Historikertag 2008: Ostmitteleuropa

Von
Bianca Hoenig, LMU München

Besprochene Sektionen

"Asymmetrien in Vergangenheit und Gegenwart. Deutsche und Tschechen als ungleiche Nachbarn?"
"Neue tschechische Interpretationen der Fragen des tschechisch-deutschen Zusammenlebens"
"Geschichtsvermittlung durch Landes- und Regionalgeschichte. Ein deutsch-tschechischer Vergleich"
"Europas Osten als Objekt kolonialer Phantasien? Imperiale Denkmuster in Mitteleuropa zwischen 1848 und 1918"
"Kollektives Gedächtnis und Beziehungsgeschichte. Binationale Erinnerungsorte im deutsch-polnischen Verhältnis"
"Roundtable: Presse und Auslandskorrespondenten in und aus Ostmitteleuropa – Erfahrungen, Wahrnehmungen und Probleme"

Im besten Sinne ungleich, nämlich von großer Vielfalt, waren die Sektionen des diesjährigen Historikertags zu Ostmitteleuropa. Von eher ereignisgeschichtlichen Vorträgen bis zur Untersuchung von Erinnerungskultur, von der Auslotung forschungstheoretischer Ansätze bis zur schulischen Vermittlung, vom klassischen Vortrag zur Podiumsdiskussion reichte die Bandbreite der regionalspezifischen Angebote. Dennoch lässt sich auch eine Reihe übergreifender Gemeinsamkeiten feststellen. Von einer etwaigen „triumphale[n] Rückkehr der Sozialgeschichte“1 konnte keine Rede sein, denn Ungleichheiten im sozialen Sinn kamen höchstens am Rande zur Sprache; vielmehr wurde das Schwerpunktthema zum Anlass genommen, Beziehungsgeschichte in vielfachem Sinne zu treiben, die das Verhältnis der ostmitteleuropäischen Länder zu Deutschland in den Mittelpunkt stellte und aus verschiedensten Perspektiven beleuchtete.

Der Fokus lag auf der Analyse von Prozessen, die zur Entstehung, Festigung oder Beseitigung von Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Ländern bzw. Bevölkerungsgruppen führten. Es liegt auf der Hand, dass es hierbei nicht allein um die Herausarbeitung von Differenzen, sondern ebenso von gemeinsamen Elementen und Parallelen ging. Dominierendes Bezugssystem dafür war die Nation, jene Vergesellschaftungsform, die in der Moderne mehr als jede andere Menschen in gleich und ungleich scheidet. Sektionenübergreifender Schwerpunkt in den Beiträgen zum 19. Jahrhundert war folgerichtig die Analyse der miteinander konkurrierenden Nationalbewegungen, in denjenigen zum 20. Jahrhundert der Stellenwert des Nationalstaats in der Erinnerung und Vermittlung der Vergangenheit.

Herausgehobene Bedeutung kam der Untersuchung des deutsch-tschechischen Verhältnisses zu, denn Partnerland des diesjährigen Historikertags in der sächsischen Kapitale war aus buchstäblich nahe liegenden Gründen die Tschechische Republik. Vier Sektionen widmeten sich ausschließlich der tschechischen/böhmischen Geschichte bzw. der tschechisch-deutschen Beziehungsgeschichte. Dass die Wahl diesmal auf Tschechien gefallen war, erschien auch aus einem weiteren Grunde passend, da das Land in diesem Jahr einer ganzen Welle an historischen Jubiläen ausgesetzt war, die an die Reihe der Ereignisse in einem 8er-Jahr (1918, 1938, 1948, 1968) erinnerten. Beim Durchblättern des Programmhefts jedoch keine Spur von Münchner Abkommen oder Prager Frühling – vielleicht war es die Absicht der Organisatoren, den Länderschwerpunkt nicht rund um diese prominenten Anlässe zu gestalten, denen das Jahr über schon eine ganze Reihe an eigenen Konferenzen gewidmet worden war.2 Andererseits wäre zu überlegen gewesen, ob das Aufgreifen solcher Schlüsselereignisse, ebenso wie die Einbettung bohemistischer Thematiken in gesamteuropäische Panels nicht ein größeres Publikum angezogen hätte.

