Gedachte Stadt – Gebaute Stadt: Urbanität in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz 1945-1990

Gedachte Stadt – Gebaute Stadt: Urbanität in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz 1945-1990

Organisatoren
Institut für vergleichende Städtegeschichte; Kuratorium für vergleichende Städtegeschichte e.V.; Thomas Großbölting, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.03.2013 - 12.03.2013
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Von
Lukas Grawe / Martin Visser, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die ‚geplante Stadt’ und die ‚gebaute Stadt’ sind hochpolitische Angelegenheiten: Wer die Stadt plant, welche Funktionen sie erfüllen soll, für wen und von wem sie gebaut wird – all das verbindet sich mit Grundfragen der politischen und sozialen Organisation eines Gemeinwesens. Berührt sind Fragen der Partizipation, des Eigentums, der Produktion von Stadtbildern und der in ihnen angelegten bewertenden Visualisierung von Geschichte, Gegenwart und Zukunftsvorstellungen. Die Tagung beabsichtigte den Zusammenhang von ‚Utopischem’ und Modellhaftem in der Städteplanung und dem Städtebau im Zeitalter des Kalten Krieges zu thematisieren. In beiden politischen Systemen bediente man sich selektiv des Ideen- und Planungsreservoirs der ‚klassischen Moderne’. Hüben wie drüben dienten Musterstädte – geplante ebenso wie gebaute – als politische Positionierungen wie auch als Legitimationsressourcen im Systemwettbewerb. Zugleich aber zeigten sich die politischen Systeme mit der Aufgabe konfrontiert, ähnliche Problemlagen zu bewältigen. Diese reichten vom Wiederaufbau und der Errichtung von Wohnraum in den unmittelbaren Nachkriegsjahren über die verkehrsgerechte Stadt seit den beginnenden 1960er-Jahren bis hin zur nachmodernen Urbanität, in der veränderten Lebens- und Konsumgewohnheiten Rechnung getragen wird. Auf dieser Folie war es Ziel der Tagung, Verflechtungen und Abgrenzungen, Parallelen und gegensätzliche Entwicklungen von Städteplanung und Städtebau in Ost und West zu beschreiben und zu analysieren.

THOMAS GROßBÖLTING (Münster) hob in seinem einleitenden Vortrag die Grundopposition von „gedachter“ und „gebauter“ Stadt hervor. Mit einer „tiefensondierten Gesellschaftsgeschichte“ lasse sich ein wichtiger Beitrag zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte der jeweils untersuchten Kommune leisten. Dabei verwies er auf den hochpolitischen Charakter der Stadtplanung und des Städtebaus gerade im geteilten Deutschland, da – planend und gestaltend – beide deutschen Staaten auch die jeweiligen gesellschaftspolitischen Voraussetzungen des Städtebaus abbildeten. So sollten verschiedene Aspekte beleuchtet werden, wie das Utopische in der Städteplanung der Nachkriegszeit angesichts der Probleme von Wohnungsnot und Wiederaufbau oder des Strebens nach der verkehrsgerechten Stadt. Dabei ginge es vor allem darum, Ideal und Realität im Hinblick auf Planungen und deren politische Voraussetzungen sowie auf der anderen Seite die tatsächliche Gestaltung des Stadtraums abzugleichen. Ein weiterer wichtiger Punkt sei zudem die bürgerschaftliche Aneignung der realisierten urbanen Strukturen. Demnach müssten drei Ebenen analysiert werden: erstens, die gebaute Stadt und deren Potential zur Reproduktion sozialer Bindungen; zweitens, die visuelle Manifestation von Stadt im Sinne einer zeichenhaften Repräsentation des entsprechenden Systems; und drittens, die diskursive Stadt. Die von Großbölting thematisierten Problemstellungen sollten vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz der beiden deutschen Staaten geprüft werden, um Parallelen und Gegensätze in Ost und West der Jahre 1945 bis 1990 feststellen zu können.

