A. Dörner: Politischer Mythos und symbolische Politik

Titel
Politischer Mythos und symbolische Politik.


Autor(en)
Doerner, Andreas
Anzahl Seiten
421 S.
Preis
DM 76,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Jeffrey Verhey, Archiv der deutschen Sozialdemokratie Friedrich-Ebert-Institut

Wir nehmen die Welt nicht wahr, wie sie ist, wir nehmen sie wahr, wie wir sie uns vorstellen. Diese epistemologische Erkenntnis hat eine kulturgeschichtliche Literatur hervorgerufen, die die Geschichte der unterschiedlichen Wahrnehmungsfilter untersucht: Sprache, Stereotypen, Riten, politischen Mythen u.a. Das ehrgeizige Buch von Andreas Doerner passt in diese kulturgeschichtliche Forschungslandschaft hinein. Doerner versucht in diesem Buch, erstens, eine neue, bessere Definition des Begriffs "politischer Mythos" zu entwickeln, und zweitens, in einem empirischen, historischen Teil die Leistung seines Begriffs zu zeigen.

Der erste Teil des Buchs, "eine ausfuehrliche theoretische Reflexion des Mythos-Begriffs aus politologischer Perspektive", ist eine Tour de force durch die Forschung zum politischen Mythos in den letzten Jahren. Der Autor laesst die wichtigsten Autoren und Themen Revue passieren: Manfred Frank, Hans Blumenberg, Ernst Cassirer, Michel Foucault, Pierre Bourdieu, civil religion, politische Kultur u.s.w. Dieser Teil, eine hervorragende Zusammenfassung einer inzwischen vielfaeltigen Literatur, ist fuer alle, die sich mit politischen Mythen auseinandersetzen, zu empfehlen. Seine Zusammenfassung (S. 44): "Als Fazit der vorangegangenen Ueberlegungen moechte ich festhalten, dass zwar ein breites Spektrum von Anregungen und Vorarbeiten aus der sozial- und kulturwissenschaftlichen Beschaeftigung mit dem Phaenomen des Mythos vorhanden ist, dass jedoch ein ueberzeugender systematischer Theorierahmen zur Analyse politischer Mythen noch immer zu den Desiderata gezaehlt werden muss." Er versucht auf S. 76-77 mit seiner eigenen Definition diese Desiderata zu fuellen: "Mit dem Begriff 'politischer Mythos' ist hier eine spezifische semiotische Gattung gemeint, die auf die Bearbeitung bestimmter Probleme von politischer Kommunikation spezialisiert ist. Politische Mythen sind narrative Symbolgebilde mit einem kollektiven, auf das grundlegende Ordnungsproblem sozialer Verbaende bezogenen Wirkungspotential. Es handelt sich um komplexe politische Symbole, deren Elemente jeweils narrativ entfaltet sind".

Nach einer solchen Tour de force durch die Forschung ist diese Definition enttaeuschend, da sie nicht wesentlich ueber die Definitionen, die man in der Literatur bereits findet, hinausgeht. Mythen sind kollektive, sinnstiftende Narrativen, die die "politische Realitaet formt und veraendert". (S. 78) Auch fehlt in dieser Definition ein wichtiger Aspekt eines Mythos, naemlich das, was man mit Glaeubigkeit oder Religiositaet umschreibt. Zwar versucht der Autor in den naechsten Seiten auch diesen Aspekt des Mythos zu beleuchten, aber sein Hauptinteresse liegt in dem, was der Mythos sozial leistet: "Der Mythos ermoeglicht allen an der Kommunikation beteiligten Individuen, das komplexe Geflecht des sozialen Verbandes, dem sie angehoeren, als eine handlungsfaehige und sinnvolle, gleichsam historisch 'gemeinte' Einheit wahrzunehmen". (S. 93) Mit anderen Worten, erst ein politischer Mythos versetzt eine Gruppe in die Lage, mit einer ganz einzigartigen Tiefenschaerfe von "Wir" zu sprechen.

