Cover
Titel
Behind the Berlin Wall. East Germany and the Frontiers of Power


Autor(en)
Major, Patrick
Erschienen
Anzahl Seiten
321 S.
Preis
€ 72,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marianne Howarth, School of Arts and Humanities, Nottingham Trent University

Ein besonderes Merkmal der gegenwärtigen britischen DDR-Historiografie ist ihr Fokus auf die „Geschichte von unten“. Autoren wie Paul Betts, Mary Fulbrook, Josie McLellan und Jan Palmowski haben sich mit Aspekten der Alltagsgeschichte der DDR befasst und dadurch einen wesentlichen Beitrag zum besseren Verständnis des real existierenden Sozialismus geleistet.1 Einen erfahrungsgeschichtlichen Blickwinkel nimmt nun auch Patrick Major ein, Professor für moderne deutsche Geschichte an der Universität Reading. Sein umfassendes Werk über die Geschichte der Berliner Mauer und deren Bedeutung für das Verhältnis der DDR-Bevölkerung zu ihrem Staat wird von ihm selbst als „an everyday history of high politics“ (S. 10) charakterisiert.

Weniger die bereits gut aufgearbeitete Geschichte der ‚hohen Politik‘ – also der staatlichen Entscheidungsprozesse und der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die zum Mauerbau (und zum Mauerfall) führten – als die Alltagsgeschichte(n) stehen dementsprechend im Mittelpunkt von Majors Buch. In seiner Einleitung rechtfertigt der Autor diesen Ansatz mit Nachdruck: „By bringing ordinary people more firmly back to centre stage [...] and investigating the impact of high politics at the grass roots, we may better understand the human dimensions of the Wall.“ (S. 8) Major sieht es als an der Zeit an, die Erfahrungen der DDR-Bevölkerung in den Vordergrund zu stellen, die zu lange vernachlässigt worden seien (S. 13).

Was dieses Buch auszeichnet, ist der äußerst kenntnisreiche Gebrauch von DDR-Archivquellen. Sie dokumentieren die Reaktionen, Meinungen und auch Beschwerden von Funktionären und der Bürger und erlauben detaillierte und facettenreiche Einsichten in die Bedeutung und Wahrnehmung der politischen Entscheidungen auf der persönlichen Ebene. So zitiert Major beispielsweise aus dem Brief eines Arztes vom Juni 1958, der seine Entscheidung, in den Westen zu gehen, mit der penetranten Politisierung aller Lebensbereiche begründete: „the incessant hammering home of political theses in words and writing, films and books and even work conferences.“ (S. 68) Weiter führte er aus: „It is the constraint of genuine free intellectual activity by scientists and university lecturers, the diversion from our proper tasks, so important for the public [...]. It is the lack of a feeling of freedom, replaced by a caged sensation.” (ebd.) Zusätzlich nutzt Major Film und Literatur als Quellen, um die erfahrungsgeschichtliche Perspektive um eine weitere Dimension zu ergänzen.

Das Buch ist in drei Hauptteile gegliedert. Chronologisch werden die Vorgeschichte des Mauerbaus, das Leben hinter der Mauer sowie ihr Fall und die Erinnerung an sie thematisiert. Im ersten Teil analysiert Major die Auswirkungen der „doppelten“ Krise der DDR-Wirtschaft einerseits und der internationalen politischen Krise um Berlin andererseits auf die Bevölkerung der DDR. An welche Grenzen stieß die Staatsmacht angesichts der Krise? Wie war es für die SED möglich, die Bevölkerung von der Überlegenheit des Sozialismus zu überzeugen oder für Diskussionen über internationale Politik zu gewinnen, wenn Grundfragen der Versorgung ungelöst blieben? Im Kontext der offenen Grenze zum Westen war eine Antwort auf diese Frage die Flucht aus der Republik, also die Exit-Option im Sinne Albert O. Hirschmans. Major untersucht detailliert die unterschiedlichen Faktoren, die zu dieser Entscheidung führen konnten – seien sie situationsbedingt, zum Beispiel aus Gründen der Familienzusammenführung, oder politisch bzw. ökonomisch motiviert. Persönliche Erfahrungen werden hier in den Kontext extensiver statistischer Daten zur Republikflucht (zum Beispiel Alter, Geschlecht, soziale Herkunft, formale Bildung) gesetzt und liefern so ein vielschichtiges Bild der Realität der doppelten Krise nicht nur für die Republikflüchtigen, sondern auch für den Staat und die in der DDR Gebliebenen. Für die zuletzt genannte Gruppe bot diese Situation Möglichkeiten zur Verhandlung über die Bedingungen, unter denen man zum Bleiben bereit sei bzw. aus dem Westen zurückzukehren. Dies führte zu weiterer Unzufriedenheit unter den Bevölkerungsgruppen, die nicht privilegiert behandelt wurden. Major bemerkt dazu: „Rather than encouraging an egalitarian society, the open border led to an endless round of negotiations of power at the local level, in which there always seemed to be an exception to every rule.“ (S. 87f.) Der erste Teil endet mit einem kurzen, aber sehr aufschlussreichen Abriss der Kontrollen an den DDR-Grenzen zur Bundesrepublik und zu Westberlin durch die Volkspolizei sowie der Behandlung der Grenzgänger, der Rolle des Kinos und des Radios im Propagandakrieg, der Maßnahmen der SED, die Republikflucht weiter zu kriminalisieren, und der Entwicklungen im Sommer 1961, die zum Mauerbau führten.

