Einführungen in zentrale Themen der osteuropäischen Geschichte

: Geschichte der Ukraine. . Ditzingen 2010 : Reclam, ISBN 9783150187296 256 S. € 7,00

: The Soviet Union. A Very Short Introduction. Oxford 2009 : Oxford University Press, ISBN 978-0-199-23848-4 168 S. € 9,99

: The Caucasus. An Introduction. Oxford 2010 : Oxford University Press, ISBN 978-0-195-39977-6 272 S. £ 12.99

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Schnell, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Dicke Bücher schreiben kann jeder – kurz, aber prägnant in große historische Themen einzuführen, ist eine schwierige Aufgabe, der nicht jeder gewachsen ist und für die sich manche Gelehrte leider zu schade sind. Kerstin S. Jobst, Stephen Lovell und Thomas de Waal haben sich dieser Herausforderung gestellt und Einführungen zu verschiedenen Themen der osteuropäischen Geschichte vorgelegt.

Jobst hat eine Geschichte der Ukraine geschrieben, die sich in ihrer Anlage angenehm von anderen Texten derselben Gattung abhebt. Sie beginnt ihre Darstellung nicht wie üblich mit den vermeintlich mittelalterlichen Wurzeln ukrainischer Staatlichkeit und Kultur, sondern geht von der Gegenwart aus und hebt den diskursiv-konstruktivistischen Aspekt der ukrainischen Nationsbildung hervor. Ohne in der teilweise verbissen geführten Diskussion Stellung zu beziehen, deutet sie auf die Schwierigkeiten hin, die entstehen, wenn man eine kontinuierliche Geschichte „der Ukrainer“ und „der Ukraine“ erzählen will. Stattdessen betont Jobst Brüche, Diversität und Kontingenz der Entwicklung. Sie spricht von den „verschiedenen ukrainischen Ländern“ und macht klar, dass die Vergangenheit nicht mit einem teleologischen Narrativ gefasst werden kann. Eigentlich sind das Selbstverständlichkeiten – sie haben sich allerdings in manchen Kreisen noch nicht herumgesprochen oder werden geflissentlich ignoriert, wie dies etwa in der nationalistisch gesinnten Historiographie der Ukraine, aber auch in der ukrainischen Diaspora in Nordamerika und schließlich auch in weiten Kreisen der deutschsprachigen Ukrainologie der Fall ist.

Insofern könnte man kritisieren, dass Jobst nicht ganz konsequent ist, wenn sie der Vormoderne dann doch wieder relativ viel Raum in ihrer Darstellung einräumt und etwa die Geschichte der Kiewer Rus nicht nur als Referenzpunkt gegenwärtiger Diskussionen, sondern durchaus wieder als Vorgänger des heutigen ukrainischen Staates behandelt. Überhaupt zeichnet sich der Text durch ein gewisses epochales Ungleichgewicht aus. Die sowjetische Epoche, vor allem auch die Zeit nach 1945, hätte sicher mehr Gewicht verdient. Denn es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die Basis der ukrainischen Staats- und Nationsbildung in die Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg fällt, vor allem wenn man breitere Bevölkerungsschichten und nicht nur intellektuelle Eliten in den Blick nimmt. Mäkeln könnte man auch am Titel des Buches, denn Jobst bietet allenfalls eine Einführung – mehr nicht; und das hätte sich auch im Titel niederschlagen dürfen. Das ändert aber nichts daran, dass Jobst einen Beitrag zur Geschichte der Ukraine vorgelegt hat, dem viele Leser zu wünschen sind.

Stephen Lovell stellte sich dem Unterfangen, eine atemberaubend kurze Einführung in die Geschichte der Sowjetunion zu schreiben. Die unvermeidlichen Probleme und Defizite, die sich bei dem Versuch ergeben, dieses Thema auf weniger als hundert Seiten einzufangen, sind eher dem Verlag als dem Autor anzulasten.

