C. Micus-Loos: Bildung, Identität, Geschichte

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Titel
Bildung, Identität, Geschichte. Ost- und westdeutsche Generationenerfahrungen im Spiegel autobiographischer Texte


Autor(en)
Micus-Loos, Christiane
Erschienen
Paderborn 2012: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
440 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Zahlmann, Institut für Geschichte / Theorie und Geschichte von Medienkulturen des 18. bis 20. Jahrhunderts, Universität Wien

Autobiografische Erinnerungen rückten in den vergangenen Jahren immer stärker in den Fokus interdisziplinärer Forschungen. Der Hintergrund dürfte zum einen in der seit Jahren kontinuierlich wachsenden Bedeutung autobiografischer und biografischer Literatur im Bereich der populären Belletristik liegen, zum anderen in den Besonderheiten des individuellen Zugangs, den die Autoren autobiografischer Texte bei der Darstellung einer auch gesellschaftlich bedeutsamen Vergangenheit bieten. Individuell erlebte Geschichte in Gestalt eines literarischen Textes zu fixieren (und zu veröffentlichen) bietet den Autoren und Autorinnen wie ihren Lesern und Leserinnen die Möglichkeit einer besonderen Auseinandersetzung mit Geschichtsschreibung: Historiografie wird hier zur Literatur der Erfahrung, die in Zeiten der Theorie- und Methodenbegeisterung innerhalb der Geschichtswissenschaften hartnäckig den Sinnbereich des „Authentischen“ verteidigt. Angesichts eines disziplinär nicht mehr aufrecht zuerhaltenden Objektivitätsanspruchs verfügen autobiografische Texte über eine Art ästhetischer Hintertür, die einen theoretisch nicht ganz verstellten Zugang zur Vergangenheit zu öffnen verspricht.

Es ist daher das große Verdienst von Christiane Micus-Loos, dass die von ihr vorgelegte Studie bei aller wissenschaftlichen Brillanz der Analyse die Quellen, mit denen sie arbeitet, in ihrer literarischen Qualität und Eigenständigkeit deutlich werden lässt: Am Beginn der Analysen der autobiografischen Texte von Eva Zeller, Carola Stern, Günter de Bruyn, Christa Wolf, Günter Kunert, Uwe Timm, Monika Maron, Rita Kuczynski, Ulla Hahn und Hanns-Josef Ortheil steht etwa die Untersuchung der jeweiligen Textanfänge. Dieses Vorgehen eröffnet nicht einfach nur einen textlogischen Einstieg in die individuellen Lebensgeschichten, sondern lässt den für den gesamten Text konstitutiven Erinnerungsprozess der Autorinnen und Autoren in seiner Motivation und Logik nachvollziehbar werden. Weitere Kategorien ihrer Analyse sind Subjektkonstitution, Bildung und Geschichte. Indem Micus-Loos hierbei jedoch keine starr vordefinierten Begriffe verwendet, sondern diese Kategorien aus dem autobiografischen Material selbst – und, so lässt sich hinzufügen, den genrespezifisch weitgehend konstitutiven Elementen der Texte – ableitet, wird der spezifischen Individualität der Texte ebenso wie dem funktionalen Charakter der Textgattung selbst Rechnung getragen: Der Aspekt der Subjektkonstitution zielt auf die Erfassung der identitätskonstituierenden Momente der Verschriftlichung individueller Erinnerungen; die Bildung rückt den Bereich der konstruktiven oder konfliktreichen Auseinandersetzung der individuellen biografischen Lebenserfahrung mit dem institutionell verwalteten, überindividuellen Wissensinhalten einer Gesellschaft in den Mittelpunkt (Schule, Ehe, Beruf); mit dem Bereich der Geschichte werden die Erinnerungen der Autorinnen und Autoren an historische Ereignisse und ihre im Schreibvorgang entwickelte Selbstverortung in diesen Vergangenheitsentwürfen analysiert. „Auch wenn die drei Kategorien aus analytischen Gründen idealtypisch differenziert werden, gibt es diese idealtypische Trennung in Wirklichkeit natürlich nicht.“ (S. 103) Die Studie lässt die zahlreichen Querverbindungen nicht zuletzt in den jeweils zusammenfassenden Ergebniskapiteln erkennbar werden.

Der souveräne Umgang mit den ausgewählten Quellen ist ein beeindruckendes Beispiel für eine Perspektive auf ost- und westdeutsche Selbstzeugnisse, die ihre Fragestellung, das Erkenntnisinteresse und die Methode aus Ansätzen der Erziehungswissenschaft, Literaturwissenschaft, Soziologie und Geschichtswissenschaft (Zeitgeschichte und Mediengeschichte) ableitet. Nicht zuletzt der Bandbreite in diesem Zusammenhang mitzudenkender Überlegungen ist es geschuldet, dass die theoretischen Kapitel (Prolegomena, zudem Ausführungen zum Konzept der Generation, zur Methodik und zum sozialgeschichtlichen Hintergrund) rund ein Viertel des gesamten Bandes einnehmen.

