Wenn einem irgendwie die ‚Richtung‘ nicht paßt

Von
Burkhard Dietz

Eine Replik auf die Rezensionen und Kommentare zu unserem Sammelband „Griff nach dem Westen“

Von Burkhard Dietz, Helmut Gabel und Ulrich Tiedau

Offensichtlich ist unser Sammelband „Griff nach dem Westen – Die ‚Westforschung‘ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960)“, der im März 2003 ausgeliefert wurde, in der deutschen Fachwelt recht unmittelbar auf eine noch größere Aufmerksamkeit gestoßen, als wir dies zunächst zu hoffen gewagt hatten. Das will freilich noch nicht viel heißen, denn wer ‚das Geschäft‘ kennt, konnte angesichts des behandelten Themas schon im voraus davon ausgehen, daß es nicht bei jenem ungetrübten Lob bleiben würde, das uns Herausgebern und den 43 Beiträgern/-innen in der „Süddeutschen“ gezollt wurde. Dort hatte es – bei der im folgenden zu diskutierenden unterschiedlichen Rezeption unseres Bandes erfreulicherweise einmal mit erfrischender Prägnanz von Stefan Rebenich formuliert – am 23. Mai 2003 unter anderem geheißen: „... die ‚Westforschung‘ wurde von der Wissenschaftsgeschichte bisher eher stiefmütterlich behandelt. Diese Lücke ist nunmehr, zumindest für das Gebiet der heutigen Benelux-Staaten, durch eine methodisch mustergültige und inhaltlich differenzierte Darstellung geschlossen worden ...“ Inhaltlich seien dabei nicht nur „die Entstehung und Entwicklung einer interdisziplinären ‚Westforschung‘“, sondern auch deren wissenschaftliche „Voraussetzungen und ideologischen Grundlagen erörtert, die fächer- und themenspezifischen Ausprägungen dokumentiert, die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen geklärt, einzelne Akteure vorgestellt und die schwierige Kontinuitätsproblematik aufgegriffen“ worden. An diesen Gesichtspunkt anknüpfend lautete das anschließende Resümee: „Die quellen- und detailgesättigte zweibändige Studie stellt die kritische wissenschaftsgeschichtliche Auseinandersetzung mit der ‚Westforschung‘ auf eine neue Grundlage. Sie ist zugleich ein wichtiger Beitrag zur notwendigen Diskussion um die Geburt persistenter Deutungsmuster der bundesrepublikanischen Kulturwissenschaften aus dem Geist der völkischen Geschichtsbetrachtung. Es ist zu hoffen, dass die von den Herausgebern geplante Folgepublikation zu Frankreich, der Schweiz, Lothringen und der Saar bald erscheinen wird. Dann heißt es endgültig: Im Westen viel Neues.“

Die mit relativ großem intellektuellem Aufwand geführte Diskussion im Rahmen des bei H-Soz-u-Kult unter der redaktionellen Regie von Matthias Middell und Vera Ziegeldorf eingerichteten „Review-Symposiums“ begann dagegen gleich mit einem Mißverständnis, das in gewisser Weise aber bezeichnend ist für eine größere Gruppe der dann nach und nach veröffentlichten Rezensionen und Kommentare. Gemeint ist jene Form von Fehleinschätzung, die auf Vorurteilen, gewollten oder ungewollten Mißverständnissen und vor allem darauf beruht, daß der Text des zu rezensierenden bzw. zu kommentierenden Buches zum Teil einfach gar nicht zur Kenntnis genommen wurde. Noch eklatanter für die spezifische Rezeptionskultur war allerdings die Tatsache, daß eine offensichtliche Unterstellung eines Rezensenten, nämlich die von Hans Derks aufgestellte Behauptung, unser Band stelle jede Kontinuität der ‚Westforschung‘ in Abrede, von anderen (Christian Lübke) ohne eigene kritische Überprüfung nachgebetet wurde. Das Gegenteil ist natürlich der Fall, wie ein Blick auf den Untertitel und den Inhalt des Bandes unschwer gezeigt hätte und wie auch Matthias Middell schon einleitend feststellte, indem er den aktuellen Forschungsstand dahingehend zusammenfaßte, daß er schrieb: „Zugleich fällt aber auf, daß die Frage der Kontinuität vorrangig für die Zeit bis 1960 zu erörtern sei, nicht jedoch bis zur Gegenwart heranreiche.“

