B. Studer u.a. (Hrsg.): Das Schweizer Bürgerrecht

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Titel
Das Schweizer Bürgerrecht. Erwerb, Verlust, Entzug von 1848 bis zur Gegenwart


Autor(en)
Studer, Brigitte; Arlettaz, Gérald; Argast, Regula
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Stier, Universität Koblenz-Landau

In einer beeindruckenden Kombination konstruktivistischer und empirischer Zugangsweisen zeigt der Band, wie erkenntnisfördernd es sein kann, eine soziale Gruppe von ihren Randzonen bzw. Grenzen und den entsprechenden Prozessen und Ritualen des Ein- oder Austritts her zu analysieren. Die Autoren untersuchen, wie über die Normen der Staatsangehörigkeit und ihre praktische Handhabung nationale Selbstbilder verhandelt und kollektive Sehnsüchte, aber auch Ängste ausgelebt wurden. An der Geschichte des eidgenössischen Einbürgerungsrechts werden damit zentrale Ordnungs- und Selbstverständigungsdiskurse der Schweizer Gesellschaft erschlossen. Ihre Dekonstruktion, so die – allerdings nicht ganz unproblematische – politische Botschaft des Buchs, soll einen Beitrag zur Bewältigung der von den Autoren konstatierten „Assimilations- und Integrationskrise“ (S. 302) leisten und den Weg für eine moderne, das heißt nach ihrer Auffassung: großzügigere und gelassenere Einbürgerungspolitik der Zukunft öffnen.

Die Dreistufigkeit (Gemeinde, Kanton, Staat) macht die Besonderheit des Schweizer Bürgerrechts aus. Teil 1 (R. Argast; G. Arlettaz; B. Studer) behandelt die Entwicklung auf nationaler Ebene; eine wichtige Ergänzung dazu als quasi komplementäre Geschichte der aktiven Ausschließung aus dem Staatsverband von 1848 bis in die 1950er-Jahre bildet der leider etwas missverständlich betitelte und ungünstig platzierte Abschnitt über die „Ausbürgerungen im Zweiten Weltkrieg“ (N. Schwalbach, S. 265ff.). Zwar wurden bereits mit der Gründung des Bundesstaates 1848 einheitliche Rechten und Pflichten für alle Schweizer definiert, die Staatsbürgerschaft selbst leitete die Bundesverfassung – ganz der Tradition folgend – aber noch aus dem älteren Kantonsbürgerrecht ab. Erst durch die Verfassungsrevision von 1874 wurde eine eigene Kompetenz des Bundes begründet, die dieser etwa seit der Jahrhundertwende stärker wahrnahm und zu einem der wichtigsten Politikbereiche ausbaute. Entscheidende Bedeutung für die zunehmend restriktive Handhabung der Einbürgerung gewann die Ablösung des ursprünglichen, integrativen, bürgerlich-liberal gefärbten Diskurses über die föderale Struktur des Bundes sowie über die Emanzipation und Gleichstellung der Bürger, wie er für die Staatsgründungsphase typisch war, durch „kulturalistische[n], nationalistische[n] und ‚ethno-rassische[n]‘ Vorstellungen.“ (S. 98). Diese lassen sich als kollektive Angst- und Abschottungsreaktion auf zunehmende Mobilität, Einwanderung und ‚Überfremdung‘ im Zeitalter der Industrialisierung deuten. In einer Gesellschaft, welche die Begegnung mit dem Fremden trotz des überwiegend damit verbundenen ökonomischen Vorteils offenbar eher als Bedrohung empfand, wurde das Modell der Assimilation durch Einbürgerung vom restriktiven Konzept der nachzuweisenden Assimilation als Voraussetzung für die Einbürgerung abgelöst. Trotz phasenweise liberalerer Handhabung während des 20. Jahrhunderts und einer in jüngster Zeit deutlich wahrnehmbaren Tendenz zur grundlegenden Neuorientierung war die Einbürgerungsfrage damit dauerhaft auf die emotionale Ebene verlagert, was auch den Charakter der aktuellen Auseinandersetzungen um dieses Thema erklärt.

