F. Rexroth (Hrsg.): Zur Kulturgeschichte der Gelehrten

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Titel
Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter.


Herausgeber
Rexroth, Frank
Reihe
Vorträge und Forschungen 73
Erschienen
Ostfildern 2010: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
343 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Schwarz, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Nachdem in den 1980er-Jahren die Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen den im Hochmittelalter aufkommenden Universitätsstudien und den tief greifenden sozialen Veränderungen vom 12. bis zum 15. Jahrhundert die klassische Universitätsgeschichte als eine Geschichte primär von Institutionen und Disziplinen abgelöst hatte1, hat sich das auf die Themenfelder ‚Bildung‘ und ‚Wissen im Mittelalter‘ bezogene Erkenntnisinteresse der Mediävistik noch einmal entscheidend gewandelt. Neue Möglichkeiten zum Erkennen des Funktionierens von Personennetzen sowie eine allmählich verfeinerte komparatistische Methodik öffneten die Türen so weit, dass auch die breiten kulturwissenschaftlichen Strömungen, die unter den allbekannten Begriffen wie ‚Kommunikation‘, ‚symbolische Kommunikation‘, ‚Ritualforschung‘, ‚Medienanalyse‘ usw. den geisteswissenschaftlichen Diskurs der letzten zwei bis drei Jahrzehnte maßgeblich bestimmt haben, die Themenfelder umgestalten konnten. Zu wichtigen Impulsgebebern gehörten ferner die Humanismusforschung – die durch intensive Einbeziehung der Diffusionswege eine weitgehende Neuausrichtung erfuhr –, die kontextuelle Biografik sowie ganz generell die Öffnung der Mediävistik zu anderen Fächern, hier besonders zur Judaistik und zu den Islamwissenschaften. Das Ende der linkages scheint angesichts der (möglicherweise gerade für Gelehrte selbst) enormen Attraktivität des Gegenstandes kaum absehbar. Der hier zu besprechende, von Frank Rexroth herausgegebene Band der Reihe „Vorträge und Forschungen“, der auf die Herbsttagung des Konstanzer Arbeitskreises 2006 zurückgeht, legt auf vielfache Weise von dieser Attraktivität Zeugnis ab. Er geht aus von der Existenz einer spezifischen, als soziale Struktur zu begreifenden Gelehrtenkultur, die sich im Europa des Hoch- und Spätmittelalters ausgebildet habe, und will nach der Genese dieser Kultur, ihren besonderen Bedingungen, Formen, Interaktionen und Repräsentationen fragen.

Der bei aller Solidität der Beiträge im Ganzen eher schlaglichtartige als systematische Charakter des Bandes spricht angesichts des Forschungsstandes nicht gegen ihn. Kaus Ridder betont in seinem Beitrag über „Weisheit, Wissen und Gelehrtheit im höfischen Roman“ (S. 15–47), dass Gelehrte als Absolventen oder Lehrende bedeutender Schulen oder Universitäten in deutschen Romanen des 13.–15. Jahrhunderts nur als Ausnahmefall begegnen; gleichwohl sei gelehrtes Wissen in die Texte eingeflossen und sei im Kontext des höfischen Erzählens auch explizit zum Thema geworden, was der Autor an einer Reihe von Beispielen zeigen kann, die unter anderem auf anschauliche Weise Interferenzen und Spannungen verschiedener Wissensformen demonstrieren. Rainer Christoph Schwinges – neben Peter Moraw der Hauptrepräsentant der grundlegenden Hochschulfrequenzstudien der 1980er- und 1990er-Jahre – behandelt „Universität, soziale Netzwerke und Gelehrtendynastien im deutschen Spätmittelalter“ (S. 47–70) und stellt fest, dass deutsche Universitäten und ihr gelehrtes Personal stärker als anderswo in Europa mit unterschiedlichen Rangsystemen konfrontiert gewesen seien. Die Universitäten hätten versucht, die Systeme in Einklang zu bringen, indem jedem Mitglied der Gelehrtengemeinschaft ein Platz nach Gebühr zugewiesen worden sei. In diese „Gebühr“ seien die persönlichen Netzwerke – bei unausgesetzter Gefahr persönlichen Scheiterns – „eingebunden“ worden. Wolfgang Eric Wagner wirft in seinem Beitrag über „Verheiratete Magister und Scholaren an der spätmittelalterlichen Universität“ (S. 71–100) unter anderem die Frage auf, warum die uxorati an den mittelalterlichen Universitäten unerwünscht waren, was primär mit dem Wunsch der nach einem friedlichen Zusammenleben mit den Bürgern der Stadt im Sinne einer Zuordnung zum Rechtskreis der Kirche beantwortet wird. Tradierte (genossenschaftliche) universitäre Lebensformen hätten, so Wagner, weiterhin eine wichtige Rolle für die Persistenz der Einstellung gespielt; erst der Niedergang des gemeinschaftlichen Kollegien- und Bursenlebens habe im Zusammenhang mit dem Übertreten des Heiratsverbots zu einem (in seinen Ursachen noch weiter zu untersuchenden) Wandel geführt. Während Jacques Verger („Les bibliothèques des professeurs comme témoignages de leur culture et de leurs méthodes de travail, France, XIIIe-XVe siècles“, S. 101–116) Orte und Funktionen von Bibliotheken innerhalb der Gelehrtenkultur des französischen Spätmittelalters umreißt, problematisiert Harald Müller in seinem Beitrag „Specimen eruditionis. Zum Habitus der Renaissance-Humanisten und seiner sozialen Bedeutung“ (S. 117–151) auf umfassende Weise den facettenreichen und wandelbaren Begriff des Humanisten. Müller unterstreicht dabei das Spielerische, ja Artifizielle der „Bewegung“, die sich einer strikten Definition konsequent entziehe, arbeitet jedoch auch heraus, dass es sich bei der von „den Humanisten“ ausgeübten Variante gelehrter Praktiken in hohem Maße um eine Kultur des Austausches gehandelt habe, innerhalb derer die bewusste Demonstration von Fähigkeiten und Interessen eine besondere Bedeutung zugekommen sei.

