D. Müller u.a. (Hrsg.): Transforming Rural Societies

Titel
Transforming Rural Societies. Agrarian Property and Agrarianism in East Central Europe in the Nineteenth and Twentieth Centuries


Herausgeber
Müller, Dietmar; Harre, Angela
Reihe
Jahrbuch für die Geschichte des ländlichen Raumes
Erschienen
Innsbruck 2011: StudienVerlag
Anzahl Seiten
227 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Müller, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO)

Dieses Themenheft des Jahrbuchs für Geschichte des ländlichen Raumes basiert auf einer Tagung, die im Juni 2008 in Berlin stattfand. Die Initiatoren des Workshops und Herausgeber des Bandes, Dietmar Müller und Angela Harre, arbeiteten damals in zwei jeweils von der VolkswagenStiftung geförderten Projekten über „Bodenrecht, Kataster und Grundbuchwesen im östlichen Europa 1918-1945-1989“ bzw. über „Agrarismus in Ostmitteleuropa 1880-1960“ an den Universitäten Leipzig und Frankfurt (Oder). Ihnen ist es gelungen, für die sieben englisch- und drei deutschsprachigen Beiträge überwiegend jüngere Historiker zu gewinnen, die zentrale Ergebnisse ihrer Forschungen über die Landreformen in Ostmitteleuropa, Theoretiker des Agrarismus, die Entwicklung des Agrarismus in einzelnen Ländern der Region, seine Widerspiegelung in der Presse und die Mobilisierung der ländlichen Bevölkerung durch den Faschismus präsentieren.

In einem kurzen einleitenden Aufsatz „Agrarismus als Dritter Weg. Zwischen Faschismus und Kommunismus sowie zwischen Kapitalismus und Kollektivismus“ beschäftigen sich Müller und Harre mit der Frage, welche Bedeutung der politische Agrarismus für den sich schon in den 1920er-Jahren abzeichnenden und in den 1930er-Jahren dominierenden Trend zu autoritären Staatsformen in Ostmitteleuropa hatte. Schließlich war die Einführung parlamentarischer Systeme in den sich nach 1918 konstituierenden ostmitteleuropäischen Nationalstaaten mit einer erheblichen Ausweitung des Wahlrechtes verbunden, wodurch – angesichts des überwiegend agrarischen Charakters der Region – große Teile der Landbevölkerung erstmals Stimmrechte erhielten. Agrar- bzw. Bauernparteien wurden gegründet oder gewannen an Einfluss, zogen in die Parlamente ein und beteiligten sich auch häufig an Regierungen – übrigens gerade auch in der vergleichsweise stark industrialisierten Tschechoslowakei.

Müller und Harre lehnen nun zu Recht die Auffassung ab, die Entwicklung zum Autoritarismus sei vorrangig durch das ungünstige außenpolitische Umfeld hervorgerufen worden. Sie verweisen auf „binnengesellschaftliche Ursachen“, etwa die Probleme bei der politischen und wirtschaftlichen Integration der ländlichen Bevölkerung. (S. 14) Man könnte ergänzen, dass die Trennlinie zwischen den Zielen demokratischer Bauernparteien sowie den Forderungen agrarpopulistischer und letztlich autoritärer politischer Bewegungen, wie sie etwa Heinz Gollwitzer konstruiert hat 1, in der politischen Praxis der späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre häufig sehr durchlässig war. Dies belegt etwa Traian Sandus Beitrag über die Eroberung des ländlichen Raumes durch den rumänischen Faschismus. Müller und Harre begegnen diesem Problem durch den Rückgriff auf die Metapher vom Dritten Weg, was durchaus den Intentionen einiger Protagonisten des Agrarismus entsprach und möglicherweise auch das recht vage illusionäre Element agraristischer Denkmuster gut widerspiegelt.2

