H.-H. Müller u.a.: Wissenschaft ohne Universität, Forschung ohne Staat

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Titel
Wissenschaft ohne Universität, Forschung ohne Staat. Die Berliner Gesellschaft für deutsche Literatur (1888-1938)


Autor(en)
Müller, Hans-Harald; Nottscheid, Mirko
Reihe
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 70 [304]
Erschienen
Berlin 2011: de Gruyter
Anzahl Seiten
563 S.
Preis
€ 119,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uta Motschmann, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

„Die gelehrten Gesellschaften, welche sich aus innerem Bedürfnis nach und nach in so reicher Mannigfaltigkeit auf dem Boden von Berlin entwickelt haben, gehören zur heutigen Charakteristik der Hauptstadt. Sie bilden das lebendigste Spiegelbild ihres geistigen Lebens; sie sind in ihrer Anzahl und Blüte nur hier möglich; sie dienen wesentlich dazu, in der Liebe zur Wissenschaft Universität, Akademie und Gymnasium, Gelehrte, Künstler und Geschäftsleute miteinander in fruchtbare Berührung zu bringen. Auf ihnen beruht ein wesentlicher Teil der geistigen Bedeutung der Hauptstadt.“ Dieser Auszug aus einem Brief des Archäologen und Althistorikers Ernst Curtius an den Ägyptologen und Sprachforscher Richard Lepsius vom 13. Mai 1878 fasst in Kürze das Selbstverständnis und die Ziele wissenschaftlicher Vereine und gelehrter Gesellschaften vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert hinein zusammen. Er ist der Monografie über die 1888 gegründete Berliner Gesellschaft für deutsche Literatur deshalb mit gutem Grund als Motto vorangestellt. Diese Gesellschaft reiht sich ein in die seit dem Ende des 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert in zahlreichen deutschen Städten und bevorzugt in Berlin sich gründenden privaten gelehrten Vereinigungen, die mit hohem intellektuellen Anspruch einem „Bildungsgeschäft“ nachgingen. Seit den Arbeiten von Thomas Nipperdey, Otto Dann und anderen wurden diese Vereine, Gesellschaften und Clubs immer wieder wissenschaftlich untersucht. Das schließt nicht aus, dass noch immer wissenschaftsgeschichtlich bedeutende und wirkungsmächtige Vereine ihrer Entdeckung durch die Forschung harren. Bei dem Berliner literaturwissenschaftlichen Verein ist diese Neuentdeckung und wissenschaftliche Durchdringung nun, trotz einer ungünstigen Quellenlage, in hervorragender Weise gelungen.

Man fragt sich, wieso dieser aktive, ein halbes Jahrhundert existierende Verein bisher überhaupt übergangen werden konnte, handelt es sich doch um die größte neugermanistische Vereinigung im Deutschen Reich mit überregionaler Ausstrahlung, die die Crème de la Crème der deutsche Germanistik vereinigte und durch zahlreiche Projekte in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit wirkte. Die mühsame Suche der Autoren nach Quellen – das Vereinsarchiv und andere wichtige Materialien sind seit der Zeit des Nationalsozialismus verschollen – hat sich gelohnt. Das vorliegende Buch vermittelt ein lebhaftes Bild von den Aktivitäten und Leistungen der Berliner Gesellschaft für deutsche Literatur. Hans-Harald Müller und Mirko Nottscheid beschreiben detailreich deren Geschichte von der Gründung 1888 bis zur Selbstauflösung 1938. Die Untersuchung umfasst zwei Teile. Im ersten werden die Geschichte der Gesellschaft, ihre soziale Zusammensetzung, die Vernetzung im Berliner Vereinswesen und der Beitrag, den sie mittelbar zur Sammlung, Archivierung und Erschließung von Literatur leistete, dargestellt. Der zweite Teil verzeichnet die Vortragstätigkeit und deren Rezeption in der Berliner Presse und in den wissenschaftlichen Zeitschriften der Zeit. Ein umfangreicher Anhang, der unter anderem die Satzungen, die Namen der Vorstandsmitglieder, ein 124-seitiges Verzeichnis der Sitzungen (die Bearbeiter konnten 640 Referate zu 374 der 433 Sitzungen ermitteln), ein 90-seitiges Verzeichnis der Mitglieder mit 309 Biogrammen, ein Verzeichnis der Gäste, grafische Übersichten zum Mitgliederstamm und ein Verzeichnis der Schriften der Gesellschaft enthält, vervollständigt und vertieft das Bild.