Ähnlich verhält es sich mit der von Ingo Haar (und in variierter Formulierung auch von Peter Schöttler) aufgestellten Unterstellung, in unserem Band werde, namentlich in seinem Vorwort und letzten Beitrag (von Bernd-A. Rusinek zum Thema „Westforschungs-Traditionen nach 1945 – Ein Versuch über Kontinuität“), die These vertreten, „die Volksgeschichte habe als Kultur- und Volkstumsforschung bis in die Gegenwart innovativ gewirkt“, was tatsächlich an keiner Stelle des Bandes gesagt wird, höchstens in kritischer Absicht, daß sie lange nach 1945 noch als innovativ gegolten habe – was aber wohl eine etwas andere Bedeutung hat. Was mit dieser rätselhaften Behauptung intendiert ist, wird jedoch gleich deutlich, denn Haar läßt noch an derselben Stelle in einer Fußnote gleichsam die Katze aus dem Sack, wenn er wiederum annimmt, es sei überhaupt „das Problem des Vorwortes“, „dass die Autoren die andere (recte: anderen) Mitautoren mit dem Hinweis, gegen Hans Derks antreten zu müssen, in den Aufbau einer vermeintlichen Abwehrfront gezwungen werden (recte: haben?), mit der sie im Grunde nichts zu tun haben“. – Von einem Vereinnahmen der Autoren für eine „Abwehrfront“ und einem „Antreten müssen“ kann natürlich keinerlei Rede sein. Wenn in der Einleitung der Herausgeber von „positionellen Klarstellungen“ gesprochen wird, so bezieht sich dies (auch im Textzusammenhang) ausschließlich auf die von den Herausgebern eher behutsam und defensiv unternommene (und keineswegs den Autorinnen/Autoren zugemutete) Hinterfragung der Derks‘schen Stigmatisierung des Zentrums für Niederlande-Studien als angeblich forschungsimperialistisches Institut.

Überhaupt, so heißt es bei Haar an anderer Stelle (sowie bei Middell und Schöttler in solidarischer Mission), gingen wir mit Derks zu hart ins Gericht, während interessanterweise Oberkrome genau der gegenteiligen Auffassung ist: Er moniert nachdrücklich, daß wir uns mit Derks zu knapp und zu zurückhaltend auseinandergesetzt hätten. Dem leicht zu entzaubernden „Minotaurus“, so formuliert er gar, seien wir mit zu großer argumentativer Defensive begegnet.

Wie sind aber diese verwunderlichen Widersprüche zu erklären, auch diese eingebildeten, ja geradezu lächerlich verschwörungstheoretischen Scheingefechte mit den hier vermuteten Koalitionen, und wie die Annahme, daß Wahrheitsvertuscher und subversiv agierende Seilschaften am Werke seien? Wie so oft, reflektieren die falschen Zuschreibungen selbst am besten die verquere Phantasie ihrer Produzenten. Da unsere Kritik an Derks in der Tat, wie Oberkrome im Grunde schon richtig bemerkt hatte, mit Absicht betont sachlich, zurückhaltend und kurz gehalten war (und zwar allein deshalb, weil unser Buchprojekt von Anfang an gänzlich ohne Kenntnis der erst wenige Monate vor unserem Band ausgelieferten Derks’schen Publikation entstand und zeitlich gesehen so kurz vor der Fertigstellung des Gesamtmanuskripts nur noch im Vorwort und in dem terminlich zuletzt eingegangenen Beitrag Bezüge möglich waren), sind dies fernab aller Wissenschaftlichkeit frei erfundene Konstruktionen, die allein darauf abzielen, vermeintliche Antagonismen zu kreieren und mit taktisch-rhetorischen Spielchen den sachlich nicht zum Ausdruck zu bringenden Unmut über eine ‚Richtung‘ bezeichnen, die einem irgendwie nicht paßt und die man vermutlich selbst gern – mit den bekannten selektiven Wahrnehmungsmustern – bestimmt hätte.

Anstatt von „Schlüsselaufsätzen“ (Ditt, Rusinek) zu reden, aus denen angeblich die „wahre“ Absicht der Herausgeber ersichtlich werde (an welche mag die Phantasie der Kollegen dabei nur gedacht haben?), anstatt über einen vermeintlichen „Superintentionalismus“ und eine angebliche Heterogenität der Beiträge zu befinden (als hätten die Herausgeber den Versuch unternehmen müssen, die Inhalte von 43 Beiträgen ‚gleichzuschalten‘ und zu trimmen – dieser Behauptung kann keine allzu große Erfahrung in Herausgeberschaften zugrunde liegen) und Unterstellungen bezüglich der vermeintlich nicht behandelten Kontinuitätsfrage oder der vermeintlich behaupteten innovativen Kraft der Volksgeschichte bis zur Gegenwart aufzustellen, anstatt – wohl in politisierender Absicht – gegensätzliche Gruppierungen zu erfinden. Statt all dieser Spiegelfechtereien sollte man sich zunächst einmal, wie jeder andere Rezensent, an den Text des zu besprechenden Buches halten und nicht seiner Einbildungskraft ungebremst freien Lauf lassen. Dem unsäglichen Geraune hinsichtlich des „eigentlichen“ Bandzwecks sei also noch einmal mit aller Nüchternheit entgegengehalten: Es hat zu keinem Zeitpunkt der Projektarbeit auch nur den leisesten Versuch von uns Herausgebern oder einem der Autoren gegeben, Einfluß auf die inhaltliche oder konzeptionelle Gestaltung des Bandes oder einzelner Beiträge zu nehmen, zumal dies bei dem (nach den ersten Monaten) nahezu privat und fast ohne jede institutionelle Anbindung realisierten Publikationsvorhaben auch schwerlich möglich gewesen wäre.