Im Mittelpunkt standen stattdessen die verschiedenen Formen des deutsch-tschechischen Zusammenlebens zwischen den Polen von Rivalität und Gegnerschaft einerseits, Miteinander und gegenseitiger Befruchtung andererseits. Das Panel zu „Asymmetrien in Vergangenheit und Gegenwart. Deutsche und Tschechen als ungleiche Nachbarn“ (Leitung: Martina Schattkowsky, Petr Lozoviuk) trug den Bezug zum Konferenzmotto schon im Namen. Exemplifiziert wurde die ungleiche Nachbarschaft an verschiedenen Feldern: Die beiden frühneuzeitlichen Referate von UWE TRESP (Universität Leipzig) und MARTINA SCHATTKOWSKY (Technische Universität Dresden) beschäftigten sich mit den Beziehungen zwischen dem sächsischen und dem böhmischen Adel. KRISTINA KAISEROVÁ (Universität Ústí nad Labem) untersuchte das Zusammenleben von Tschechen und Deutschböhmen im 19. Jahrhundert im Spannungsfeld von konfessionellen und nationalen Identifikationsangeboten.

MILOŠ REZNÍK (Technische Universität Chemnitz) sprach über die Nationsbildungsprozesse im selben Zeitraum, im Laufe derer die beiden Nationalitäten erst konstruiert worden seien. Er betonte, dass sich die tschechische Nationalbewegung in Abgrenzung zur deutschen entwickelt hätte, die Rolle der Deutschböhmen insofern aber ambivalent sei, da der Feind hier auch als Vorbild fungiere. Treffend beschrieb er die Problematik bei transnationalen tschechisch-deutschen Forschungen, die sich sicherlich genauso in anderen Kontexten wie etwa dem deutsch-polnischen wiederfinden lassen kann, als ein Dilemma, das entweder die vermeintlich besondere Konfliktbeladenheit betone oder aber bemüht sei, diese auszuräumen. Da in beiden Fällen die Differenz akzentuiert würde, gerieten die tatsächlichen Prozesse von Annäherung und Abgrenzung etwas aus dem Blick.

Eine Erweiterung der Perspektive auf das Thema der Nationalbewegungen bot der Volkskundler PETR LOZOVIUK (Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde Dresden, Technische Universität Liberec), der seine Disziplin in ihren Anfangszeiten als wichtigen Akteur beim Entwurf eines Volkscharakters porträtierte. In seinem Vortrag wurde deutlich, wie die neu entstandenen Nationalbewegungen Legitimation durch die Konstruktion von historischen Traditionslinien schaffen wollten, indem Beweise für die kulturell eigenständige Entwicklung in der Volkskultur gesucht wurden. Lozoviuk betonte, dass sich die tschechische und die sudetendeutsche Ethnografie zwar der gleichen Strategien bedient, um ihren Anspruch auf kulturelle Vorherrschaft zu stützen, jedoch entgegengesetzte Ziele damit verfolgt hätten: Während die Tschechen ihre nationale Selbstbestimmung rechtfertigen, sich also kategorisch von den Deutschen absetzen wollten, sprachen diese den Tschechen die kulturelle Eigenständigkeit per se ab und verfolgten den Nachweis, dass die böhmische und mährische Volkskultur lediglich eine Abart der deutschen „Kulturträgerschaft“ sei.

Vielfältige Anknüpfungspunkte daran bot die vom tschechischen Historikerverein ausgerichtete Gastsektion „Neue tschechische Interpretationen der Fragen des deutsch-tschechischen Zusammenlebens“ (Leitung: Petr Vorel). Durchgängiges Element der Beiträge war die Problematisierung konkurrierender Loyalitäten. Dieser Komplex wurde epochen- und themenübergreifend behandelt; immer war es das Ziel, historische Prozesse in den böhmischen Ländern in ihrer Komplexität darzustellen und auf diese Weise dem deutschen Publikum Einsichten in die aktuelle tschechische Forschung zu ermöglichen.