Initiativen zur Gründung der Gesellschaft gingen von Ludwig Bellermann, Otto Hoffmann und Fritz Jonas aus. Der eigentliche Anreger war der Berliner Universitätsgermanist Wilhelm Scherer, der bereits 1886 starb. Es gab verschiedene Vorläufer des Vereins, so unter anderem vermutlich ein wissenschaftliches Kränzchen namens „Deutschheit“ oder in den 1870er-Jahren die Gründungsversuche einer Berliner Goethe-Schiller-Gesellschaft oder Herder-Gesellschaft, die jedoch nicht realisiert wurden. Im November 1888 wurde dann die Gesellschaft für deutsche Literatur gegründet. Im § 1 ihrer Satzung umschrieb sie ihre Zielsetzungen mit der „Förderung und Verbreitung litterarischer Forschung durch Vorträge und Gedankenaustausch über eigene und fremde Untersuchungen“. Schwerpunkt ihrer Tätigkeit war die Neuere Literaturgeschichte, insbesondere die Goethezeit mit den „Leuchttürmen“ Goethe, Schiller, Lessing, Herder, Wieland, Kleist, womit die Gesellschaft sicher auch zu dem bis heute nachwirkenden Goethe-Zentrismus beigetragen hat. In den monatlichen Sitzungen, mit einer akademischen Sommerpause von Juli bis September, wurden aktuelle Forschungsarbeiten aus der Berliner Germanistik und neue Quellenfunde vorgestellt sowie in die Zukunft wirkende Forschungsimpulse gegeben. Als Stichworte, denen im Buch jeweils eigene Kapiel gewidmet sind, seien hier genannt: die Literaturarchiv-Gesellschaft, die neugermanistischen „Jahresberichte“, die Bibliothek der deutschen Privat- und Manuskriptdrucke oder die Klassiker-Wörterbücher. Die private Gelehrtengesellschaft war das wohl wichtigste wissenschaftliche Diskussionsforum zur Literatur in Berlin, noch vor der Universität. Dass die Gesellschaft nicht nur auf der Höhe der (germanistischen) Zeit, sondern ihr oftmals weit voraus war, verdankt sie ihrem kompetenten Mitgliederensemble aus Akademikern und Schullehrern, allen voran dem ersten Vorsitzenden Erich Schmidt, der die Gesellschaft von 1888 bis 1913 prägte. Ihm folgten Ludwig Bellermann und Richard M. Meyer (1913 bis 1915) und Max Hermann (1916 bis 1938). Die Berliner Gesellschaft für Literatur war selbstständig und unabhängig, keiner Universität oder Akademie angegliedert. Und sie war alles andere als eine Vereinigung von bloßen Liebhabern der deutschen Literatur. Von den 309 ermittelten Mitgliedern, darunter (ab 1919) auch 15 Frauen, war die überwiegende Mehrheit Lehrer an Schulen; dazu kamen die Berliner Universitätsprofessoren, zahlreiche Akademiemitglieder, Redakteure und Zeitschriftenherausgeber, mehrere Theaterleute, Musikwissenschaftler und auch einige Schriftsteller sowie wohlhabende Privatsammler, Bankiers und Verleger. Überdurchschnittlich hoch war der Anteil der jüdischen Mitglieder, die von akademischen Karrieren weitestgehend ausgeschlossen waren und in der Privatgesellschaft ein wissenschaftliches Ersatzforum fanden. Viele von ihnen wurden in den 1930er-Jahren Opfer der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung. Die Studie zur Berliner Gesellschaft für Literatur illustriert so nicht nur allgemein die Berliner, sondern insbesondere auch ein Stück jüdischer Wissenschaftsgeschichte bis hin zu deren Auslöschung in der Nazizeit.