Der Vortrag von FRANK BETKER (Bonn) thematisierte die Kontinuitäten und Paradigmen im DDR-Städtebau. In einem chronologisch-systematischen Längsschnitt machte er sechs Phasen des ostdeutschen Städtebaus aus (Staatsgründung, Kurswechsel, verdichtetes Bauen, Machtwechsel, Wohnungsnot, Stadterneuerung) und betonte den häufigen Wechsel von Lokal- und Zentralplanung sowie die wiederholte Verlagerung des Bauschwerpunkts vom Zentrum zur Peripherie. Neben der „gedachten“ Stadt, die in den „16 Grundsätzen des Städtebaus“ politisch beschlossen wurde, und der „gebauten“ Stadt, die vornehmlich durch das Institutionensystem des Bauwesens geprägt war, richtete Betker den Blick zudem auf die „geplante“ Stadt und verwies auf die Relevanz baukonzeptioneller Implikationen. Kennzeichnend für den DDR-Städtebau seien die Interdependenzen gewesen, insbesondere aber die dauerhaften Widersprüche zwischen diesen drei Ebenen.

THOMAS GROßBÖLTING reflektierte in seinen Ausführungen die Grundzüge des Städtebaus in der Bundesrepublik, um auf diese Weise einen Vergleich zwischen beiden deutschen Staaten zu ermöglichen. Er betonte besonders phänomenologische Ähnlichkeiten der konkurrierenden Systeme, die zum einen gemeinsame Probleme wie Wohnungsbau und Wohnraummangel betrafen. Letzterem habe man dabei im Westen vor allem durch Entlastungsstädte an den Peripherien entgegenzuwirken versucht. Zum anderen ließen sich analoge wie differente „Bauphilosophien“ bzw. Bautypen ausmachen, wobei die bautechnischen Parallelen insbesondere im Plattenbau evident seien. Wie in der DDR hätten sich in der Bundesrepublik mehrmals die vorherrschenden Leitlinien geändert; anders als im Osten habe den Westen jedoch eine größere Spannung zwischen „gedachter“ und „gebauter“ Stadt geprägt.

Welche Möglichkeiten und Wege der raumzeitlichen Neu- und Rekonstruktion, welche Traditionsbindung oder Modernisierungsdynamik von Öffnung und Schließung sich im Zuge städteplanerischer Initiativen durchsetzten, beleuchtete der Beitrag von RÜDIGER SCHMIDT (Münster) über „Magdeburg – Repräsentation im Wiederaufbau“. Das Bedürfnis der Stadtplaner in der DDR, das kulturelle Selbstbewusstsein aus nationalen Traditionen zu ziehen, habe nicht zuletzt als Mittel der ideologischen Aufrüstung im Kalten Krieg fungiert, sich aber – wie auch das Beispiel Magdeburgs zeige – mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert gesehen, an der schließlich jedwede ideologische Widerspruchsbearbeitung scheitern sollte. Der ungebremste Alarmismus, der in der Ansprache Walter Ulbrichts anlässlich der Gründung der Bauakademie zum Ausdruck gekommen sei, indem er den Impulsen einer vermeintlich subversiven, ja quasi ‚dekadenten’ und ‚falschen Beliebigkeit’ westlicher Architektur mit der Argumentation einer wiederzuerweckenden Tradition auf der Basis der Nation widersprach, habe sich mit einer merkwürdig janusköpfigen Aneignung der Geschichte verbunden. Denn indem Ulbricht nicht nur ‚1945’, sondern die westliche Moderne an sich mit dem Bann einer Diskontinuitätserfahrung belegte, sei der Kapitalismus als System einer vor den Traditionen fliehenden Gegenwart, der Sozialismus indessen, mit dem sich doch die eigentliche Zäsur verband, als überlieferungsfeste und identitätsverbürgende Ordnung interpretiert worden. Damit richtete sich, so Schmidt, nicht zuletzt an die Gesellschaft der DDR auch ein ‚Versöhnungsangebot’. Die ‚Repräsentation im Wiederaufbau’ sollte sich für die westlichste Großstadt des sozialistischen Lagers idealerweise mit einer polemischen Intervention gegenüber dem Westen verbinden. Das sei missglückt. In Magdeburg habe man sich schließlich seit Beginn der 1960er-Jahre von den Impulsen einer ‚nationalen’ Architektur zugunsten eklektischer Repräsentationsformen ‚emanzipiert‘, die das Stadtbild bis in die Gegenwart prägen.

