem Sinne umzudeuten. Schulze forderte deshalb, Grenzen und Grenzüberschreitungen als fließende Konstrukte zu denken, die permanenten Aushandlungsprozessen unterlägen.

Auch im Vortrag von PHILIPP HOFFMANN-REHNITZ (Münster) stand die Reaktion von Diskursen auf ihre Herausforderung im Mittelpunkt. Rehnitz analysierte Diskurse über zwei frühneuzeitliche Wirtschaftskrisen. Gemeinsam sei diesen gewesen, dass Finanzmärkte als etwas Abstrakt-Bedrohliches imaginiert wurden. Die Suche nach einem Sinn für die scheinbar unerklärlichen Krisen bildete dabei den Kern. Hoffmann-Rehnitz veranschaulichte weiter, wie mittels verschiedener Narrative vornehmlich aus dem religiös-moralischen Bereich versucht wurde, diskursive Leerstellen zu füllen. Mittels Pamphleten sowie visuellen Repräsentationen hätten die AkteurInnen versucht, das diskursive Außen, das Un-Imaginierbare, in den Diskurs zu inkorporieren, um den Wirtschaftskrisen einen Sinn zuzuschreiben bzw. die Verantwortung für selbige zu klären. Dabei hob Hoffmann-Rehnitz auf methodischer Ebene die Vorteile hervor, durch die Analyse von Narrativen diskursive Neuartigkeiten zu erfassen.

Wie schon bei Kreuzenbeck und Kralj, lag auch in JAN-HENRIK FRIEDRICHS‘ (Berlin/Vancouver) Referat die Frage zu Grunde, inwieweit räumliche und diskursive Grenzen bzw. Grenzüberschreitungen miteinander verschränkt seien. Friedrichs untersuchte in der letzten Tagungssektion „Zonen der Entgrenzung“ diskursive wie nicht-diskursive Praktiken, die Räume offenen Heroinkonsums in Berlin und Zürich in den 1970er- und 1980er-Jahren konstruierten. Diese raumkonstituierenden Praktiken setzte er in Beziehung zu Mechanismen sozialer Kontrolle und Dispositiven von Sicherheit, welche in zunehmendem Maße disziplinierende Machttechniken abgelöst hätten. So sei der offene Heroinkonsum als Problem der Sichtbarkeit aufgefasst worden, welches durch Kontrolle des öffentlichen Raumes zu lösen sei und nicht durch die Beseitigung sozialer Ursachen. Weiterhin führte Friedrichs auf, dass solche Räume auch als Mittel fungierten, um Grenzen neu zu ziehen und zu überschreiten, etwa durch Widerstandspraktiken bzw. Gesetzesübertretungen. Dabei sprach er sich dafür aus, das foucaultsche Heterotopiekonzept zu modifizieren und das Verhältnis von Räumen und Gegenräumen als relational zu begreifen.

GREGOR KANITZ (Weimar) beschloss den Vortragspart mit einem Referat über Bildungs- und Erziehungsdiskurse am Beispiel einer thüringischen Erziehungsanstalt am Ende des 18. Jahrhunderts. Kanitz koppelte diese Erziehungsdiskurse an Diskurse über Sexualität und Konzeptionalisierungen des „Kindlichen“. So sei die Pädagogik von einer engen Verbindung zwischen kindlichem Körper und Geist ausgegangen, deren Potential oder „Energie“ hervorzubringen wesentliches Ziel von Erziehung sein müsse. Dabei seien Bildungseinrichtungen zum Beispiel durch künstlich geschaffene Abgrenzungen von der umgebenden Landschaft getrennt worden. Die Kinder seien dann dazu ermutigt worden, diese künstlichen Grenzen in Form von Ausritten oder Ähnlichem zu „überwinden“ und diese Erfahrungen in kommunikative Prozesse umzuwandeln, die wiederum der Überwindung der Grenzen des Subjekts dienen sollten, also dessen Weiterentwicklung. Dies fasste Kanitz als Beispiel dafür, wie landschaftliche, Subjekt- und Diskursgrenzen in Relation zueinander stehen könnten.