Der zweite Hauptteil über das Leben hinter der Mauer beginnt mit Informationen aus den Archiven über die Reaktionen der Bevölkerung zum Zeitpunkt des Mauerbaus. Major beschreibt die Breite der unmittelbaren Reaktionen unter der Bevölkerung – Unglaube, Ablehnung, Unterstützung – und führt Beispiele verschiedener Protestaktionen auf lokaler Ebene in den folgenden Tagen und Wochen an. Die SED ergriff eine Reihe von Maßnahmen, um in der neuen Situation ihre Machtposition zu behaupten und versuchte, durch die systematische Befestigung der Mauergrenze weitere Fluchtversuche zu verhindern. Im Kernkapitel dieses Abschnitts beschäftigt sich Major mit der Art und Weise, auf die sich jetzt eingeschlossene Gesellschaft an die Existenz der Mauer anpasste und sich damit arrangierte. Verschiedene Faktoren spielten hier eine Rolle: der bewusste oder unbewusste Wunsch, ein normales Leben im Sozialismus zu führen; Generationsunterschiede und die allmähliche Lockerung der Kontaktbeschränkungen zu Verwandten in der Bundesrepublik. Für die Nicht-Berliner war auch die physische Distanz von der Hauptstadt von Bedeutung. Anpassung ist aber nicht gleichzusetzen mit Akzeptanz, und da der Bau der Mauer die wirtschaftlichen Elemente der doppelten Krise nicht löste – Beschwerden über die Verschlechterung der Lebensmittelversorgung waren in den ersten Jahren nach dem Mauerbau weit verbreitet – musste die SED einen Modus Vivendi mit der Bevölkerung finden. Dieser verbesserte zwar längerfristig das materielle Lebensniveau der Bürger, ließ aber auch ihre Konsumerwartungen steigen.

In einem sehr starken Abschnitt dieses Kapitels beschreibt Major das gescheiterte kulturelle Liberalisierungsexperiment der frühen 1960er-Jahre und die Rolle der Schriftsteller und der Künstler, die das Thema Mauer kulturell, doch nicht unbedingt kritisch behandelten. Trotz anfänglicher Versuche, die DDR von westlichen kulturellen Einflüssen fernzuhalten, musste die SED auch hier Konzessionen machen, vor allem auf dem Gebiet der westlichen Popmusik. Allmählich lockerte sie ihre Sanktionen gegen den Empfang von westlichen Radio- und Fernsehsendern und traf Maßnahmen, die es unter bestimmten Umständen auch Nicht-Rentnern ermöglichten, in die Bundesrepublik zu reisen. Die steigende Zahl der genehmigten Anträge auf Kurzreisen – im Jahr 1987 waren es 1.097.399 und damit mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr (S. 203) – bewirkte nicht nur die Zunahme von Anträgen auf permanente Ausreise, sondern erweckte auch bei denjenigen, die keine Verwandten im Westen hatten, den Eindruck einer geteilten Gesellschaft.

Im dritten Teil werden die Ereignisse auf innen- und außenpolitischer Ebene, die zum Fall der Mauer führten, und in einem Abschlusskapitel, „Seeking Closure“, verschiedene Aspekte der Mauergeschichte nach 1989 behandelt. – So zum Beispiel die Debatte um die sogenannte „Mauer in den Köpfen“, die Strafprozesse im Zusammenhang mit den Todesfällen an der Mauer und das Schicksal der materiellen Hinterlassenschaft der Mauer selbst.

Abschließend kommt Major auf die These Hirschmans zu Exit und Voice zurück. Ironischerweise waren es hauptsächlich die Regimetreuesten, die von den Reisen in den Westen ausgeschlossen waren. Auf ähnliche Weise trugen die Intershops dazu bei, die Ideale einer egalitären Gesellschaft zu unterwandern: Sie boten nur jenen, die Westgeld hatten, die Möglichkeit, westliche Konsumgüter zu erwerben. Major argumentiert dazu: „The issue of travel, but even access to the consumer delights of the West, created a two-tier society which became a travesty of socialism.“ (S. 293) Ferner: „It was nevertheless to be an irony of history that the same will to exit the system which strengthened the hand of the reformers during a brief window of opportunity in September–October 1989, was also to spell the doom not only of the Wall, but of the GDR itself”. (S. 294)

Anmerkung:
1 Paul Betts, Within Walls. Private Life in the German Democratic Republic, Oxford 2010; Mary Fulbrook, The People’s State. East German Society from Hitler to Honecker, New Haven 2005; Josie McLellan, Love in the Time of Communism. Intimacy and Sexuality in the GDR, Cambridge 2011, vgl. die Rezension von Marianne Howarth, in: H-Soz-u-Kult, 13.03.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-1-180> (02.02.2013); Jan Palmowski, Inventing a Socialist Nation. Heimat and the Politics of Everyday Life in the GDR, 1945–90, Cambridge 2009.

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