Anhand des Mitte der 1960er-Jahre begonnen U-Bahn-Baus in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover zeichnete LU SEEGERS (Hannover) die Veränderungen der städtischen Imagepolitik bis 1975 nach. Der U-Bahn-Bau, der unter anderem durch einen Kurzfilm dokumentiert ist, sei den Hannoveranern als „dringend notwendige Modernisierung“ von „oben“ verordnet worden. Um die Bürger davon zu überzeugen, habe die Stadt Hannover eine offensive Marketingkampagne verfolgt: Die niedersächsische Landeshauptstadt sollte von ihrem eher als eintönig wahrgenommenen Image befreit werden, um eine urban-temperamentvolle Vitalität herauszustellen. Mithilfe zahlreicher kultureller Projekte, in die die Bevölkerung durch „Mach mit!“-Initiativen für eine „menschlichere Stadt“ aktiv einbezogen wurde, sei in Hannover auf eine neue Form von Urbanität gesetzt worden: Die Stadt als Erlebnis- und Ereignisraum. Der Bau der U-Bahn nahm, so Seegers, dabei eine Schlüsselposition ein. Er habe als Kern eines neuen städtischen Leitbildes gegolten, das nicht nur verkehrstechnokratische, sondern auch gesellschaftspolitische Aspekte einschloss.

HARALD BODENSCHATZ (Berlin) referierte im Rahmen des öffentlichen Abendvortrages zum Thema „Berlin und die Überwindung der städtebaulichen Teilung: Wie zusammengewachsen ist, was zusammengehört(e)“. In seinem Beitrag unterschied er hinsichtlich der Entwicklung im Osten und Westen der geteilten Stadt zwei Ebenen: die architektonische Form auf der einen und die Produktionsverhältnisse auf der anderen Seite. Bodenschatz verwies darauf, dass der Mauerfall für den Städtebau in Berlin keineswegs eine „Stunde Null“ darstellte, da ein tiefgreifender Umschwung – exemplifiziert etwa anhand der Rekonstruktion von Altbaugebieten – sowohl im Ostteil (Nikolaiviertel, Sophienstraße, Gendarmenmarkt) als auch im Westteil der Stadt bereits zu Beginn der 1980er-Jahre eingesetzt hatte. In der Formensprache und den architektonischen Leitbildern habe das vereinigte Berlin somit kaum markante Brüche aufgewiesen. Demgegenüber sei mit der Wiedervereinigung ein groß angelegter Wandel der Produktions- und Eigentumsverhältnisse einhergegangen. Wie Bodenschatz herausstellte, beteiligten sich nach der „Wende“ hauptsächlich private Investoren in großem Stil an den Bauplanungen, während zuvor vor allem öffentliche Gelder für Baumaßnahmen verwendet worden waren. Die Vorgehensweisen – etwa die großflächigen Umsiedlungen von Einwohnern oder Prozesse der Gentrifizierung – seien im Ost- wie im Westteil der Stadt ähnlich gewesen.

ALBRECHT WIESENER (Freiburg) stellte seine Forschungsergebnisse zur letzten großen Neugründung einer Stadt in der DDR vor: Mit dem Bau von Halle-Neustadt habe man beabsichtigt, den traditionell dörflichen Wohnverhältnissen der Chemiearbeiter den Gegenentwurf einer sozialistischen Idealstadt entgegenzustellen, die insbesondere in den alle gesellschaftlichen Schichten vereinigenden, multifunktionalen Wohnblöcken ihren Ausdruck gefunden habe. Auf diese Weise sollte, so Wiesener, die soziale Homogenität und eine Angleichung der Lebensverhältnisse in den Wohngebieten gefördert werden. Tatsächlich hätten ökonomische Restriktionen indes nur wenig Varianz der städtischen Bebauung zugelassen, sodass die reale Umsetzung der angestrebten Utopie nicht oder nur ansatzweise erfolgen konnte. Zwar war die Realisation eines Modells für weitere Projekte gescheitert, doch sei sie fortan als inkrementell erreichbare Zukunftserwartung propagiert worden, um von den gravierenden Mängeln der Gegenwart abzulenken.

