HT 2014: Vertreibungen und Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert: Gewinner und Verlierer im deutsch-polnischen Kontext

HT 2014: Vertreibungen und Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert: Gewinner und Verlierer im deutsch-polnischen Kontext

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD); Polnischer Historikerverband (Polskie Towarzystwo Historyczne)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2014 - 26.09.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Stefan Thierfelder, Philosophische Fakultät, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Vertreibung, Ausweisung, Zwangsmigration, ethnische „Säuberung“, zuletzt „Verjagung“: Es gibt viele Umschreibungen für jenes Schicksal, das in der deutsch-polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts eine so zentrale Rolle spielt. Zahlreiche Beispiele belegen die fortdauernde Aktualität des Themas in der Debatte um nationale Erinnerung. Die aufgrund des Leitthemas des diesjährigen deutschen Historikertags gewählte Perspektive, nach Gewinnern und Verlierern zu fragen, erwies sich dabei als anregender Diskussionsansatz.

Es war ein Zeichen langjähriger Zusammenarbeit deutscher und polnischer Historikerinnen und Historiker, einem solchen Thema nicht aus dem Weg zu gehen. Dafür spricht auch, dass – anders als noch vor zehn Jahren – durch gegenseitige Rücksichtnahme eine Gleichzeitigkeit der polnischen und deutschen Verbandstreffen vermieden werden konnte: Die in diesem Jahr nacheinander stattfindenden Historikertage (Allgemeiner Kongress der Historiker Polens, 17-21. Sept. 2014 in Stettin sowie der 50. Deutsche Historikertag in Göttingen 23-26. Sept. 2014) beider Länder wurden stattdessen zu gemeinsamen Veranstaltungen auf beiden Historikertagen genutzt. MARTIN SCHULZE WESSEL (München), der Vorsitzende des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) betonte deshalb auch in seiner Einführung den gleichrangigen Stellenwert des Austausches mit Polen für seinen Verband neben dem mit Frankreich (dem Partnerland des 49. Historikertags 2012 in Mainz) und Großbritannien (dem diesjährigen Partnerland). KRZYSZTOF ZAMORSKI (Krakau), stellvertretender Vorsitzender des Verbands der polnischen Historiker, hob in seiner Ansprache die Teilnahme einer Delegation aus Deutschland am polnischen Kongress anerkennend hervor. Die konkrete und professionelle Zusammenarbeit deutscher und polnischer Historiker sei dort in vielen Symposien sichtbar gewesen. Zamorski lud an dieser Stelle auch zur Beteiligung am 3. Weltkongress der Polenhistoriker (Kongres Zagranicznych Badaczy Dziejów Polski) ein, welcher 2017 in Krakau stattfinden wird.

An diese Einführungsworte schloss JÖRG HACKMANN (Stettin) mit Ausführungen zur inhaltlichen Grundidee der Sektion an. Debatten über den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen beschäftigten die deutsche und die polnische Öffentlichkeit noch heute. Waren bis in die 1980er-Jahre transnationale Positionen nicht existent, haben jüngere Forschungsarbeiten dazu beigetragen, den Blick auf das Schicksal der jeweils anderen zu schärfen. Hackmann hob beispielhaft die Edition polnischer Quellen aus den Jahren 1945-1950 durch Włodzimierz Borodziej und Hans Lemberg hervor1, sowie die positive Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf das neueste Buch von Jan M. Piskorski.2

In englischsprachigen Publikationen hat sich, so Hackmann, seit Anfang der 1990er-Jahre die Terminologie „ethnic cleansing“ durchgesetzt. Diesem „Täterbegriff“ (Hans Lemberg) werde heute wieder verstärkt die Opferperspektive gegenübergestellt. Als Beispiel führte Hackmann den von Jan M. Piskorski gewählten Titel „Die Verjagten“ 3 an. Die Debatten um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ bzw. das „Sichtbare Zeichen“ schließlich hätten neue Fragen aufgeworfen. Anstelle einer pauschalen Viktimisierung der Betroffenen sei zum einen nach der Kompensation des Heimatverlustes zu fragen und zum anderen auch die utilitaristische Dimension zu berücksichtigen. Die Frage nach Gewinnern und Verlierern von Vertreibungen bzw. Zwangsmigrationen sei auch je nach Generation unterschiedlich zu beantworten.