In Bezug auf die politische und ökonomische Praxis muss dem abschließenden Fazit der Einleitung jedoch widersprochen werden. Dort heißt es: „Hatte die Vorstellung eines politischen Dritten Weges den Agrarismus anfällig für völkisches, korporatistisches und faschistisches Gedankengut gemacht, so führte sie der wirtschaftliche Dritte Weg in die Nähe des kommunistischen Kollektivismus in der Landwirtschaft.“ (S. 16) Nun zielte die Genossenschaftsbewegung, die zweifellos das wichtigste Instrument agraristischer (Land-)Wirtschaftspolitik darstellte, in der Regel gerade nicht auf die Gründung von Produktivgenossenschaften. Selbst die sich in Polen in den 1930er-Jahren aus den Resten der Bauernparteien entwickelnde agrarsozialistische Opposition lehnte den „kommunistischen Kollektivismus“ eher ab. Gleichzeitig kann die polnische Entwicklung als ein Beispiel dafür angeführt werden, dass auch in dieser Zeit der Agrarismus nicht automatisch anfällig für völkisches und faschistisches Gedankengut war. Ohnehin sind das Links-Mitte-Rechts-Schema und der doch so vieldeutige Begriff des „Dritten Weges“ für eine gesellschaftsgeschichtliche Analyse des Agrarismus wohl nicht geeignet. Die von Müller und Harre zutreffend als Wurzeln des Agrarismus identifizierte Agrarromantik sowie die katholische Soziallehre haben eben vor allem in den Gebieten der Habsburgermonarchie die Grundlage für eine vorrangig konservative Kapitalismuskritik gelegt. Möglicherweise resultiert also die Fehleinschätzung auch aus dem regionalen Ungleichgewicht des Bandes über „East Central Europe“, der zwar mehrere Beiträge über Rumänien enthält, sich aber gar nicht mit Ungarn und der Tschechoslowakei und nicht sehr intensiv mit Polen beschäftigt.

Einen tatsächlich einführenden Charakter hat hingegen der Aufsatz von Dietmar Müller und Alina Bojincă über die juristische und geodätische Administration des Eigentums an Grund und Boden in Rumänien im 20. Jahrhundert. Er zeigt die Potenzen des zugrundeliegenden Forschungsprojektes, in dem eine Verbindung von historischer Rechtskultur- und Professionalisierungsforschung mit dem Property-Rights-Ansatz der Institutionentheorie hergestellt wird. So kann ein historischer Ansatz die Persistenz ineffizienter institutioneller Arrangements sowie die Ursachen für den institutionellen Wandel besser erklären als die reine Institutionenökonomie. Rumänien stellt freilich ein hervorragendes Beispiel dar, um die vielfältigen Probleme bei der Angleichung verschiedener Rechtstraditionen nach der Nationalstaatsbildung und die Folgen ungeklärter Verfügungsrechte für die (land-)wirtschaftliche Entwicklung zu demonstrieren.

Die Konzipierung und Durchführung von Landreformen offenbart in vielerlei Hinsicht die Art und Weise des Umgangs von Politik und Rechtssystem mit dem Eigentum an Grund und Boden. Landreformen stellten auch eine zentrale Forderung des politischen Agrarismus dar, waren aber hinsichtlich der Radikalität der Umverteilung, des Kreises der Nutznießer sowie der Regelung von Entschädigungsfragen auch innerhalb der Bauernparteien äußerst umstritten. Das Thema wird hier in mehreren Beiträgen behandelt. So bemühen sich Müller und Bojincă um eine Historisierung der rumänischen Kollektivierung während der kommunistischen Herrschaft, indem sie zeigen, wie groß der Einfluss „nationalistisch-kollektivistischer Überformungen“ bereits bei den altrumänischen Agrarreformen von 1864 sowie den Landreformen nach den beiden Weltkriegen war. Cornel Micu widmet sich direkt dem Verlauf der Kollektivierung, die erst nach 1956 einigermaßen lebensfähige Betriebe hervorbrachte, da nun auch Großbauern („Kulacken“) in die Genossenschaften kamen. Srđan Milošević befasst sich mit der jugoslawischen Landreform nach dem Ersten Weltkrieg und betont das Primat von sozialen und nationalen – und damit auch machtpolitischen – Motiven gegenüber agrar- und wirtschaftspolitischen Überlegungen. Stefan Dyroff macht auf die transnationalen Aspekte des Themas aufmerksam, indem er den Umgang mit ausländischen Grundeigentümern thematisiert, der gerade auch in Westeuropa ebenso diplomatische Aktivitäten hervorrief wie die vielfältigen Verquickungen der Landreformfrage mit den Problemen der Minderheitenpolitik. Völlig zu Recht weist Dyroff auch darauf hin, dass gerade die bekanntesten zeitgenössischen Sozialwissenschaftler, wie etwa Max Sering und Robert W. Seton-Watson, in diesen hochpolitischen Diskursen nicht unparteiisch waren, so dass ihre Werke von der heutigen Forschung nur mit kritischer Distanz rezipiert werden sollten.