Die Frühe Neuzeit war mit dem Vortrag von PETR VOREL (Universität Pardubice) nochmals berücksichtigt, der die de facto wie de jure Ablösung Böhmens vom Alten Reich seit dem 14. Jahrhundert schilderte. Erneut thematisiert wurde die Ausbildung der tschechischen und deutschen Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert: Die Aktivität in Gremien der kommunalen Selbstverwaltung habe wesentlichen Anteil an der politischen Bewusstwerdung des tschechischen Bürgertums gehabt, wie MILAN HLAVACKA (Karls-Universität Prag) für Böhmen und PAVEL KLADIWA (Universität Ostrava) für Mähren illustrierten. Die Konkurrenz zu deutschsprachigen Verwaltungsorganen sei dann ausschlaggebend für seine nationale Mobilisierung gewesen. Das Element der nationalen Konkurrenz beschrieb auch JAROSLAV ŠEBEK (Tschechische Akademie der Wissenschaften Prag) als Triebfeder, allerdings in Bezug auf die katholische Kirche in der Zwischenkriegszeit. Die tschechische und die sudetendeutsche Kirche hätten in der neu entstandenen Tschechoslowakei völlig entgegengesetzte Ziele verfolgt, nämlich die Konsolidierung des Staates einerseits, seine Unterminierung andererseits. Mit zunehmender politischer Radikalisierung auf beiden Seiten sei eine übernationale Kooperation in immer weitere Ferne gerückt; das trennende Element der nationalen Zugehörigkeit hatte über die gemeinsame Konfession gesiegt.

Die Frage nach der Etablierung einer grenzüberschreitenden Kommunikation, diesmal mit Blick auf die Medienlandschaft, stand im Mittelpunkt der Podiumsdiskussion, die von Teilnehmer/innen der parallel stattfindenden Tagung der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission zum Thema „Medien und Öffentlichkeit“ bestritten wurde. Ursprünglich sollten Auslandskorrespondenten aus den drei Ländern aufeinander treffen und über ihre Position in einer sich ausbildenden europäischen Presselandschaft diskutieren; durch Absagen der deutschen Medienvertreter reduzierte sich das Spektrum auf dem Podium bedauerlicherweise auf deutsche Historiker sowie tschechische und slowakische Journalist/innen.

Als Einstieg formulierte CHRISTOPH CORNELISSEN (Universität Kiel), der die Diskussion leitete, die These, dass in der Presselandschaft statt eines Zusammenwachsens eher eine „Enteuropäisierung“ zu verzeichnen sei, womit von vornherein die Ungleichheiten zwischen den verschiedenen nationalen Berichterstattungen ins Zentrum rückten. JAN ŠICHA (Tschechisches Außenministerium Prag) spitzte Cornelißens Diktum noch zu, indem er sowohl zwischen der deutschen und der tschechischen Presse als auch innerhalb der tschechischen Medien große Verwerfungen bezüglich Arbeitsweise und Zielsetzung der verschiedenen Blätter konstatierte. Für das Verhältnis der beiden Länder besonders brisant seien die ungleichen Besitzstrukturen, denn ein Großteil der tschechischen Presse gehört zu deutschen Unternehmen. Wie MARTIN SCHULZE WESSEL (Ludwig-Maximilians-Universität München) betonte, werde die Möglichkeit einer „deutschen“ Beeinflussung der Medien in der tschechischen Öffentlichkeit aufmerksam registriert.

Uneinigkeit bestand in der Frage, inwieweit der Leser Einfluss auf die Inhalte der Presse habe; ŠÁRKA DANKOVÁ (Lidové noviny, Prag) jedenfalls wertete die geringe Präsenz historischer Themen in den Medien, die von mehreren Teilnehmer/innen etwas hilflos konstatiert wurde, als symptomatisch für das Desinteresse der tschechischen Gesellschaft an ihren Nachbarn. Einen ähnlich geringen Stellenwert nähmen Beiträge über die EU ein. Trotz dieser sehr pessimistisch anmutenden Ergebnisse bestehe für die Zukunft eines europäischen Medienraums laut Cornelißen Anlass für „gemäßigten Optimismus“, da ebenfalls der Trend hin zu einer ausgewogeneren Berichterstattung beobachtet werden könne.