Die Beiträge von CLAUDIA KRAFT (Siegen) und ROBERT TRABA (Berlin) gingen in eine ähnliche Richtung. Kraft näherte sich dem Thema terminologisch an: Sie verwies auf die Ergiebigkeit der Begriffe „Gewinner“ und „Verlierer“, da diese eine differenzierte Akteursperspektive erlaubten. Sie fragte zunächst nach den deutschen Vertriebenen: Als Gruppe waren diese Opfer einer Kollektivschuldthese und damit Verlierer. Nach Gewinnern und Verlierern differenziert, lassen sich jedoch Einzelschicksale und Erfahrungsebenen aufzeigen, die individuellen Handlungsebenen werden sichtbar. Opfer können dadurch zu Tätern werden sowie Täter zu Opfern. Traba, der in seinem Beitrag die Erinnerungsprozesse in Deutschland und Polen vergleichend analysierte, fügte dem inhaltlich hinzu, sowohl in der alten Bundesrepublik als auch in der Volksrepublik Polen seien nach dem Krieg Grundmythen gebildet worden. Man habe in der BRD von der „Verlorenen Heimat“ gesprochen, wodurch ihre ehemaligen Bewohner en bloc zu Verlierern stilisiert wurden. Laut Traba und Kraft konnte das polnische kommunistische Regime die Bevölkerung Polens pauschal zu Gewinner erklären, in dem es für die neuen Landesteile im Norden und Westen den Begriff der „wiedergewonnenen Gebiete“ schuf. Damit sei dem Regime laut Traba zwar eine fantastische „sozialethische Erfindung“ gelungen, die den ankommenden Menschen geholfen habe, ihr neues Zuhause anzunehmen. Man muss aber, so Traba weiter, den vorausgegangenen deutschen Besatzungsterror mit in die Debatte einbeziehen: Dass die neu angesiedelten Polen vielfach tragische Schicksale mitbrachten und große Schwierigkeiten hatten sich in der neuen Gegend ein Zuhause einzurichten, wurde durch den Mythos überspielt. Dies zeigte zuletzt das Buch von Beata Halicka „Polens Wilder Westen“ 4, auf das Traba besonders verwies. Unter dem Gewinner- und Verlierer-Aspekt, betonte Kraft, sei dies für das Regime der Volksrepublik aber nur bis in die 1970er-Jahre gut gegangen. Danach wurden die „wiedergewonnenen Gebiete“ zum Hort von Protest und Liberalität, wodurch das Regime von dort aus auf die Verliererbahn geriet.

Beide Redner verdeutlichten die Fruchtbarkeit der vergleichenden Perspektive. So merkte Traba an, dass die kommunistische Zensur in Polen nach 1945 die Aufarbeitung von der durch den Krieg verursachten Trauer verhinderte, dafür konnten die materiellen Verluste dort durch Ansiedlung auf ehemals deutschem Gebiet kompensiert werden. Westdeutschland habe demgegenüber die Aufarbeitung der menschlichen Verluste ermöglicht, wohingegen die Menschen auf der materiellen Ebene lange benachteiligt wurden. Kraft führte dazu an, dort hätten sich die einzelnen Vertriebenen offen äußern können, ihre individuelle Erfahrung sei jedoch durch den Bund der Vertriebenen (BdV) hinter einer undifferenzierten Verbandsmauer verschwunden, dagegen unterdrückten DDR wie auch die Volksrepublik Polen zwar die Artikulation, ermöglichten aber eine frühere materielle Integration.