THOMAS TIPPACH (Münster) richtete im Kontext des aktuell entstehenden „Deutschen Historischen Städteatlas – Braunschweig“ den Fokus auf die Umsetzung der städtebaulichen Leitvorstellungen des Konzepts einer gegliederten und aufgelockerten Stadt beim Wiederaufbau der Stadt Braunschweig. Deren Innenstadt war im Zweiten Weltkrieg zu 90 Prozent zerstört worden. Tippach zeigte auf, dass die maßgeblich vom Braunschweiger Stadtbaurat Johannes Göderitz bereits während seiner Zeit als Geschäftsführer der Deutschen Akademie für Städtebau, Reichs- und Landesplanung 1944/45 entwickelten Vorstellungen, die auf der „Charta von Athen“ und den Ideen einer „funktionalen Stadt“ basierten, ungeachtet ihrer ideologischen Prämissen bis in die zweite Hälfte der 1950er-Jahre hinein das städtebauliche Leitmodell in der Bundesrepublik blieben. Städtische Identitätskonstruktionen, Widerstände von Eigentümern sowie der Zwang zur Rationalisierung hätten zu Pragmatismus in der Stadtplanung genötigt. Der Verweis auf die Fachkompetenz der Stadtplaner sei dabei dominierend im kommunalpolitischen Diskurs gewesen.

MONICA RIERA (Portsmouth) stellte den Zustand Berlins nach Kriegsende und verschiedene Wiederaufbau-Prozesse – unter den Stichworten „What was left?“ (1945), „rebirth“ (1948) und „semantics“ (1989) – kontrastierend dar. Im Fokus des Wiederaufbaus der oberflächlich zerstörten Stadt habe zunächst der Notbehelf gestanden. Jedoch seien weite Teile der Infrastruktur Berlins noch brauchbar gewesen. Riera skizziert zwei miteinander konkurrierende Pläne , die von den Hauptämtern für Planung I und II entwickelt wurden: Zunächst der Zehlendorfer Plan, der den Wiederaufbau beabsichtigte, die Ästhetik der Straßen betonte und die Zonierung der Stadt ablehnte. Erwartungsgemäß habe man ihn als „reaktionär“ abgelehnt. Dem stand der Kollektivplan des Architekten Hans Scharoun gegenüber, der einen Neuaufbau vorsah, die Zonierung förderte und Straßen als funktionelle Strukturen wertete, ihnen aber einen ästhetischen Anspruch versagte. Dieser Plan sei als „gefühllos“ bewertet worden. Schließlich, so Riesa, habe es keine wesentlichen Umsetzungen der Pläne vor dem Beginn des Kalten Krieges gegeben.

Der Vortrag von DOMINIK GEPPERT (Bonn) widmete sich den bauplanerischen Leitbildern und damit verbundenen symbolsprachlichen Implikationen der bundesdeutschen Hauptstadt Bonn und der Frage nach dem Umzug des Regierungssitzes nach Berlin. Hierzu entwickelte er drei theoretische Phasen, anhand derer Planungstendenzen abzulesen seien: erstens, eine Notbehelfslösung (1949-61); zweitens, Planungen für eine Dauerlösung (1962-79); drittens, Abschied vom Provisorium (1980-89). Die erste Phase: Bonn verfügte als ehemalige Garnisonsstadt über zahlreiche militärische Gebäude, die als vorläufige Verwaltungsgebäude dienten. Auch die Universität und der Sitz der Vereinten Nationen waren wesentliche Faktoren bei der Wahl des Regierungssitzes. In dieser ersten Phase war die offizielle Verwaltungsbebauung eher zurückhaltend und pragmatisch-funktional. Man bediente sich historistischer Gebäude oder moderner Architekturelemente, die politisch unbelastet waren. Es wurden bereits bestehende Gebäude umgenutzt (Villa Hammerschmidt, Sitz des Bundespräsidenten) und andere wurden umgebaut (Bundeshaus von Hans Schwippert). Schlichte Formen sollten den provisorischen Charakter der Hauptstadt auch architektonisch betonen. Bestimmt von der Einsicht, dass eine rasche Wiedervereinigung und eine damit verbundene Verlegung des Regierungssitzes nach Berlin nicht erfolgen würden, wurde zunächst – um das weiterhin angestrebte Ziel der Wiedervereinigung in symbolischer Sicht sprichwörtlich nicht „zu verbauen“ – ein Baustopp für Verwaltungsgebäude verhängt. Infolge der wachsenden Verwaltungsaufgaben wurden über die Stadt verteilte Bürogebäude angemietet. Die zweite Phase: Da sich mehr und mehr die Notwendigkeit einer dauerhaften Lösung abzeichnete, wurde in den 1960er- und 1970er-Jahren neue moderne Architektur geschaffen (Kanzlerbungalow, „Langer Eugen“, Kreuzbauten, Bundeskanzleramt). Zudem fand 1972 der Ideenwettbewerb „Bauten des Bundes und ihre Integration in die Stadt Bonn“ statt. In die dritte Phase fällt unter anderem der Um- bzw. Neubau des Bundeshauses durch Günter Behnisch. Nach der Wiedervereinigung wurde mit dem Hauptstadtbeschluss von 1991 die Verlegung des Regierungssitzes von Bonn nach Berlin festgesetzt. Erst jetzt wurden in Berlin wieder deutlich stärker repräsentative Elemente in der Architektur betont, wie zum Beispiel die Kuppel des Reichstages von Sir Norman Foster.