Es wäre müßig, an dieser Stelle auch nur die wichtigsten oder namhaftesten Mitglieder der Gesellschaft zu nennen. Viele von ihnen sind bis heute jedem Germanisten vertraut; ein Teil von ihnen war mit den bedeutenden literaturwissenschaftlichen Sammlungs- und Editionsprojekten, etwa der Wissenschaftsakademien, verbunden. Genannt seien stellvertretend: Erich Schmidt („der“ Goethe-Philologe überhaupt), Eduard Berend, Otto Brahm, Konrad Burdach, Ernst Cassirer, Wilhelm Dilthey, Karl Emil Franzos, Ludwig Geiger, Walter de Gruyter, Fritz Jonas, Theodor Mommsen, Walter Unruh. Der Verein verbarg sich nicht in einem Elfenbeinturm. Im Gegenteil: Er wollte in die Öffentlichkeit hinein wirken und war bestrebt, die germanistische Forschung zu popularisieren. Auch die Geselligkeit kam nicht zu kurz; jährlich wurde das Stiftungsfest mit Vorträgen, Musik und einem Festmahl gefeiert, die monatlichen Zusammenkünfte fanden meist in Restaurants und Weinstuben statt.

Die vorliegende materialreiche Monografie lädt ein zur weiteren Forschung. Da sind die anderen Vereine, mit denen die Literatur-Gesellschaft in enger Verbindung stand und deren Geschichte – wie zum Beispiel der Gesellschaft für deutsche Philologie (1877-1945) – noch nicht geschrieben ist. Und dann gibt es die schon genannten „Vorläufer“, die frühen gelehrten Vereine um 1800, deren (vermuteten) Verbindungslinien wie auch historischen Unterschieden eigene Studien gewidmet werden könnten. Hier ist nicht nur an die 1815 gegründete Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache und Altertumskunde zu denken, die Vorläufer späterer philologischer Universitätsdisziplinen war, sondern beispielsweise auch an die 64 Jahre lang existierende Gesellschaft der Freunde der Humanität (1797-1861), deren Personal zu einem großen Teil aus wissenschaftlich ausgebildeten Gymnasiallehrern bestand, das sich in wöchentlichen Sitzungen interdisziplinär weiterbildete. Die Gelehrtenfamilie Bellermann, die das gesamte 19. Jahrhundert hindurch in Vereinen präsent war, verkörpert geradezu deutsche oder zumindest Berliner Vereinsgeschichte. In dem Maße, wie sich die Wissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts ausdifferenzierte, spezialisierte sich auch das Vereinswesen. Johann Joachim und Johann Friedrich Bellermann, Vater und Sohn, beide Direktoren des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster, waren Mitglieder der Humanitätsgesellschaft, und Ludwig Bellermann, Enkel bzw. Sohn der Vorigen und ebenfalls Professor am Grauen Kloster, Mitglied sowie Zweiter und Erster Vorsitzender der Literaturgesellschaft.

Die beiden Hamburger Forscher Müller und Nottscheid, ausgewiesene Kenner der Germanistikgeschichte, legen mit ihrer Studie reichhaltiges Material zur Geschichte des Faches als Wissenschaftsdisziplin vor. Besonders lohnend ist es, sich in das bestens aufbereitete Vortragswesen der Gesellschaft zu vertiefen. Darüber hinaus erfährt der Leser auch Details, beispielsweise, wie der Verein aus seinen Mitteln das Erscheinen der germanistischen Fachzeitschrift „Euphorion“ (begründet 1894) unterstützte oder wie er Anregung zur Sammlung von Goethes Wortschatz gab. Aus Letzterer ging das bis heute bestehende Langzeitprojekt des Goethe-Wörterbuchs an der Berliner Akademie der Wissenschaften hervor. Die Arbeit beweist, dass auch Vereinsgeschichte außerordentlich spannend, lehrreich und anregend sein kann, wenn sie so genau recherchiert und so kenntnisreich geschrieben wird wie hier. Die Lesefreude wird noch unterstützt durch die sehr gute Handhabbarkeit des Buches, eine saubere Redaktion sowie die ansprechende Gestaltung durch den Verlag. Das hat freilich im buchstäblichen Sinne seinen Preis. Es bleibt dennoch zu hoffen, dass das Buch seine Leser finden wird.

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