JAN M. PISKORSKI (Stettin) ging mit seinem Beitrag über die enge deutsch-polnische Perspektive hinaus und näherte sich der Thematik auf der Meta-Ebene an. Die Antwort auf die Frage nach Gewinnern und Verlierern von Zwangsmigrationen müsse stets individuell gegeben werden. Der Kontext des Krieges dürfe bei der Betrachtung nicht außer Acht gelassen werden. Vertreibungen seien die letzte Konsequenz einer Gewaltspirale, in der jegliche Schutzmechanismen fehlten. An die Historiker gerichtet, fuhr Piskorski fort, es sei schwer, die Kategorien Gewinner und Verlierer zu öffnen ohne zu urteilen. Methodisch solle man vergleichen und dabei die Unterschiede herausarbeiten. Auch wenn man gegen Krieg und Vertreibung sei, so müsse man doch deren Resultate zur Kenntnis nehmen. Piskorski wies darauf hin, dass Zwangsmigrationen unsere Welt geschaffen haben. Betrachte man die Ebene der Nachkommen, so sei ihre Situation nicht ohne den Gewinn und Verlust der Vorfahren erklärbar. Bei der Analyse müsse die Situationszeit beachtet werden: „In the measure of man“ (David John Levy 5) – in der kurzen Sicht eines Individuums – sei man Gewinner oder Verlierer, dies könne sich jedoch schnell ändern. So verändere auch die Zeit die Perspektive, das gelte kurzfristig ebenso wie langfristig. Während Todesopfer immer Verlierer blieben, so Piskorski, sei eine Zwangsübersiedlung zweifellos besser als der Tod. Das Zeit-Postulat gelte jedoch auch für das historische Urteil. Historiker sollten nicht zu geringschätzig mit dem subjektiven Urteil der Zeitzeugen umgehen, sondern sollten es ernst nehmen.

Der für seine Arbeit zu „ethnischen ‚Säuberungen‘ in der Moderne“ bekannte MICHAEL SCHWARTZ (München / Berlin) ging in seinem Vortrag der historischen Entwicklung des Phänomens im deutsch-polnischen Kontext auf den Grund.6 Zu dessen Verständnis müsse man mit der Untersuchung im 19. Jahrhundert beginnen, das auf beiden Seiten Gewinner und Verlierer gekannt habe. Zwar könne von einem Kolonialismus der Deutschen gegenüber den Polen im 19. Jahrhundert nicht gesprochen werden, denn Preußen war ein Rechtsstaat und eröffnete Bildungschancen, aber die Polen waren Opfer des deutschen Nationalismus. Dies führte dazu, dass sie sich selbst organisierten und ihr Widerstand dadurch gestärkt wurde. Je weniger in der Folge die Maßnahmen des preußisch-deutschen Staates gegen diese Stärkung der Polen fruchteten, desto mehr steigerte sich die ideologische Gewaltbereitschaft bei den deutschen Nationalisten. In der Entwicklung hin zu ethnischen „Säuberungen“ habe der Erste Weltkrieg wie ein Dammbruch gewirkt: Beruhend auf Lernerfahrungen in den Kolonien, auf dem Balkan und im Kaukasus, kam es zu ersten Vertreibungen, unter anderem durch Russen und Osmanen. Obwohl nicht Regierungspolitik, wurden diese auch in Deutschland diskutabel, insbesondere bei den Alldeutschen. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg verließen hunderttausende Deutsche das polnische Staatsterritorium. Mindestens für die Deutschen, die erst nach 1908 in die an Polen gefallenen Gebiete gezogen waren, muss man von Zwangsmigration sprechen. Die radikalisierte NS-Politik war dann vollkommen enthemmt, sie ging weit über den Kolonialismus hinaus und mündete im Genozid. Bereits 1939 gab es gezielte Mordaktionen an der polnischen Elite und an Juden. Das Gewinner-Verlierer-Blatt drehte sich schnell: Ab 1943 mussten Deutsche ihre Heimat verlassen. Die von den Alliierten sanktionierten Zwangsumsiedlungen nach dem Zweiten Weltkrieg dürfe man nicht mit der Kategorie des Völkermords bezeichnen.