Dieser erste theoretische Teil ist eine Leistung an und fuer sich. Im zweiten, empirischen Teil bietet Doerner dem Leser die Chance, seine Begrifflichkeit zu pruefen. Er untersucht die "Mobilisierung" und Vergemeinschaftung des Volkes durch politische Mythen sowie den "innenpolitischen Kampf" um politische Mythen. Diese synchronen Schnitte behandeln ungefaehr die Zeit von 1800-1870; 1870-1918 und 1918 bis 1945.
In Kapitel 2, "Die franzoesische 'Kulturrevolution' als Umbruch der symbolischen Politik" zeigt Doerner, aufbauend auf die Arbeit von Lynn Hunt, dass (S. 109): "Die symbolische Politik der Franzoesischen Revolution ... ein Projekt von zuvor ungekannter Radikalitaet" ist, das die politische Kultur der Moderne tiefgreifend praegt. In Kapitel 3 untersucht er die "Geburt der deutschen Symbolpolitik aus dem Geiste des Volkskrieges". Er setzt voraus, dass der Volkskrieg "auf den politischen Mythos als Medium der Mobilisierung" angewiesen ist (S. 111). Dies ist der Fall, weil erst der Mythos dem "Volk" erlaubt, sich selbst vorzustellen: "Es gibt also einen Bedarf fuer eine anschauliche mythische Narration, mit der die Mobilisierung der Kollektivaktanten auch ueber die engeren gebildeten Zirkel hinaus 'ins Bild gesetzt' werden kann. Dieser Bedarf wird mit dem Mythos von Hermann dem Cherusker bedient". (S. 128) Er beschreibt die Versuche seitens der Propagandisten wie Arndt und Jahn, diesen Bedarf zu bedienen, sowie die Ausarbeitung des Hermannmythos in der Lyrik der Befreiungskampagne, in Kleists Herrmannschlacht, und in der Denkmalkunst der Zeit.

In Kapitel 4 untersucht Doerner den "Mythos als Medium der Vergesellschaftung im Kaiserreich". Er sieht im Hermannmythos (S. 213) "den zentralen Gruendungsmythos des Reiches", und er beschreibt die Auslegung des Mythos in der Geschichtsschreibung, die aesthetische Inszenierung des Mythos, den Bau des Hermanndenkmals, die Feste am Hermanndenkmal, u.s.w. In Kapitel 5 behandelt er den "Mythos als Medium des symbolischen Buergerkriegs" in der Weimarer Republik. Er betrachtet die Geschichte dieser Jahre unter anderem als einen "symbolischen Buergerkrieg", den die Demokraten letztendlich verlieren. Hier geht es allerdings weniger um den Hermannmythos als um symbolische Politik ueberhaupt.

Erfuellt der Autor im empirischen Teil seine im theoretischen Teil selbstgestellten Aufgaben? Der empirischer Teil enthaelt eine Fuelle von Informationen, von faszinierenden Details und bringt manche neuen Einblicke in die Geschichte jener Zeit. Vor allem die Geschichte um den Bau des Hermanndenkmals ist ein Musterbeispiel dafuer, wie man die unterschiedlichen Straenge und Ebenen einer solchen Geschichte in der Kultur ihrer Zeit deutet. Aber der Autor geht in seinen Schlussfolgerungen oft ueber das hinaus, was er mit seinem Beweismaterial zeigen kann. Dass viele fuehrende deutsche Politiker und Generaele waehrend der Befreiungskriege bewusst eine symbolische Politik als Teil ihrer Mobiliserungsstrategien betrieben haben, ist eine interessante Perspektive. Aber ist es wirklich so (S. 198): "Das Projekt einer Mobilisierung durch symbolische Politik gelingt in der Zeit der Befreiungskriege in ausserordentlich grossem Masse. Aus Untertanen werden vielerorts hochmotivierte Staatsbuerger"? Die grundlegende Arbeit von Rudolf Ibbeken (Preussen 1807-1813. Staat und Volk als Idee und Wirklichkeit, Koeln 1970), die gegen diese These spricht, weisst er in einer Fussnote zurueck (S. 124-125), ohne ueberzeugende Gruende anzugeben. Das grundlegende Problem an dieser Stelle ist, dass Doerner sich auf die Autoren von Mythen und deren Motive, konzentriert. Er versucht sein Blickfeld zu erweitern, in dem er unterschiedliche Medien untersucht, aber er geht auch hier kaum auf die Rezeption der Mythen ein. Sicherlich ist die Rezeptionsgeschichte von politischen Mythen ein weites und schwieriges Feld. Aber wenn er Behauptungen ueber deren Wirkung machen will, muss er sich in der Rezeptionsgeschichte betaetigen.