Das Heft enthält außerdem zwei ideologiegeschichtliche Studien, die sich mit Alexander Chayanov und seiner Theorie der bäuerlichen Familienwirtschaft sowie mit einer Gruppe kritischer Intellektueller um den Belgrader Professor Dragoljub Jovanović beschäftigen. Während Katja Bruisch die Position Chayanovs zwischen den russischen Narodniki und der zeitgenössischen europäischen Volkswirtschaftslehre und dabei auch die Rolle transnationaler Verflechtungen sehr deutlich macht, liegen die Stärken des Beitrags von Jovica Luković vorrangig in der Auswertung der Schriften der serbisch-jugoslawischen Agrarsozialisten. Die Verbindung zum wirtschafts- und sozialhistorischen Kontext überzeugt hier jedoch nicht durchgängig.

Unter den weiteren Beiträgen verdient insbesondere die Studie von Johan Eellend hervorgehoben zu werden, der einen Überblick über die Entwicklung des Agrarismus in Estland gibt und in seinem theoretischen Teil einiges von dem nachholt, was die Einleitung vermissen lässt. Gerade weil einige strukturelle Voraussetzungen, wie die Betriebsgrößen oder die weit fortgeschrittene Alphabetisierung, in Estland eher nord- als ostmitteleuropäisch waren, kann man hier einige charakteristische Merkmale des Agrarismus beinahe in Reinkultur beobachten: das Ideal des Familienbetriebes, dessen Vorstand in Vereinen und Genossenschaften aktiv ist, wo er zum idealen Staatsbürger „erzogen“ wird; die Symbiose zwischen bäuerlicher Emanzipation und nationaler „Befreiung“; die Transformation agraristischer wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Institutionen zu quasi-staatlichen Lenkungsinstrumenten eines korporatistisch geprägten und zunehmend autoritär agierenden Staates in den 1930er-Jahren. Noch ambitionierter ist der Beitrag von Daniel Brett, der die Geschichte des polnischen und rumänischen Agrarismus bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt, um zu erklären, warum die polnische Bauernpartei nach 1945 zunächst durchaus politischen Einfluss gewann, während die rumänische Bauernpartei ihren Rückhalt in der Bauernschaft bereits verloren hatte, was die kommunistische Machtübernahme wesentlich erleichterte. Auch wenn Brett den Stellenwert der Agrarfrage im Denken der polnischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts wohl überschätzt, was seine Argumentation ein wenig in Frage stellt, handelt es sich doch um einen in mancherlei Hinsicht originellen Diskussionsbeitrag.

Insgesamt bietet diese Ausgabe des Jahrbuches für Geschichte des ländlichen Raumes also eine ganze Reihe von interessanten Beiträgen zu einem Thema, das von der Geschichtsforschung über Ost(mittel)europa, insbesondere aber auch von der Agrargeschichtsschreibung in den deutschsprachigen Ländern lange Zeit vernachlässigt wurde, obwohl Themen wie die Vor- und Nachteile bäuerlicher Familienwirtschaften oder die Effekte von Landreformen nicht allein in der hier untersuchten Region große Relevanz besitzen.

Anmerkungen:
1 Heinz Gollwitzer, Europäische Bauerndemokratie im 20. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1977, S. 1-82.
2 Roman Holec, Agrardemokratie als Versuch eines Dritten Weges mitteleuropäischer Transformation, in: Helga Schultz / Angela Harre (Hrsg.), Bauerngesellschaften auf dem Weg in die Moderne. Der Agrarismus in Ostmitteleuropa 1880 bis 1960, Wiesbaden 2010, S. 41-54.