In der anschließenden Diskussion und Abschlussrunde wurden folgende Themenbereiche angeschnitten: Erstens die Benennung des Phänomens Vertreibung/Zwangsmigration oder ethnische „Säuberung“: Ausgehend von einer Kritik an der Begriffsvielfalt plädierte Traba dafür, mehr über das Phänomen an sich zu sprechen als über konnotierte Bezeichnungen. Dazu äußerten sich im Publikum unterschiedliche Ansichten. So wurde als Alternative zu „Vertreibung“ noch einmal „Bevölkerungstransfer“ ins Spiel gebracht. Die beitragenden Gäste bevorzugten in ihrer Mehrheit aber „Zwangsmigration“. Insbesondere wurde auf die Empfehlungen der deutsch-polnischen Schulbuchkommission aus dem Jahr 1976 verwiesen, an die man sich doch halten solle. Dem hielt Kraft entgegen, dass man Begriffe nicht einfordern könne, denn sie spiegelten unterschiedliche Erfahrungen wider. Mit Piskorski und Schwartz war sie sich einig, dass die Semantik der Begriffe jedes Mal aufs Neue erläutert werden müsse. Dies gelte gerade dann, wenn sie wie „Vertreibung“ in der Vergangenheit als Kampfbegriff missbraucht wurden.

Zweitens wurde die Rolle des Dayton-Vertrags, der 1995 den Bosnienkrieg beendete, angesprochen. Hier merkte Kraft an, dass er als zentralen Punkt das Rückkehrrecht beinhaltete. Dieses sei aber nur von etwa der Hälfte der Vertriebenen in Anspruch genommen worden. Vielfach war eine Rückkehr nicht mehr möglich. Vertriebene seien insofern immer Opfer. Piskorski merkte dazu an, man dürfe solche Verträge nicht „schwarz auf weiß“ nehmen, sondern müsse sie nach ihrer Umsetzbarkeit bewerten. Hackmann ergänzte, dass Dayton nicht nur wichtig für den Rückkehraspekt sei, sondern auch, da er einen Ausgangspunkt für die Versöhnungspolitik zwischen den früheren Gegnern bilde. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) habe sich bei ihren Bemühungen an der deutsch-polnischen bzw. deutsch-tschechisch-slowakischen Schulbuchkommission orientiert.

Die Themenstellung des Historikertags hat einen wertvollen Akteursbezug eröffnet, welcher einen über den eigentlichen Forschungsgegenstand hinausreichenden Zukunftsblick ermöglichte. Dies ist insbesondere bei der Erforschung der Folgen der deutsch-polnischen Vertreibungepoche wünschenswert. Gerade weil die aktiv forschende Wissenschaftsgemeinde selbst bereits in die durch Vertreibung geschaffene Realität hineingeboren worden ist, kann sie sich dem Thema in nüchterner Weise annähern, ohne sich im Dickicht der unterschiedlichen Terminologien von zwangsweiser Migration zu verirren. Die notwendigerweise unterschiedlichen Blickwinkel aus Polen und Deutschland befruchten sich dabei mehr, als dass sie sich widersprechen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Jörg Hackmann (Stettin)

Martin Schulze Wessel (München) / Krzysztof Zamorski (Krakau), Einführungen

Podiumsgäste: Claudia Kraft (Siegen), Jan M. Piskorski (Stettin), Michael Schwartz (München/Berlin), Robert Traba (Berlin).

Anmerkungen:
1 Włodzimierz Borodziej (Hrsg.), Niemcy w Polsce 1945-1950. Wybór dokumentów, Warszawa 2000-2001, auf Deutsch erschienen als: „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden...“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950. Dokumente aus polnischen Archiven, Marburg 2003-2004.
2 Jan M. Piskorski, Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, München 2013.
3 ders.
4 Beata Halicka, Polens Wilder Westen. Erzwungene Migration und die kulturelle Aneignung des Oderraums 1945 – 1948, Paderborn u.a. 2013.
5 David John Levy, The Measure of Man: Incursions in Philosophical and Political Anthropology, Columbia 1993.
6 Michael Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013.


Redaktion
Veröffentlicht am