Freilich machte auch Middell selbst – der sich als hauptverantwortlicher Redakteur mit einer vorzüglichen, problemorientierten Einleitung bemühte, das Abstraktionsniveau der sich anschließenden Diskussion auf eine höhere, an den künftigen Forschungszielen ausgerichtete Ebene zu heben – den Anfang mit den Mißverständnissen zur Rezeption unseres Bandes, als er dem Symposium nämlich einen Titel gab und dabei formulierte: „‘Westforschung‘ – Eine Diskussion zur völkisch-nationalistischen Historiographie in Deutschland“. Es geht indes vielmehr darum, daß hier nicht nur ein Beitrag zur „völkisch-nationalistischen Historiographie“ geleistet werden sollte, sondern es geht gerade auch um jenen Sachverhalt, den etwa Peter Schöttler im Zuge seiner selektiven Lektüre eher beiläufig zu den Aufsätzen Thomas Müllers anmerkt, nämlich daß beispielsweise an der RWTH Aachen als ‚Grenzlanduniversität‘ systematisch die Ausbildung von „Auslandsingenieuren“ und anderen auf den Einsatz in zu erobernden Großräumen spezialisierten Experten betrieben wurde. Und so handelt es sich denn auch bei einer Vielzahl von Beiträgen unseres Bandes um erstmalige Versuche, die interdisziplinäre Phalanx der zeitgenössischen „Grenzlandforschung“ exemplarisch anhand von Detailstudien in den Blick zu nehmen, wobei neben Historikern – um nur einige Beispiele zu nennen – auch Raumplaner, Ingenieure, Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen, Geographen, aber natürlich auch typische Geisteswissenschaftler wie Volkskundler, Literatur- und Sprachwissenschaftler, Theologen und Kunsthistoriker ins Blickfeld geraten. Der Mehrzahl unserer Rezensenten ist dies leider ebenso entgangen wie dem verantwortlichen Redakteur des „Review-Symposiums“, der unser Buch lediglich für eine „Diskussion zur völkisch-nationalistischen Historiographie in Deutschland“ vorsah.

Daß die meisten Historiker noch auf dem Auge der Interdisziplinarität blind sind, wird jeder bestätigen können, der sich einmal mit technikgeschichtlichen Problemen beschäftigt hat, daß sie aber bei einem umfänglichen Projekt wie dem hier angezeigten zur ‚Westforschung‘ nicht einmal deutlicher angesprochen wird, ist schon bezeichnend für die vielzitierte Tönung der Brillen, welche die meisten – erstaunlicherweise auch jüngeren – Historiker offensichtlich noch immer tragen.

Die bezeichnende Fehleinschätzung hierbei war, daß unser Band (entsprechend der offensichtlich stark auf den ‚Nabel‘ der eigenen Zunft und ihre vermeintlichen Skandälchen beschränkten Rezeption) in bestimmten Kreisen von vornherein hauptsächlich als Beitrag zu der schon hinlänglich breit behandelten Debatte um die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus betrachtet wurde. Ein erneuter Blick auf den Titel, geschweige denn ins Inhaltsverzeichnis oder gar in die Beiträge hätte hingegen sofort gezeigt, daß es sich bei unserem Band von der Konzeption her in der Tat um den ersten Versuch handelt, das Thema in seiner Interdisziplinarität und in seinen grenzüberschreitenden Aspekten anzugehen – um einen Versuch zumal (siehe unsere Einleitung, S. XXIX f.), der sich der eigenen Unzulänglichkeit von Anfang an bewußt gewesen ist.

