N. Schareika u.a. (Hrsg.): Auf dem Boden der Tatsachen

Cover
Titel
Auf dem Boden der Tatsachen. Festschrift für Thomas Bierschenk


Herausgeber
Schareika, Nikolaus; Spies, Eva; Le Meur, Pierre-Yves
Reihe
Mainzer Beiträge zur Afrikaforschung 28
Erschienen
Anzahl Seiten
516 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joel Glasman, Humboldt-Universität zu Berlin

Festschriften gehören zweifelsohne – zusammen mit Vorworten, Danksagungen und Laudationes − zu den eigenwilligen Genres des akademischen Schrifttums. Indem sie Professionelles und Persönliches verknüpfen, Erforschtes partout nicht vom Erlebten trennen wollen, brechen sie mit den üblichen Formen akademischer Veröffentlichungen und bieten einen seltenen Einblick hinter die Kulissen des universitären Geschäfts. Der entsprechende Band wird oft einzig durch die Biographie des Geehrten zusammengehalten, was nicht selten zu verwirrender inhaltlicher und formeller Vielfalt führt. Die Festschrift zum 60. Geburtstag des Mainzer Ethnologen Thomas Bierschenk ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme: Zwischen zwei Buchdeckeln finden sich ein einführendes Porträt, 27 wissenschaftliche Aufsätze, ein studentischer Lehrforschungsbericht, ein Schriftenverzeichnis, ein paar Fotos vom Professor als Feldforscher und Empfänger der Beniner Ordre National und sogar ein ihm gewidmetes Gedicht. Das Ergebnis ist ein qualitativ etwas uneinheitlicher Sammelband, der die monotone Tradition des akademischen Jubilierens wiederholt in erfrischende Selbstironie verpackt. Wer sich in das Dickicht disparater Fallstudien (unter anderem zu Ägypten, Brasilien, Benin, Burkina Faso, Ghana, Haiti, Indien, Kamerun, Madagaskar, Oman, Niger, Senegal) und diverser Disziplinen (unter anderem Sozialanthropologie, Linguistik, Kulturanthropologie, Wirtschaftswissenschaft, Geschichte) wagt, wird mit einer Reihe solider Aufsätze und unkonventioneller Blicke auf das Forschungsfeld belohnt.

In ihrer Einleitung porträtieren die Herausgeber den Jubilar als Professor, Lehrer und Feldforscher. Bierschenk studierte Soziologie und Geschichte in Bielefeld, Bordeaux, London, Oxford und Trier. Er promovierte 1983 über das Sultanat Oman und habilitierte sich 1991 an der FU Berlin mit einer Studie zu den Fulbe Nordbenins. Er ist derzeit Professor für Kulturen und Gesellschaften Afrikas in Mainz.1 Als ehemaliger Assistent von Georg Elwert wurde Bierschenk durch eine sozialwissenschaftlich orientierte Ethnologie bekannt, die sich fernab von den traditionellen Gegenständen der Afrikaforschung bewegt. Voodoo, Hexerei oder Verwandtschaftsstrukturen interessieren ihn weniger als Entwicklungsprojekte und staatliche Routine. Nicht Fremdheit und Exotik, sondern die Banalität des Alltags bildet für ihn den Kern ethnographischer Untersuchungen. Bierschenk steht für eine Ethnologie der Modernität, die sich für die Untersuchung der Vorgänge in Büroräumen von NGOs, in afrikanischen Gerichtssälen und Klassenzimmern eignet.2 Er ist Verfechter einer empirischen Sozialforschung, die sich sowohl von Modernisierungstheorien als auch vom Kulturessentialismus distanziert. Fernab von normativen Ansprüchen will diese Ethnologie der Sicht der Akteure gerecht werden. „Thomas Bierschenk reduziert die Perspektive auf diese Akteure aber weder, indem er Handlungslogiken einer übergeordneten Mentalität oder Kultur zuschreibt, noch durch eine dogmatische Verwendung des Begriffs des rationalen Handelns“, erklären die Herausgeber in ihrem Porträt des Jubilars (S. 12). Gern warne Bierschenk seine Kollegen und Schüler vor pauschalisierenden Urteilen und vor der Tendenz, auf den ersten Blick schwer erklärbare Praktiken auf einen unreflektierten Exotismus zurückzuführen – nach dem Motto: „sie werden schon ihre guten Gründe haben“.