Aus einer ganz anderen Perspektive, nämlich der des Schulbuchs, betrachtet wurde das Partnerland in der didaktischen Sektion „Geschichtsvermittlung durch Landes- und Regionalgeschichte. Ein deutsch-tschechischer Vergleich“ (Leitung: Manfred Treml, Rolf Brütting). Der Titel war Programm, sollte hier doch der Regional- und Landesgeschichte „ihr wohlverdienter Platz“, so MANFRED TREML (Museumspädagogisches Zentrum München) in seiner Einführung, gegeben werden. Und so behandelten zwei Vorträge die Vorteile, die das historische Lernen am Beispiel der eigenen, konkret erfahrbaren Umgebung für die Schüler habe, und die Möglichkeiten, auf diese Weise die abstrakte National- und Weltgeschichte zu ergänzen. BERND SCHÖNEMANN (Universität Münster) tat dies in seiner „Bestandsaufnahme in systematisierender Absicht“, ROLF BRÜTTING (Technische Universität Dortmund) in Hinblick auf die deutschen Lehrpläne.

Boten die sich in wesentlichen Passagen überschneidenden Referate interessante Erkenntnisse auch oder gerade für Nicht-Lehrer (etwa in Bezug auf die Genese der Region als Gegenstand des Heimatunterrichts zum heutigen konstruktivistischen Raumbegriff), wurde der zweite im Titel formulierte Anspruch des binationalen Vergleichs nur partiell eingelöst. Zwar erläuterte ROBERT LUFT (Collegium Carolinum, München) die Geschichtsvermittlung im tschechischen Schul- und Universitätssystem und machte darin deutlich, wie sehr die dortige Abwesenheit eines regionalen Zugangs zur Geschichte mit dem Nations- und Staatsbildungsprozess der Tschechoslowakischen bzw. Tschechischen Republik zusammenhängt, und gab EDUARD MIKUŠEK (Staatliches Gebietsarchiv Litomerice) einen Überblick über die Regionalgeschichtsschreibung im böhmisch-deutschen Grenzraum seit dem 19. Jahrhundert am Beispiel der Stadt Aussig/Ústí nad Labem; jedoch blieb weder Raum für die Diskussion des böhmisch-tschechischen Falles noch gab es den Versuch, die beiden Länder einander gegenüber zu stellen und damit dem Motto des Historikertags zu genügen. Erst damit wäre deutlich geworden, wo die Unterschiede in der schulischen Vermittlung von Raumkonzeptionen begründet liegen und wo sich Möglichkeiten des gegenseitigen Lernens und der Zusammenarbeit eröffnen.

Dies wäre vielleicht in dem leider ausgefallenen Beitrag zur grenzüberschreitenden Projektzusammenarbeit von Vertretern der Dresdner Brücke/Most-Stiftung geleistet worden, ebenso wie ein Regionsverständnis, das nicht an den nationalstaatlichen Grenzen Halt macht – bemerkenswert selten war die Rede vom grenznahen Raum, der an die Geschichtsvermittlung im regionalen Maßstab sicherlich spezielle Herausforderungen stellt, sich aber auch außerordentlich gut dazu eignet, den viel beschworenen konstruktiven Charakter räumlicher Ordnungskategorien zu veranschaulichen.

Außer den vier bohemistischen Sektionen gab es noch zwei weitere, die ihren Fokus auf die Länder Ostmitteleuropas richteten. Sie gingen über das Schreiben von nachbarschaftlicher Beziehungsgeschichte hinaus und formulierten schon im Titel den Anspruch, ein Theoriekonzept auf diesen Raum anzuwenden.

Dem von Peter Haslinger und Gregor Thum geleiteten Panel lag die These zugrunde, dass sich das Verhältnis Preußen-Deutschlands und der Habsburgermonarchie zu dem ostmitteleuropäischen Raum mit den Mitteln der Kolonialismusforschung analysieren lasse: Der Osten stelle einen Baustein im „Mosaik der deutschen und österreichischen Weltaneignung“ (so DIRK VAN LAAK in seinem instruktiven Kommentar) dar, was seine strukturellen Merkmale mit denen der überseeischen Expansion vergleichbar mache.