Lovell erzählt die Geschichte der Sowjetunion nicht chronologisch, sondern systematisch entlang von sechs Sichtschneisen: 1. Sinnstiftung und Identität, 2. Terror und Gewalt, 3. Soziale Ungleichheit, 4. Massengesellschaft, 5. Imperium, 6. Außenbeziehungen. Er konzentriert sich in diesen Bereichen auf Widersprüche und Paradoxien – ein Kunstgriff, der seiner Darstellung große Griffigkeit verleiht, ohne allzu sehr in die Tiefe gehen zu müssen. Das atemberaubende Tempo, in dem man hier durch die Dekaden geführt wird, hat noch einen weiteren Vorteil, denn so wird auf einen Schlag deutlich, was in vielen anderen Darstellungen manchmal unter den Tisch fällt: die große Dynamik des politischen und sozialen Systems der Sowjetunion.

Hinsichtlich der Interpretation der sowjetischen Geschichte bezieht Lovell klar und pointiert Stellung. Er erzählt keine Geschichte von Aufstieg und Verfall. Die Sowjetunion ist für ihn kein „failed state“ und er möchte nicht so sehr über ihr Scheitern als vielmehr darüber sprechen, wie und warum die sowjetische Gesellschaft trotz aller Probleme lange Zeit funktionierte. Des Weiteren verwahrt sich Lovell gegen eine totalitaristische top-down-Interpretation der sowjetischen Geschichte, nicht zuletzt auch für den Stalinismus. Er legt großen Wert auf die Art und Weise, in der die Bevölkerung die Politik der Bolschewiki affirmierte, sie aufnahm und ihr entgegenkam – insofern ist seine Darstellung revisionistisch geprägt. Man könnte kritisieren, dass Lovell seiner Einführung eine keineswegs unumstrittene Forschungsposition wie selbstverständlich zugrunde legt, ohne auf andere Interpretationen einzugehen. Insgesamt aber ist ihm mit seiner „Short Introduction“ ein kleines Meisterwerk gelungen, das vor allem Studierenden sehr ans Herz zu legen ist. Am Ende des Buches sind bibliographische Hinweise auf die wichtigste englischsprachige Literatur zu den jeweiligen Themen gegeben. Wer in das Studium der sowjetischen Geschichte einsteigen will, findet hier eine gut lesbare, kurzweilige und intelligente Einführung in die Materie.

Thomas de Waal bietet eine Einführung in die Geschichte des Kaukasus – genauer gesagt geht es dabei um die südliche Region, das die heutigen Staatsgebiete Georgiens, Armeniens und Aserbaidschans umfasst. Dieser Hinweis ist insofern wichtig, als der Leser in de Waals Darstellung nichts über die nordkaukasische Region und Tschetschenien erfährt, woran viele Menschen heute zuerst denken, wenn vom „Kaukasus“ die Rede ist. Des Weiteren liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf der jüngsten Vergangenheit – hier wiederum erfahren die Leser am meisten über Georgien. Daher verspricht der Titel in gewisser Weise mehr als das Buch hält. Das Umschlagbild des Buches, das spielende Kinder vor ausgebrannten Häusern zeigt, trifft den Inhalt des Buches eher und „Konfliktregion Südkaukasus“ wäre ein treffenderer Titel.

Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf dem 20. Jahrhundert. Etwa die Hälfte des Buches ist der Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion gewidmet. Der Leser soll vor allem verstehen, was sich gegenwärtig im südlichen Kaukasus abspielt und warum. Die Vorgeschichte kommt deshalb kurz, aber nicht zu kurz. Vielmehr gelingt es de Waal sehr gut, die selbst für Experten mitunter verwirrende Vielfalt dieser Region und ihrer Kulturen in groben Strichen zu skizzieren. Dabei wird unter anderem klar, wie wichtig die im 19. Jahrhundert beginnende russische Herrschaft für die nationale Konsolidierung in der Region war. In noch höherem Maße galt das für die sowjetische Epoche, die nicht nur Terror, Mord und Leid über den Kaukasus brachte, sondern auch die Nationsbildungsprozesse in Georgien, Armenien und Aserbaidschan zu einem vorläufigen Abschluss brachte. Nach 1953 entwickelte sich die Sowjetunion dann zu jenem multinationalen Hybrid-Staat, der in den drei Kaukasus-Republiken seinen lebendigsten und authentischsten Ausdruck fand.