Die Betonung der Produzentenseite ist ein weiteres Problem bei der Beschreibung des Symbolkampfes waehrend der Weimarer Republik. Doerner behauptet, S. 55: "Die Erosion der Weimarer Republik ist nicht zuletzt eine Folge der fehlenden Symbolpolitik von seiten der Demokraten bei gleichzeitiger Veraechtlichung der Republik, ihrer Institutionen und Symbole durch linke wie rechte Diskurstaktiker". Aber, wie der Autor selber zeigt, die Weimarer Republikaner waren sich durchaus der Bedeutung der Emotionen in der Politik bewusst und versuchten, demokratische Mythen und Symbole aufzustellen, um die Menschen mit diesem System zu verbinden. Warum waren sie weniger erfolgreich als die Rechten? Seine Antwort: "Der Hauptgrund fuer diesen Zustand mangelnder symbolischer Souveraenitaet ist darin zu sehen, dass die Republik und die sie tragenden Kraefte nicht in der Lage sind, durch symbolische Politik ein vor allem auch emotionale wirksames Loyalitaetsmanagement aufzubauen". (S. 299) Diese Antwort setzt voraus, dass es moeglich gewesen waere, durch "symbolische Politik" ein Demokratieverstaendnis im Volke zu erzeugen. Aber das Problem mit der Mythenbildung ist, wie Sabine Behrenbeck in ihrem hervorragendem Buch bemerkte, "Mythen werden nicht erschaffen, sondern ueberliefert" (Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, Greifswald 1996, S. 41). Fuehrende Sozialdemokraten der Zeit wie z.B. Carl Severing, Preussischer Innenminister, haben damals argumentiert, in einer latent anti-demokratischen politischen Kultur koennten die Demokraten den symbolischen Buergerkrieg nicht gewinnen. Sie sollten auch nicht versuchen, sich ueberhaupt daran zu beteiligen. Statt dessen sollten sie hoffen, dass sich die Deutschen durch einen wirtschaftlichen und politischen Erfolg an dieses System langsam gewoehnen wuerden.

Was vermag ein politischer Mythos zu leisten? Welche Bedeutung haben politische Mythen. Im letzten Absatz des Buches warnt der Autor, dass der Mangel an politischen Mythen nach 1945 eine Gefahr fuer die Bundesrepublik darstellt: "der genuin politische Bereich in der Bundesrepublik (ist) durch ein symbolisch-aesthetisches Vakuum gekennzeichnet," und dieses Vakuum koennte "zum Problem werden ... im neuen Deutschland". Hat aber nicht die Geschichte der Bundesrepublik Weimarer Demokraten wie Carl Severing doch recht gegeben? Politische Mythen sind nicht immer populaer, werden nicht immer gebraucht und sind nicht alle gleich. In der spaeten Weimarer Republik waren politische Mythen, so Sabine Behrenbeck, weniger eine Beschreibung des "Wir" als ein Mittel, um der Bevoelkerung zu suggerieren, dass mit der NSDAP ein Aufschwung aus der Krise moeglich sei: "Die Glaeubigen wiederum sind empfaenglich fuer den Mythos, weil sie von ihrem Glauben Vorteile erwarten" (Behrenbeck, S. 45). Sicherlich brauchen Gruppen Narrative, um sich selbst vorzustellen, sich selbst wahrzunehmen. Aber manchmal brauchen Gruppen auch Mythen, weil sich die Glaeubigen vom Glauben Vorteile erhoffen. Der Autor haette die Unterschiede zwischen Narrativen, die man vielleicht eher als Legenden, als heimeligen Mythen beschreiben kann, und transzendentalen Narrativen, Narrativen, an die man glaubt, mehr beruecksichtigen sollen.
Diese Kritik soll vor allem zeigen, dass es sich lohnt, sich mit diesem Buch auseinanderzusetzen. Die Zusammenfassung der theoretischen Literatur zum politischen Mythos ist vorbildlich. Dass der Autor selber in einem zweiten, empirischen Teil versucht, seine Begrifflichkeit an der Empirie zu pruefen, zeugt von einem Mut, den viele Theoretiker nicht besitzen. Die Fragen, die er an politische Mythen stellt, sind die richtigen Fragen. Und in der Auseinandersetzung mit seinen Antworten kommen alle, die sich mit diesem Thema beschaeftigen, gut voran.

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