In einem abschließenden Fazit griff Jürgen Martschukat zunächst die eingangs formulierte Frage nach der Konzeptionalisierung von Grenzen auf: Grenzen als Linien, Schwellen oder Übergangsräume zu denken, hänge stark von der gewählten Perspektive ab. Es sei weiterhin deutlich geworden, dass Diskursgrenzen immer wieder Herausforderungen, Verschiebungen und Neudeutungen unterlägen, zugleich aber auch relativ träge seien, was als Indiz der Wirkmächtigkeit von Diskursen gedeutet werden kann. Martschukat verdeutlichte weiter, dass die Vorträge gezeigt hätten, welche unterschiedlichen Diskursfelder bei Grenzüberschreitungen erschüttert würden, wie zum Beispiel Religion in der Frühen Neuzeit oder im 20. Jahrhundert Geschlecht, „Rasse“, Nation und andere. Anstöße für weitere Arbeiten zum Thema sah Martschukat in den Fragen, welche „Mittler“ von Grenzüberschreitungen vorstellbar seien und ob letztere in „Figuren“ repräsentiert werden könnten.

Trotz des breiten Themenspektrums und der gelegentlich aufflammenden methodisch-theoretischen Diskussionen bestand weitestgehend Konsens, dass Diskurse nicht als klar umgrenzte, „abgeschottete“ Gebilde zu konzeptionalisieren seien, sondern als Konstrukte mit fließenden Rändern, deren Überschreitung möglichen Raum für neue Formen von Bedeutungskonstitutionen eröffne, wenngleich Diskurse restriktiv auf solche Grenzüberschreitungen reagieren (können). Deutlich wurde zudem in allen Vorträgen, dass die historische Analyse solcher Grenzen enorm fruchtbar sein kann, jedoch auch eine (selbst-)kritische Haltung von HistorikerInnen fordert, um das denken zu können, was eigentlich undenkbar ist und so dem diskursiven Außen auf die Spur zu kommen.

Konferenzübersicht:

Einführung durch Jürgen Martschukat und Silvan Niedermeier

Sektion 1: Grenzen (be)greifen

Moderation: Silvan Niedermeier

Caroline Braunmühl (Berlin): Hegemonialer Konsens, konterhegemonialer Widerstand und ihr gemeinsames konstitutives Außen. Skizze einer diskursanalytischen Methodik

Robert Feustel (Leipzig): „The unspoken thing“. Rauschdiskurse und die Grenzen des Sagbaren

Sektion 2: Begegnungen

Moderation: Achim Landwehr

Nora Kreuzenbeck (Erfurt): Grenzüberschreitungen: Reisende zwischen den USA und der Karibik

Barbara Lüthi (Köln): Zonen der gewaltsamen Vernachlässigung: Sichtbare und unsichtbare Körper im US-mexikanischen Grenzgebiet

Malgorzata Maksymiak (Rostock): Für und Wider des Zionismus. Transdifferente Momente in der Begegnung jüdischer Migrantinnen mit der arabischen Bevölkerung Palästinas vor 1948

Sektion 3: Grenz(neu)ziehungen

Moderation: Franz Eder

Matej Kralj (Erfurt): Die Verbindung zwischen nationalem Diskurs und staatlichem Raum. Slowenien und seine Grenze zu Kroatien

Frederik Schulze (Münster): Überschreitungen, Neuziehungen und Auflösung von Grenzen. Herausgeforderte Deutschtumsdiskurse in Rio Grande do Sul

Philipp R. Hoffmann-Rehnitz (Münster): Grenzfiguren und diskursive Grenzüberschreitungen in frühneuzeitlichen Wirtschaftskrisen (ca. 1620-1720)

Sektion 4: Zonen der Entgrenzung

Moderation: Nina Mackert

Jan-Henrik Friedrichs (Berlin/Vancouver): Der Diskurs um jugendliche Heroinszenen in den 1970er und 1980er Jahren und die Verräumlichung des Sozialen

Gregor Kanitz (Weimar): Landschaften diskursiver Orthopädie im Philanthropin Schnepfenthal


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