Der hohe theoretische und methodische Aufwand führt zwar zu sehr differenzierten Ergebnissen, aber es muss angemerkt werden, dass diese Befunde in ihrer Gesamtheit doch keineswegs überraschen: Die von Micus-Loos vorgenommene Auswahl von Texten aus den Generationen der um 1920 bzw. der um 1945 geborenen Autorinnen und Autoren ist in ihren Grundpositionen nicht wirklich kontrovers – es gibt vor allem aus ostdeutscher Perspektive zahlreiche Autobiografien anderer Angehöriger dieser Generation, die auf die Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Sozialismus gänzlich andere Antworten gefunden haben.1 Die in diesem Band versammelten Positionen stammen zudem von Personen, die einen gleichsam professionellen Umgang mit der Verschriftlichung von individuellen Eindrücken, Emotionen und Reflexionen gefunden haben. Es sind Texte der Angehörigen einer (heute) in ihrer Meinungsführerschaft gesamtdeutsch anerkannten Erinnerungselite, sprachlich brillant, intellektuell und ästhetisch anregend. Mit ihren Texten verstanden sie es, in der Zeit ihrer Erstveröffentlichung die Beschränkungen einer traditionellen Autobiografik zu überwinden und sich frei von inhaltlichem Anpassungsdruck an eine literaturinteressierte Öffentlichkeit zu wenden. Sie erinnern nicht einfach nur ihre Vergangenheit und protokollieren sie, sondern machen die Bedingungen des Erinnerns und seiner schriftlichen Fixierung zu weiteren Themen ihrer Texte: Hierdurch fordern sie ihre Leserinnen und Leser auf, „sich eigene Prozesse der Selbstvergewisserung und Identitätssuche zu vergegenwärtigen“ (S. 264). Angesichts dieses Hintergrundes liegt das innovative Potenzial der Studie nicht so sehr in den Einzelergebnissen der jeweiligen Textanalysen, sondern in der überzeugenden wissenschaftlichen Zusammenführung aus Erkenntnisinteresse, Theorie und Methode.

Es ist daher umso bedauerlicher, dass die Zwischenergebnisse, die in den beiden Großkapiteln gewonnen werden („Generationenporträt der um 1920 Geborenen“ [S. 244–265], „Generationenporträt der um 1945 Geborenen“ [S. 366–390]), zum Abschluss des Buchs lediglich eine knappe Zusammenführung und Einordnung in einen weiterführenden Kontext finden, der in Gestalt eines „Ausblicks“ (S. 393–405) auch eine Erweiterung mit Hinweisen auf Texte von um 1970 geborenen Autorinnen und Autoren anbietet. Diese theoretisch und inhaltlich höchst anregenden Ausführungen werden jedoch gerade einmal auf etwas mehr als zwölf Seiten abgehandelt. Angesichts der Muße in der Darlegung selbst randständiger theoretischer und methodischer Details und der inhaltlichen Breite der eigentlichen Analysen wird die Studie an dieser Stelle bedauerlicherweise zu eng zusammengeführt.

Dennoch muss dieses Buch zu den herausragenden Arbeiten zur Erforschung des Verhältnisses von autobiografischen Texten, Generationenzugehörigkeit und historischer Erfahrung gezählt werden. Die Selbstverständlichkeit, mit der diese Veröffentlichung zwischen den in diesem Zusammenhang relevanten Disziplinen und Fachgebieten oszilliert, ohne hierbei jemals den eigentlichen Gegenstandsbereich aus den Augen zu verlieren, macht dieses Buch neben einer inspirativen Studie auch zu einem Lesevergnügen.

Anmerkungen:
1 So sind Lothar Bisky (geboren 1941), Gregor Gysi (1948), Hermann Kant (1926), Werner Mittenzwei (1927) und Markus Wolf (1923–2006) ebenfalls Angehörige der beiden Generationen, die im Mittelpunkt der Studie von Christiane Micus-Loos stehen. Sie haben wie viele andere DDR-Intellektuelle ebenfalls Autobiografien in großen Publikumsverlagen veröffentlicht, die jedoch für die Darstellungen der Jahre bis 1989 aufgrund der spezifischen funktionalen Eingebundenheit der Autoren in die DDR-Gesellschaft deutliche Unterschiede zu den Erinnerungen der Autorinnen und Autoren der vorliegenden Studie zeigen.

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