C. Baldoli u.a. (Hrsg.): Bombing, States and Peoples in Western Europe

Cover
Titel
Bombing, States and Peoples in Western Europe 1940–1945.


Herausgeber
Baldoli, Claudia; Knapp, Andrew; Overy, Richard
Anzahl Seiten
365 S.
Preis
€ 28,24
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Arnold, University of Nottingham

Vor 15 Jahren hat der britische Historiker Jeremy Noakes darauf hingewiesen, dass der alliierte strategische Luftkrieg, eine der zentralen Gewalterfahrungen des Zweiten Weltkrieges, bisher kaum Eingang in die Historiographie zur deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus gefunden habe.1 Was für das Deutsche Reich galt, konnte, mit Ausnahme Großbritanniens, ebenso für die anderen europäischen Staaten gesagt werden.

Viel ist passiert seitdem. Für einige Jahre schien es gar, als könne man den Fliegerbomben nicht entkommen, egal ob man eine Zeitung aufschlug, den Fernseher anschaltete oder sich in Bahnhofsbuchhandlungen umsah. Jenseits der von schrillen Tönen begleiteten „Bombenkriegsdebatte“, die vor allem durch Jörg Friedrichs Sachbuch „Der Brand – Deutschland im Bombenkrieg“2 (und dessen Vermarktung als „Tabubruch“) angestoßen worden war, hat sich auch die historische Forschung des Themas angenommen. Endlich, so möchte man sagen, wurde der Luftkrieg dorthin gestellt, wohin er gehört: in das Zentrum sozial-, kultur- und erfahrungsgeschichtlicher Arbeiten zur „Heimatfront“ im Zweiten Weltkrieg. Inzwischen sind die meisten dieser Forschungsprojekte abgeschlossen und publiziert.

Für den deutschsprachigen Raum sind hier vor allem die große vergleichende Habilitationsschrift von Dietmar Süß zur Konstruktion der „Kriegsmoral“ zu nennen sowie die Dissertationen von Nicole Kramer über „Volksgenossinnen an der Heimatfront“ und von Michael Schmiedel über die französische Gesellschaft.3 Auch im englischsprachigen Raum sind in den letzten Jahren Arbeiten erschienen, die vielleicht noch stärker als in Deutschland die (west-)europäische Dimension des Bombenkrieges herausstreichen: So haben Claudia Baldoli und Andrew Knapp im Jahr 2012 eine vergleichende Geschichte über die „Forgotten Blitzes“ in Italien und Frankreich vorgelegt, während sich Juliet Gardiner des bereits vielfach bearbeiteten Themas des deutschen Luftkrieges gegen Großbritannien angenommen hat. Im September 2013 schließlich ist Richard Overys groß angelegte, vergleichende Synthese „The Bombing War: Europe 1939–1945“ auf den Markt gekommen.4

Der hier zu besprechende Sammelband, 2011 von Overy zusammen mit Baldoli und Knapp herausgegeben, geht auf eine Konferenz aus dem Jahr 2009 an der University of Exeter zurück. Er versammelt 16 Aufsätze, in denen erste Ergebnisse von zu diesem Zeitpunkt noch im Entstehen begriffenen Arbeiten vorgelegt werden. Neben den oben genannten Autoren aus Deutschland und Großbritannien (mit Ausnahme Kramers) sind auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Frankreich und Italien vertreten. Wenn der Sammelband vielfach auch Zwischenergebnisse festhält, ist er jedoch keineswegs veraltet. Vielmehr liegt damit eine erste Bilanz der neueren Forschung zum Luftkrieg vor, die die Einzelstudien gut ergänzt.

Der hohe Gebrauchswert ergibt sich durch die klare Gliederung in vier große Kapitel, das – von wenigen Ausnahmen abgesehene – hohe empirische und analytische Niveau der Beiträge und nicht zuletzt durch die konzise und dennoch gut lesbare Einleitung. Darin skizziert Richard Overy souverän die bisherige Forschung zum Luftkrieg, die sich vor allem für den militärische Nutzen, die ethische Dimension sowie die durch Luftangriffe verursachten Schäden und Verluste interessiert habe. Die urbanisierten Gesellschaften, die den Angriffen ausgesetzt waren, seien bisher nur unzureichend beachtet worden. Hier setzt der Sammelband an: Im Zentrum stehen die „sozialen, kulturellen und politischen Reaktionen“ (S. 5) der unmittelbar Betroffenen. Dass eine solche Untersuchung auch für die Gegenwart Bedeutung beanspruchen kann, macht Overy mit einen Verweis auf den Irakkrieg 2003 deutlich: Was war das strategische Konzept des „shock and awe“ anderes als die Fortsetzung der Doktrin aus dem Zweiten Weltkrieg, wonach Bombenangriffe neben der materiellen vor allem eine moralische Wirkung zeitigen?

Im Zentrum des ersten Teils, „Staaten und Gesellschaften“, stehen die Versuche staatlicher Krisenbewältigung angesichts einer Gewalt- und Destruktionserfahrung, die zwar antizipiert werden konnte, deren tatsächliche Wucht dann aber viele Pläne rasch Makulatur werden ließ. Liest man die Einzelstudien zur „Schutzraumpolitik“ in Deutschland und Großbritannien (D. Süß), zur Verdunkelung (M. Wiggan), den Evakuierungsmaßnahmen in Italien (E. Cortesi) sowie zur Soforthilfe in Frankreich (L. Dodd) nebeneinander, dann wird deutlich, dass sich die Behörden in den kriegführenden Ländern mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sahen – und zwar unabhängig von der politischen Verfasstheit des Gemeinwesens, dem sie dienten. In allen Ländern zeigte sich zudem, dass staatliche Regulierungsversuche schon bald in ein spannungsreiches Verhältnis traten mit gesellschaftlicher Selbstregulation „von unten“. Die Folgen freilich konnten unterschiedlich sein: Während etwa in Italien die Versuche der Behörden, Einfluss zu nehmen auf den massenhaften Exodus der Bevölkerung aus den Städten, den Glaubwürdigkeitsverlust des Regimes nicht aufhalten konnte, zog im Deutschen Reich der Luftkrieg eine Radikalisierung der Kriegsgesellschaft nach sich, die das NS-Regime zu nutzen wusste.