Dorothea Weltecke beschäftigt sich in ihrem Beitrag „Quod lex christiana impedit addiscere. Gelehrte zwischen religiöser Verdächtigung und religionskritischer Heroik“ (S. 153–184) mit mittelalterlicher Gelehrsamkeit im Aufklärungs- und Rationalismusdiskurs, wobei die Autorin die lebhaften, oft hitzigen Debatten auf differenzierte Weise zwischen den Polen „philosophische Häresie“ und „mittelalterliche Argumentationslosigkeit gegen das Christentum“ einordnet. Ausgehend von der „Erosion des Gelehrtenzölibats“ betrachtet Gadi Algazi („‚Habitus‘, ‚familia‘ und ‚forma vitae‘“, S. 185–217) die Lebensweisen mittelalterlicher Gelehrter in muslimischen, jüdischen und christlichen Gemeinden auf vergleichende Weise, wobei die Gegenüberstellung muslimischer und jüdischer Gemeinden deutlich mache, dass der Ausschluss von Frauen aus der Wissenschaft und die Ablehnung des Familienlebens nicht ohne Weiteres mit der Vorherrschaft eines religiösen Ethos erklärt werden könne. Im Blick auf das Ganze wird von Algazi weiterhin stark das Zusammenspiel zwischen Familienhaushalten einerseits und akademischen Institutionen, Akademien und Sozietäten andererseits betont.

Marian Füssel holt in seinem Beitrag „Rang, Ritual und Wissen“ (S. 219–241) die lange Zeit eher auf der Ebene von Herrschern und Adelsgesellschaften angesiedelte „symbolische Kommunikation“ in die Welt der Gelehrten an der spätmittelalterlichen Universität und weist dieser dort einen nicht unwesentlichen Teil zu; erst die performativen Handlungen wie Disputation und Promotion hätten die Akteure zu vollwertigen Mitgliedern der akademischen Gemeinschaft gemacht. Und während Thomas Wetzstein in seinen „Bemerkungen zu den distinktiven Merkmalen eines mittelalterlichen Gelehrtenstandes“ (S. 243–296) nach Rolle, Selbstverständnis und Wahrnehmung der mittelalterlichen Juristen als Gelehrtengruppe fragt und dabei einerseits die jenseits intellektueller Glasperlenspiele angesiedelte gesellschaftliche Bedeutung dieser Gruppe hervorhebt und andererseits auf die oftmals daraus resultierende besondere Selbst- und Fremdwahrnehmung eingeht, stellt Andrea von Hülsen-Esch über „Gelehrte in Miniaturen spätmittelalterlicher Handschriften“ (S. 297–321) fest, dass sich die soziale Relevanz der Kleidung unmittelbar sowohl in den Verordnungen von bestimmter Kleidung zu festlichen Anlässen als auch in den – ihrem Beitrag in reicher Zahl beigegebenen – bildlichen Darstellungen äußere.

Fast alle Autoren des äußerst inspirierenden Bandes, der von Klaus van Eickels auf eine ebenso stringente wie gedanklich weiterführende Weise zusammengefasst (S. 321–332) und von einem Register der Personen und Orte umfassend erschlossen wird, betonen das noch Vorläufige, Experimentelle ihrer Untersuchungen. Möglicherweise hieße es, der Kulturgeschichte im Allgemeinen und der Gelehrtengeschichte im Besonderen Unmögliches aufzubürden, wenn zukünftige Erfassungen des Gegenstandes hauptsächlich eine Systematik der mittelalterlichen Gelehrtenkultur versuchen wollten – gerade die Verbindung sozialhistorischer mit kulturhistorischen Fragen macht den Reiz dieses Bandes aus. Auch hielte das – jenseits aller Normen – grundsätzlich Individuelle, ja Individualistische von Gelehrtenexistenzen ein solches Korsett wohl kaum aus. Das Ideal der Spezies war, ist und bleibt das der „Vögel in schrankenlosem Flug“2, auch nach Innen gewendet. Doch könnten, von den vielfältigen Ansätzen dieses Bandes aus weiterdenkend, in Zukunft Systematisierungen partieller Themengebiete des Komplexes das Forschungsobjekt weiter bringen als zuvor.

Anmerkungen:
1 Vgl. das Vorwort von Helmut Beumann zu: Johannes Fried (Hrsg.), Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, Sigmaringen 1986, S. 7.
2 Michael Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt 1050–1250 (Handbuch der Geschichte Europas, Bd. 3), Stuttgart 2002, S. 280.

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