Allein durch den methodischen Zugriff wird somit auch das Monitum derjenigen, denen der Band zu voluminös ist, ad absurdum geführt – während übrigens andere, denen die Chancen der interdisziplinären und grenzüberschreitenden Forschungsperspektive nicht ganz entgangen ist, von sich aus nicht behandelte Themenbereiche aufzählen und fordern (übrigens ganz zu Recht, denn unsere Absicht war es lediglich, eine erste Zwischenbilanz der ‚Westforschung‘ zum europäischen Nordwesten vorzulegen und die künftige Forschung damit anzuregen), unseren Band baldmöglichst zu ergänzen. Christoph Strupps und Willi Oberkromes einschlägigen Bemerkungen ist daher von unserer Seite nur zuzustimmen, auch wenn ausgerechnet ihre Beispiele Franz Steinbach und Hermann Aubin hier überflüssig erscheinen, denn zum einen werden Steinbachs Aktivitäten ausführlich im Beitrag Fahlbusch behandelt, zum anderen war Aubins Engagement – neben der eher punktuellen Gründung des Bonner Instituts (die aber in den Beiträgen von Nikolay-Panter und Maxim sachlich differenziert und kritisch abgehandelt wird) – eindeutig auf die ‚Ostforschung‘ ausgerichtet.

Noch einmal: Eine erste möglichst umfassende Zwischenbilanz der ‚Westforschung‘ zum nordwesteuropäischen Raum, eine an den Quellen, an der breiten Faktizität und deren erster kritischer Analyse, an der Interdisziplinarität und grenzüberschreitenden Betrachtung orientierte Publikation war intendiert, dagegen keine Auswertung, Zusammenfassung oder gar theorieorientierte Interpretation eines historischen Phänomens (Etzemüller, Oberkrome), dessen ganze faktische Dimension zum Zeitpunkt unseres Projektbeginns sehr defizitär war. Anders gewendet: Unsere Absicht war es, im besten Sinne der historischen Forschung Beispiele und Möglichkeiten für die kritische Aufarbeitung des Phänomens ‚Westforschung‘ anzubieten, keine Interpretationen – also auch nicht den gewiß wünschenswerten Vergleich mit der ‚Ostforschung‘ – zu liefern, denn letzteres hätte nach unserer Auffassung zweifellos bedeutet, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun. Denn nach wie vor sind wir der Überzeugung, daß jede Interpretation erst der eingehenden Erforschung der historischen Ereignisse folgen kann, weshalb wir etwa auf den anfänglich bei zwei Kollegen (Christoph Klessmann, Ingo Haar) angefragten Vergleich mit der ‚Ostforschung‘ schließlich auch aus methodisch-konzeptionellen Gründen verzichtet haben. Die Feststellung, unser Buch habe „eher den Charakter einer Anthologie als einer Enzyklopädie“ (Strupp), kann somit voll und ganz unsere Zustimmung finden, auch die pejorative Bemerkung, der von uns herausgegebene Band sei im Ergebnis ein „Arbeitssieg“ (Hettling), gereicht uns zur Ehre – die Forderungen jedoch, wir hätten die ideengeschichtlichen Wurzeln der völkisch-nationalen Wissenschaften seit dem 19. Jahrhundert stärker berücksichtigen (Oberkrome) oder theoriegeleitete Erklärungsmodelle anbieten sollen (Etzemüller), gehen an der forschungspraktischen Realität und Praktikabilität eines solchen Projekts schlichtweg vorbei.

Unter dem Strich erreicht mithin die überwiegende Mehrzahl der in diesem „Review-Symposium“ präsentierten Besprechungen leider nicht das konstruktive argumentative Niveau des von Matthias Middell in seinen Vorspann-Texten aufgezeigten Problemhorizonts, und so ist auch ihre Verwertbarkeit für unser geplantes Nachfolgeprojekt aufgrund der aufgeführten Defizite in der Regel recht gering. Ausnahmen stellen allein die ausgewogeneren Besprechungen von Christoph Strupp, Jost Dülffer, Manfred Hettling sowie die genannten Vorspann-Texte von Matthias Middell dar, die uns insgesamt einige wertvolle Anregungen für die weitere Realisierung unserer Forschungs- und Publikationsziele geliefert haben. Ihnen danken wir vielmals für die Mühe der Kritik und überlassen es gerne der mit rheinischem Frohsinn ausgestatteten Detailfreudigkeit Otto Danns festzustellen, wie viele Angehörige welcher Forschergeneration nun an diesem vielsagenden „Review-Symposium“ teilgenommen haben.

Alle vorstehenden Äußerungen geben selbstverständlich nur die Auffassungen der oben angegebenen Herausgeber von „Griff nach dem Westen“ wieder, nicht etwa die unserer Beiträger/-innen, wiewohl nicht ausgeschlossen sein dürfte, daß der oder die andere unsere in dieser Replik zum Ausdruck gebrachten Auffassungen teilt.

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