BEATE BINDER (Berlin) hob in ihrem Beitrag über „Deutsche Hauptstadtrituale“ den Charakter von Hauptstädten als „nationale Aushängeschilder“ hervor und beleuchtete unterschiedliche Formen des Umgangs mit der Geschichte, die sie am Beispiel der neuen Hauptstadt Berlin verdeutlichte: Direkt nach der Wiedervereinigung habe es die Tendenz gegeben, Berlin als gemeinsame Hauptstadt zur „Werkstatt der Einheit“ zu machen. Um 1991, zur Zeit des Hauptstadtbeschlusses, seien die „positiven Aspekte“ Berlins in der deutschen Geschichte – zum Beispiel als Ort internationaler Solidarität während der Luftbrücke im Kalten Krieg – betont worden. In der Phase des Zusammenwachsens von Ost und West seien, der Logik des „westlichen Blicks“ folgend, negative Erinnerungsaspekte weitgehend ausgeblendet worden. Für die vergangenen 20 Jahren hat Binder jedoch einen Wandel beobachtet, der eine Auseinandersetzung mit der ganzen Geschichte Berlins ermöglicht. So habe man auch die „negativen Momente“ der Geschichte (Stalinallee, Mauer) thematisiert und als Mahnung interpretiert. Insbesondere der Diskurs um die städtebauliche Einbindung der Mauer und die kontrastierenden Positionen von „Erhaltung eines Mahnmals“ versus „Totalabriss für ein besseres Zusammenwachsen der beiden Städte“, zeige den kontroversen Umgang mit der Geschichte der Stadt.

SEBASTIAN HAUMANN (Darmstadt) analysierte die Partizipation der Öffentlichkeit an Planungsprozessen der 1970er-Jahre: Im Zentrum der Diskussion um die Beteiligung der „Öffentlichkeit“ haben zwei Probleme gestanden: Zum einen sei es um die wachsende Kompetenz einer kommunalen Öffentlichkeit gegangen, Planungsprozesse zu überblicken, fundiert bewerten und beeinflussen zu können. Zum anderen wurde von Haumann hervorgehoben, dass diese Öffentlichkeit selbst von wenigen Meinungsführern dominiert wird, deren Forderungen jedoch nicht repräsentativ für den Willen der gesamten Öffentlichkeit gelten dürfen. Das Städtebauförderungsgesetz von 1971 habe mit seinen Aussagen zur Partizipation der Öffentlichkeit große Erwartungen geweckt, sei jedoch im Wesentlichen unkonkret geblieben. Erst die Entwicklung seit Ende der 1970er-Jahre, die Öffentlichkeit in sogenannte „Planungszellen“ verstärkt einzubinden, sei erfolgreicher gewesen, auch wenn die dort hergestellte Öffentlichkeit nur sehr begrenzt sein konnte.