Auf Kantons- und Gemeindeebene (Teil 2), wo sich die Einbürgerungsproblematik auf zwei verschiedenen Ebenen (für Ausländer bzw. für kantonsfremde Schweizer Staatsangehörige) stellte, bildete im Gegensatz zum Bund eine restriktive Handhabung den Ausgangspunkt. Sie war bedingt durch das exklusive Selbstverständnis einer Bürgerschaft, die sich traditionsgemäß mehr über die lokale als über die nationale Zugehörigkeit definierte, sowie durch die konkret-monetären Auswirkungen, vor allem durch das mit der Einbürgerung verbundene Anrecht auf Nutzung der Gemeindegüter und auf Fürsorgeunterstützung. Die aus den Primärquellen, vor allem den Einwanderungsdossiers sowie den Akten der lokalen Gremien gearbeiteten Längsschnittuntersuchungen zur Stadt Bern (E. Luce) sowie zu den Kantonen Basel-Stadt (R. Argast) und Genf (A. Gidkov) zeigen vor dem Hintergrund der jeweiligen ökonomischen, politischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen das Spektrum möglicher Handhabung zwischen Restriktion und Liberalität im synchronen Vergleich wie in der historischen Entwicklung bis in die unmittelbare Gegenwart auf. Indem die Autoren Inhalte und Wandlungen der Assimilationsanforderungen detailliert rekonstruieren, erschließen sie die – selbst wieder historischen und keineswegs unveränderlichen – „Repräsentationen, welche die Schweizer Bürger zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils von sich selbst hatten.“ (S. 301) Wie aus den instruktiven Quellenbeilagen (Tafeln I – XVI) unter anderem zu erfahren ist, gehörten dazu mit im Zeitverlauf unterschiedlicher Gewichtung: ökonomische Selbständigkeit und korrekte Weltanschauung, aber auch Gesundheit bzw. Freiheit von Erbkrankheiten, erfolgreiche Anpassung an das Schweizer Klima und die praktische Ausübung einer nicht näher definierten Schweizer Lebensweise inklusive der dazu passenden Ernährungsgewohnheiten – so eine Handreichung für Verwaltungsbeamte noch im Jahr 1968! (Tafel XV) –, selbstverständlich auch die Abgrenzung gegenüber allem Nicht-Schweizerischen und die möglichst weitgehende Aufgabe der Sitten und Gebräuche des Herkunftslands.

Die Untersuchung überzeugt inhaltlich, weil sie konsequent nach dem sozialen und kulturellen Sinn des Einbürgerungsdiksurses fragt, methodisch durch eine ausgewogene Balance zwischen Konstruktivismus und Empirie, zwischen Mentalitätsgeschichte, Diskursanalyse und exemplarischer Rekonstruktion des Verwaltungshandelns. Problematisch erscheinen allerdings die abschließenden „Empfehlungen für die politische Praxis“ (S. 303f.), die aus der historischen Analyse abgeleitet werden. An ihnen zeigt sich nochmals deutlich, in welch starkem Bezug zur aktuellen politischen Debatte der Band steht – und wie sehr offenbar auch die Perspektive der Autoren durch bestimmte „Repräsentationen“ geprägt ist. Sicher wird jeder vernünftige Mensch die Forderung nach einer liberalen Einbürgerungspolitik und einem überprüfbaren, von Willkürmaßnahmen freien Einbürgerungsverfahren begrüßen. Aber unabhängig davon, ob Leser und Rezensenten des Bandes diese Position gutheißen oder nicht: Eine solche Indienstnahme der Geschichte für tagespolitische Positionen, genauer: für die Durchsetzung eines von Offenheit und Toleranz bestimmten Selbstverständnisses der Eidgenossenschaft, geht zu weit. Sie ist nach meiner Ansicht nur ein weiterer Beleg für die zwei Seiten zuvor mit Recht kritisierte „nationalistische Emotionalisierung und Mobilisierung“ (S. 301) mittels des Bürgerrechts, die nun linksliberal-multikulturell gewendet wird und damit plötzlich erlaubt sein soll. Dieser nationalpädagogische Fingerzeig hätte unterleiben können – die kritische Analyse spricht durch ihre große Überzeugungskraft für sich selbst.

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