Nicht nur das Zarenreich lernte viele imperiale Lektionen im Kaukasus, auch die Bolschewiki schufen das multinationale Sowjet-Imperium weitgehend nach ihren kaukasischen Erfahrungen – so war es denn nur folgerichtig, dass der erste Schritt zum finalen Kollaps des Imperiums wiederum im Kaukasus getan wurde: im Jahre 1988, als in Stepanakert der Konflikt um Nagorny-Karabach begann. Die Darstellung der postsowjetischen Zeit in Armenien und Aserbaidschan wird ganz von diesem Konflikt, dem sich anschließenden Krieg und dem Waffenstillstand seit 1994 dominiert. So zentral Karabach auch für beide Seiten ist, kann man doch fragen, ob alles andere, was man über diese beiden Staaten, ihre Gesellschaften und Kulturen sagen könnte, hinter dieser Konfrontation verschwinden muss. Es mutet ein bisschen seltsam an, dass Armenien und Aserbaidschan keine eigenen Kapitel gewidmet sind, Georgien dafür gleich zwei.

De Waal schildert vor allem die Konflikte in der Region, sowohl die zwischen- als auch die innerstaatlichen. Aus seiner Darstellung kann man unter anderem lernen, wie wenig der Verweis auf Ethnizität, Religion oder Tradition hilft, um die gegenwärtige Situation in den drei Kaukasus-Republiken zu verstehen. Nicht traditioneller Hass, sondern postimperiale und aktuelle politische und ökonomische Faktoren bedingen und strukturieren die Konflikte im Südkaukasus. Wie wenig althergebracht sie sind, erhellt auch die Tatsache, dass die vermeintlich traditionell verfeindeten Nationen erst in sowjetischer Zeit verfestigt wurden. Als treibende Kräfte der Konflikte erweisen sich Herrschaftseliten und staatliche Institutionen – nicht unterschiedliche Kulturen und Bevölkerungen, die vermeintlich nicht miteinander in Frieden leben können. De Waal gibt Hinweise darauf, dass ethnische und religiöse Differenzen kaum eine Rolle spielen, solange Klein- und Alltagsökonomie funktionieren. Erst wo Ressourcen knapp oder künstlich verknappt werden, beginnen Glaube und Volk eine Rolle zu spielen, weil sie dann dazu dienen, konkurrierende Gruppen zu definieren, und helfen „Eigenes“ und „Fremdes“ zu konstruieren. Dazu kommt dann noch jene Sorte Mensch, die sich in Krisen wie Fische im Wasser fühlen und die Gewalt auch dorthin tragen, wo sie aus dem Alltag der Bevölkerung heraus nie entstanden wäre. Wie so oft und andernorts ging auch im Kaukasus die Gewalt nicht von den einfachen Menschen aus, die gleichwohl den Preis dafür zahlen mussten. Gerade im Kaukasus lassen sich die dunklen Seiten von Staats- und Nationsbildungsprozessen eindrucksvoll studieren.

Abschließend wirft de Waal einen Blick in die Zukunft des Kaukasus. Es sei wichtig, dass sich die südkaukasischen Staaten als Mitglieder einer Region sähen und sich auf ihre gemeinsamen Interessen besännen. Noch aus der sowjetischen Zeit seien hier Potentiale vorhanden, die sich in Gegenwart und Zukunft nutzen ließen. Dem wird nicht jeder zustimmen wollen, denn die Besonderheit der sowjetischen Zeit bestand gerade in der Existenz eines übermächtigen Schiedsrichters, den es jetzt nicht mehr gibt. Und die Probleme der Gegenwart deuteten sich an, sobald das Zentrum Schwäche zeigte. Mag sein, dass die südkaukasischen Völker im imperialen Kontext letztlich sicherer und friedlicher lebten, aber das Imperium ist Vergangenheit und wird nicht wiederkommen.

Alle drei hier besprochenen Bücher führen kurz und gekonnt in schwierige Materien der osteuropäischen Geschichte ein. Jobst bietet dabei einen erfrischenden, wenn auch überfälligen Ansatz. Lovell macht aus der Not eine Tugend und bringt dabei Aspekte der sowjetischen Geschichte zur Geltung, die in Detailstudien eher unter den Tisch fallen. De Waal gelingt es in seiner Darstellung, eine auf den ersten Blick unübersichtliche Gegenwart auf die wesentlichen Determinanten herunterzubrechen. Wer sich in die Geschichte der Ukraine, der Sowjetunion oder des Südkaukasus einlesen möchte, ist bei den genannten Werken an der richtigen Adresse.

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