CHRISTOPH BERNHARDT (Berlin) näherte sich in einem ersten Teil den Regeln sozialistischer Stadtentwicklungsplanung und bezog sich anschließend auf die Partizipation und alltäglichen Strategien bei der kommunalen Wohnraumbeschaffung: Die DDR-Regierung schrieb den Bezirksregierungen eine zentrale Rolle zu, wobei sich jedoch – so der für die Funktionärsebene unerwünschte Nebeneffekt – die Kommunen bei Planungen und Infrastrukturmaßnahmen emanzipieren konnten. Tendenziell habe eine „Kontraktion von Ressourcen“ in den Städten stattgefunden, wobei ländlich geprägte und kleinstädtische Siedlungen „ausbluteten“. Im Gegenzug haben die betroffenen Kommunen in vielen Fällen unrealistische Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung formuliert, um trotzdem Fördermittel zum weiteren Ausbau zu erhalten. Bei der Wohnraumvergabe seien die Bürger aufgrund unzureichender staatlicher Baumaßnahmen zur Eigeninitiative gezwungen gewesen. Wie Bernhardt herausstellte, vergaben Wohnraumgenossenschaften anfänglich etwa 20 bis 50 Prozent der vorhandenen Wohnungen: Auf diese Weise konnten sich die Wohnraumgenossenschaften der Kontrolle durch die SED weitgehend entziehen. Resultat dieser Entwicklung sei ein riesiger „schwarzer oder grauer Wohnungsmarkt“ gewesen, dessen Erforschung sich jedoch als äußerst schwierig erweise. Im dritten Teil der Ausführungen widmete sich Bernhardt Fragen nach der „autokulturellen Prägung des Stadtraumes“ am Beispiel der ‚Autostadt‘ Eisenach (Wartburg), wobei eine verstärkte Entwicklung von Sozialeinrichtungen, Kleinbetrieben (zum Beispiel Tankstellen) oder Kulturangeboten (Motorsport) zu verzeichnen gewesen sei.

CHRISTOPH LORKE (Münster) befasste sich mit der Wahrnehmung sozialräumlicher Disparitäten, die in beiden deutschen Staaten auf zwar verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und unterschiedlich intensiv reflektiert worden sind. Dennoch böte dieser Zugriff auf die „sozial gedachte Stadt“ eine hervorragende Möglichkeit, um die „doppelte Nachkriegsgeschichte als vergleichende Problemgeschichte“ (Konrad H. Jarausch) zu begreifen. Beide deutschen Staaten, so Lorkes These, versuchten vermittels sozialtechnologischer Interventionen soziale Vergemeinschaftungsprozesse positiv zu beeinflussen, woraus jedoch auf beiden Seiten der Mauer eine ganze Kaskade von Nebeneffekten resultierte. In der Bundesrepublik habe nach Kriegsende durch das sozial- und wohnungsbaupolitische Instrument des sozialen Wohnungsbaus eine bemerkenswerte soziale Durchmischung stattgefunden. Dennoch lasse sich frühzeitig die Tendenz ausmachen, eher stabilere Mieter der Mittelschicht aufzunehmen, wodurch bestimmte soziale Gruppen ausgegrenzt und vom sozialen Wohnungsbau abgekoppelt gewesen seien. In der DDR habe das Bestreben überwogen, die soziale Differenzierung als Übel des Kapitalismus zu eliminieren und die „soziale Zonierung“ der Städte zu beseitigen. Lorke zeigte auf, dass die Verteilung von Wohnraum nicht entlang der Merkmale Einkommen bzw. ökonomische Leistungsfähigkeit erfolgte, sondern sich an einem Gemisch aus moralischen Prinzipien, wie Herkunft und Verdienste für das Vaterland, oder funktionalen Grundsätzen (Arbeiter/Intelligenz) orientierte. Sei die Kategorie „Armut“ in beiden deutschen Staaten bis zum Mauerbau mit gewisser Vehemenz vermieden worden, so könne man dennoch einen Systemwettlauf um den human-eren Staat beobachten, der sich gerade im Feld der Wohnbaupolitik manifestiert habe. Utopisch-planungseuphorische Leitideen seien in der Bundesrepublik spätestens dann verstärkt hinterfragt worden, als sich soziale Ungleichheit mit der „Entdeckung“ von „Randgruppen“ an den Stadträndern immer offenkundiger manifestiert habe. Zwar sei demgegenüber für die DDR das Bild einer vergleichsweise schwächer segregierten urbanen Gesellschaft zu vermerken; auch sei die Bedeutung der sozialräumlichen Trennung in der hochgradig vergesellschafteten DDR eine völlig andere als in der Bundesrepublik. Dennoch habe man auch hier soziale Differenzierungsprozesse beobachten können. Das umfassende Wohnbauprogramm von 1971 konnte diese Tendenzen nicht umkehren, so Lorke. Vielmehr konstatierten insbesondere sozialwissenschaftliche Analysen eine zunehmende Verschärfung sozialräumlicher Gegensätze. Diese Formen sozialer Ungleichheit à la Sozialismus haben sich häufig entlang individualisierender (Passivität, Bildungsmangel) und moralisierender Beschreibungskategorien orientiert.