Teil zwei, „Kulturelle Reaktionen“, fällt heterogener aus als Teil eins. Marta Nezzo untersucht am Beispiel der Stadt Venedig die Maßnahmen, die zum Schutz des beweglichen und unbeweglichen Kulturgutes getroffen wurden, während sich Lara Feigel in einem lesenswerten Beitrag literarische Verarbeitungen in Deutschland und Großbritannien anschaut. Auch hier überraschen die Parallelen: In beiden Ländern lässt sich die Tendenz erkennen, Bombenangriffe als „schrecklich schön“ zu beschreiben, sie zu ästhetisieren und kinematographisch darzustellen. Vanessa Chambers und Claudia Baldoli schließlich untersuchen am Beispiel von Großbritannien und Italien den Zusammenhang von Luftkrieg und Religiosität. Vor allem in Italien konnte die Kirche ihre Autorität steigern. Sie machte damit eine entgegengesetzte Entwicklung zum faschistischen Regime durch. In beiden Ländern jedoch waren es vor allem populärreligiöse Praktiken, Magie und Aberglaube, die im Angesicht der Bedrohung aus der Luft einen großen Aufschwung erlebten.

Teil drei, „Gesellschaft im Luftkrieg“ versammelt vier Länderstudien. Juliet Gardiner zeigt in ihrer Untersuchung zum „Blitz“, dass die Kategorie der Kriegsmoral schon zeitgenössisch schwer zu definieren und umstritten war, betont aber dann doch die kathartische Wirkung der Luftangriffe für die britische Gesellschaft. Ganz anders in Italien, wie Gabriella Gribaudi am Beispiel Neapels zeigt: Der faschistische Staat konnte seine Bürger weder schützen noch Soforthilfe organisieren. Der Luftkrieg hatte neben anderen Faktoren Anteil an seinem Zusammenbruch im Sommer 1943. In Frankreich wiederum versuchte das Pétain-Regime, den nationalen Zusammenhalt zu stärken, indem Partnerschaften zwischen bombardierten Städten im besetzten Frankreich und (noch) nicht betroffenen Städten aus dem unbesetzten Landesteil gefördert wurden, wie Michael Schmiedel demonstriert. Stephan Glienke ruft in seinem Beitrag zum Deutschen Reich in Erinnerung, dass die direkten und indirekten Folgen der Luftangriffe weit über die unmittelbar betroffenen Gebiete hinausreichten.

Teil vier, „Freund oder Feind? Wahrnehmungen“, enthält einige der stärksten Aufsätze des Bandes. Neville Wylie zeigt, dass britische Kriegsgefangene in Deutschland die Luftangriffe sehr viel ambivalenter erlebten als vielleicht zu vermuten wäre: Neben Freude und Genugtuung über die alliierte Machtdemonstration findet sich in den Tagebüchern und Lagerzeitungen auch überraschend viel Unbehagen angesichts der unterschiedslosen Zerstörung, die vielfach angerichtet wurde. Ähnlich komplex waren auch die französischen Reaktionen auf die alliierten Angriffe, wie Simon Kitson deutlich macht. Hier markierte der Sommer 1943 einen Wendepunkt. Je klarer die Alliierten den Luftraum über Frankreich kontrollierten, desto kritischer wurde von Seiten der Bevölkerung darauf geachtet, was bombardiert wurde und wie treffgenau die Angriffe waren. In Italien hingegen trat der Widerspruch zwischen großmäuliger Propaganda und militärischer Unterlegenheit schon bald eklatant zu Tage (Beitrag M. Fincardi). Und dennoch lassen sich auch auf dem Gebiet der Wahrnehmungen Gemeinsamkeiten über Regimegrenzen hinweg ausmachen: So rückten die Wochenschauen hier wie dort vor allem zerstörte Kirchen ins Bild, wenn es darum ging, Luftangriffe als moralisch verwerflich und militärisch unsinnig darzustellen (Beitrag O Dumoulin).

Mit dem Sammelband „Bombing, States and Peoples“ haben die Herausgeber einen Querschnitt durch die neuere Forschung zum Luftkrieg vorgelegt, der vor allem im universitären Bereich vielfach Verwendung finden wird. Er demonstriert eindrücklich, wie viel in den letzten Jahren auf diesem Feld erreicht wurde – und dass es nicht länger nötig ist, sich an Jörg Friedrichs „Der Brand“ abzuarbeiten.

Anmerkungen:
1 Jeremy Noakes (ed.), Nazism. A Documentary Reader, Vol. 4, Exeter 1998, Preface.
2 Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945, Berlin 2002.
3 Dietmar Süß, Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England, München 2011; Nicole Kramer, Volksgenossinnen an der Heimatfront. Mobilisierung, Verhalten, Erinnerung, Göttingen 2011; Michael Schmiedel, „Sous cettepluie de fer“. Luftkrieg und Gesellschaft in Frankreich, Stuttgart 2013.
4 Claudia Baldoli / Andrew Knapp, Forgotten Blitzes. France and Italy under Allied airattack, 1940–1945, London 2012; Juliet Gardiner, The Blitz. The British underattack, London 2010; Richard Overy, The Bombing War. Europe 1939–1945, London 2013.

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