Illustriert wurde diese Parallele an zwei Beispielen: GREGOR THUM (Freiburg Institute for Advanced Studies, Freiburg) und IZABELA SURYNT (Universität Wroclaw) arbeiteten heraus, wie stark das deutsche Bild von Polen mit Begründungsstrategien für die Ausdehnung nach Osten aufgeladen wurde; PETER HASLINGER (Herder-Institut Marburg, Universität Gießen) und PIETER JUDSON (Swarthmore College, Swarthmore) erläuterten, in welchem Maße koloniale Muster die Herrschaftspraxis im Habsburgerreich und das Verhältnis der Nationalitäten untereinander bestimmten. In beiden Fällen lasse sich von einem wahrhaftigen Kolonialdiskurs sprechen, der den Osten als wüstes Land und seine Bewohner als fremdartig und unzivilisiert darstellte (das Bild des „orientalischen“ Polen oder Bosniers) und der somit das Vordringen als Pflicht der kulturell höher stehenden Nationen rechtfertigte. Seine literarische Entsprechung habe diese Auffassung in populären Reiseberichten gefunden, die ihre Ziele zwar einerseits als exotisch und geheimnisvoll anpriesen, andererseits aber im öffentlichen Bewusstsein die Vorstellung eines Zivilisationsgefälles zum Heimatland festigten. Van Laak zufolge sei die Wirksamkeit der kolonialen Semantik in Anwendung auf Ostmitteleuropa mit der kompensatorischen Funktion zu erklären, die sie bei den Mächten entfaltet habe, welche nicht an der Aufteilung der Kontinente beteiligt waren. Die Vision einer Expansion nach Osten habe den den Gesellschaften des 19. Jahrhunderts eigenen Bewegungsdrang befriedigen können.

Trotz dieser Gemeinsamkeiten wurden in den Vorträgen auch große Unterschiede zwischen den beiden Fallbeispielen erkennbar, vor allem in Bezug auf das Verhältnis zwischen den Kolonisatoren und dem Staat: Während sich diese Lobby in Preußen-Deutschland teilweise direkter Unterstützung durch die Obrigkeit erfreuen konnte, bedeutete ihre nationalistische Argumentation eine Gefahr für das übernationale Selbstverständnis der Habsburgermonarchie, die den innerkolonialen Bestrebungen deshalb meist ablehnend gegenüberstand. Notwendigkeit für weitere Forschungen wurde dann in der Diskussion gerade in der näheren Untersuchung der verschiedenen Akteursgruppen gesehen, sowohl der Träger des Expansionsgedankens wie auch der Bevölkerungsmehrheit, die diesen Bestrebungen skeptisch bis ablehnend gegenüberstand. Des weiteren sei eine Systematisierung von Übersee- und Kontinentalexpansion wünschenswert, die den Kolonialismus in seiner Komplexität und Wandelbarkeit historisiere.

Von der „Geschichte des ersten Grades“ zu derjenigen „des zweiten Grades“ (Pierre Nora) wechselte die Sektion „Kollektives Gedächtnis und Beziehungsgeschichte. Binationale Erinnerungsorte im deutsch-polnischen Verhältnis“ (Leitung: Hans Henning Hahn). Sie entspann sich rund um das von Hahn und Robert Traba konzipierte Projekt der deutsch-polnischen Erinnerungsorte, dessen Zielsetzung es ist, Beziehungsgeschichte und das Konzept der „lieux de mémoire“ zusammenzubringen. Dies ermögliche, die nationale Begrenztheit von Identitätskonstruktionen zu überwinden, ohne aus den Augen zu verlieren, wie stark Identitätsbildungsprozesse mit dem nationalen Raum verknüpft seien.