Die Vorträge der Tagung, die in der Reihe Städteforschung des Instituts für vergleichende Städtegeschichte publiziert werden, richteten einen veränderten Fokus auf die Stadtgeschichte nach 1945 und konnten Schlaglichter auf Architektur und Bauplanung, Symbolsprache, Imagepolitik und Repräsentationsformen sowie Sozial- und Wohnungsbaupolitik werfen: Im geteilten Deutschland waren gegenseitige Beobachtungen, gedanklich-abstrakte sowie konkret-bauliche Anlehnungen, Abschottungen und Rückkopplungseffekte ebenso frappierend, wie vergleichbare und abweichende Reaktionsmuster auf unterschiedlich geartete „Problemlagen fortgeschrittener Industriegesellschaften“ (Christoph Kleßmann). Durch die aufgezeigte Perspektiverweiterung unter dem Schlagwort „Stadt“ kann die Sozialgeschichte des geteilten Deutschlands künftig wertvolle Impulse erhalten.

Konferenzübersicht

Werner Freitag (Münster): Begrüßung

Thomas Großbölting (Münster): Einführung

Sektion I: Planungs- und Baugeschichte der Stadt in Ost und West

Frank Betker (Bonn): Kontinuitäten und Paradigmen im DDR-Städtebau. Längsschnitt und kommunale Perspektive

Jörn Düwel (Hamburg): Kontinuitäten und Paradigmenwechsel im Städtebau der Bundesrepublik

Sektion II: Wege des Wiederaufbaus im doppelten Deutschland

Rüdiger Schmidt (Münster): Magdeburg – Repräsentation im Wiederaufbau

Lu Seegers (Hannover): „Treffpunkt Zukunft“: Urbanität als Imagepolitik in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover der 1960er und 1970er Jahre

Harald Bodenschatz (Berlin): Berlin und die Überwindung der städtebaulichen Teilung: Wie zusammengewachsen ist, was zusammengehört(e)

Sektion III: Paradigmen der städtischen Moderne in Ost und West

Albrecht Wiesener (Freiburg): Idealstädte und das Ende der sozialistischen Stadt in der DDR. Das Beispiel Halle-Neustadt

Thomas Tippach (Münster): Zwischen Planungseuphorie und Pragmatismus: Städtebauliche Praxis in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre

Sektion IV: Nationale Identität und politische Bühne

Monica Riera (Portsmouth): Between a rock and a hard place: Imagining and shaping Berlin during the cold war

Dominik Geppert (Bonn): Nation mit ‚Bundesdorf’: Bonn und Berlin als Hauptstadt

Beate Binder (Berlin): Deutsche Hauptstadtrituale

Sektion V: Öffentlichkeit und Privatheit im städtischen Raum in Ost und West

Sebastian Haumann (Darmstadt): Eine neue Öffentlichkeit: Chancen und Widersprüche partizipativer Planung in den 1970er Jahren

Christoph Bernhardt (Erkner): Die sozialistische Stadt zwischen Planung und Aneignung

Christoph Lorke (Münster): Sozialutopie vs. Problemviertel: Städtische soziale Ungleichheit in Bundesrepublik und DDR (1961-1989)

Schlussdiskussion


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