Mit dieser Zielvorgabe war es nur folgerichtig, dass das Einstiegsreferat von ETIENNE FRANÇOIS (Freie Universität Berlin) gehalten wurde. Seine Bemerkungen zum Potential bi- und transnationaler Erinnerungsorte veranschaulichte er mit französischen Beispielen, was eine willkommene „Trilateralisierung“ der ansonsten rein deutsch-polnischen Sektion bedeutete. Die Thematik der Sektion umreißend betonte er, dass der nationale Rahmen nicht ausreiche, um die Erinnerung zu analysieren. Erinnerungskonstruktionen entstünden immer im Wechselspiel mit den Nachbarn, sei es in gegenseitiger Befruchtung, sei es mit dem Ziel der Abgrenzung. Daran knüpfte ROBERT TRABA (Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften / Freie Universität Berlin) an, demzufolge die binationale Perspektive das fehlende Glied zwischen der nationalen und der transnationalen Betrachtung von Erinnerungsorten darstelle.

Dies wurde im Folgenden an zwei Fällen illustriert: ZOFIA WÓYCICKA (Universität Warschau) erläuterte am Beispiel Auschwitz ein vielschichtiges Gedenken, das neben einem mehrfachen nationalen Kontext auch im deutsch-polnischen Zusammenhang und darüber hinaus zum weltweiten Erinnerungsort des Holocaust geworden ist. HANS-JÜRGEN BÖMELBURG (Universität Gießen) stellte die parallelen Erinnerungsorte Altes Reich und Rzeczpospolita vor, die im deutschen bzw. polnischen Gedächtnis als Bezugspunkt nationaler Bestrebungen fungierten. Die in den Beispielen deutlich gewordene Diskrepanz – in der polnischen Erinnerungskultur spielt Deutschland eine unübersehbare Rolle, während Polen im deutschen Fall nur peripher auftaucht – unterstrich den von Traba konstatierten Bedarf eines „gemeinsamen übernationalen Dialograums“.

Es fällt schwer, die hier vorgestellten Panels in einer zusammenfassenden Schlussbemerkung zu resümieren. Wie eingangs betont, waren Thematik und Herangehensweise höchst unterschiedlich, so dass ihre Gesamtheit als eine Vielzahl an Arten, über den ostmitteleuropäischen Raum zu sprechen, erscheint. Auch das Konferenzmotto bildet keine übergreifende Klammer, wurde es doch, wie deutlich geworden ist, meist nicht weiter vertieft, teilweise auch ganz ignoriert.

Die Chance, die verschiedenen Facetten des Begriffs „Ungleichheiten“ auszuloten und auf die regionalen Spezifika anzuwenden, wurde nur partiell genutzt; viele Bereiche wie etwa die Sozial- oder Geschlechtergeschichte blieben unberücksichtigt, Vergleiche zwischen den Ländern Ostmitteleuropas oder in größerem, europäischen Maßstab blieben aus. Neben der fast schon standardmäßigen Aussparung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit blieben auch große Bereiche des 20. Jahrhunderts unterbelichtet, namentlich die Periode des Staatssozialismus, der wegen der ihm zugrunde liegenden Gesellschaftsutopie ein besonders dankbares Studienobjekt für den diesjährigen Historikertag abgegeben hätte.

Jenseits aller Desiderate bleibt jedoch hervorzuheben, dass Ostmitteleuropa generell und insbesondere die tschechische/böhmische Geschichte auf diesem Historikertag stark vertreten war und durch diese Präsenz, auch in einigen Abendveranstaltungen, sicherlich größere Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, als dies üblicherweise der Fall ist; in den Sektionen wurde gezeigt, wie aktuelle kulturwissenschaftliche Ansätze auf fruchtbare Weise auf die Region angewendet werden können; und nicht zuletzt erfuhr die transnationale Herangehensweise, die alle Panels verband, ihre praktische Umsetzung in der Zusammenarbeit von (nicht nur) deutschen, tschechischen und polnischen Historikern auf dem Podium – Hinweis darauf, dass der mehrfach angemahnte Dialog zumindest in der Geschichtswissenschaft schon stattfindet.

Anmerkungen:
1 Johan Schloemann, Ist es schlimm? Deutschlands Historiker wenden sich der Ungleichheit zu, in: Süddeutsche Zeitung, 6.10.2008, S. 11.
2 Exemplarisch hier nur der Konferenzzyklus der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik: <http://1918-1938-1968.cz/content/view/1/3/lang,de/> (13.10.2008).