Entscheidend für ihn sei stets der Bezug zur Empirie, der vor avantgardistischen Theoriegebilden schützen solle. „Thomas Bierschenk schätzt nichts mehr als den Boden der Tatsachen des Feldes“ (S. 9). Zentrale Merkmale seiner Arbeit sind einerseits das Bemühen um eine Begrifflichkeit, die der Vielfalt der Akteure Rechnung trägt (Spiel, Gewinn, Arena, Interesse, strategische Gruppe, usw.), anderseits das Augenmerk für die konkreten Bedingungen der – oft als kollektive Aufgabe verstandenen – Feldforschung. Die Herausgeber machen deutlich, dass die Ablehnung kulturalistischer Spekulationen3 und die Liebe zu den praktischen Aspekten wissenschaftlicher Untersuchungen (Arbeitsgruppe bilden, Projektseminare und Lehrforschungen organisieren, Forschungsgelder einwerben, Kooperationspartnerschaften eingehen usw.) zugleich Charakterzüge und methodologische Steckenpferde sind. „C’est le terrain qui commande“, sucht Bierschenk diesen Ansatz, der „auf dem Boden der Tatsachen“ bleibt, zusammenzufassen.

Diese Positionierung jenseits von Modernisierungstheorien und Kulturessentialismus ist sicherlich einer der gemeinsamen Nenner der Beiträge, die 15 Studierende und 31 Wissenschaftler/innen geliefert haben. Das Buch ist in fünf Teile gegliedert, die die Überschriften „Zugänge“ (9 Beiträge), „Fulbe“ (3 Beiträge), „Entwicklung“ (3 Beiträge), „Macht“ (5 Beiträge) und „Staat“ (9 Beiträge) tragen. Der Band bedient zwei Gruppen von Lesern/innen. Studierende und erfahrene Wissenschaftler, die sich bereits auf ein bestimmtes Forschungsthema spezialisiert haben, können sich auf den einen oder anderen Block konzentrieren oder einzelne Aufsätze herauspicken. Wer sich etwa für das relativ neue Feld der ‚Borderland Studies’ interessiert, wird den Aufsatz von Paul Nugent über den Alltag an der Grenze Ghana / Togo nicht unbeachtet lassen. Wer sich mit der Verwaltung von Umwelt und Wäldern in Afrika beschäftigt, wird mit den Aufsätzen von Giorgio Blundo über Förster in Niger und Senegal und von Peter Geschiere über das ‚Forest Law’ in Kamerun gut versorgt. Auch andere Themen wie Fußball (Erdmute Alber und Christian Ungruhe), Gesundheitswesen (Katrin Langewiesche), Religion (Eva Spies) oder „Yahoo-boys“ (Matthias Krings) finden in diesem Band Berücksichtigung.

Berufseinsteiger auf der Suche nach einem Einblick in die ethnologische Arbeitsweise sowie erfahrene Afrikawissenschaftler in reflexiver Stimmung werden in den methodologischen Aufsätzen interessante Denkanstöße finden. Dass eine zeitgemäße Ethnologie sich nicht auf das einst von Malinowski mythisierte Aufeinandertreffen eines einsamen (weißen, männlichen) Ethnologen mit einer (fremden) Kultur reduzieren lässt, zeigen überzeugend Jean-Pierre Olivier de Sardan und Mahaman Tidjani Alou. Sie beschreiben die Ethnologie als einen Mannschaftssport, dessen Erfolg vom Einsatz konkreter Werkzeuge abhängt – etwa in der Form internationaler Forschernetzwerke (APAD, LASDEL) oder gemeinsamer Feldforschungsmethoden (ECRIS).4 Während der Mehrwert des Bandes insgesamt eher im Themenbereich der Feldforschung zu finden ist, liefert Carola Lentz mit ihrer Analyse der Machtverhältnisse in deutschen Ethnologieinstituten einen interessanten Kontrapunkt. „Es finden sich Institute in der Tradition des Fürstenhofs, extrem polarisierte Moieties mit tiefen Fraktionsgräben und kollegiale Teams mit mehr oder minder charismatischer Führerschaft oder bürokratisierter ,Herrschaft‘ sowie alle möglichen Hybridformen“, stellt Lentz nüchtern fest (S. 334).
Leider gibt es am Ende des Sammelbandes kein Fazit, das die Ergebnisse der einzelnen Ausätze noch einmal zusammenbindet und in einen größeren Kontext stellt. Stattdessen findet sich an dieser prominenten Stelle eine Namensliste aller Gratulanten. Unter den akademischen Praktiken gehört die so genannte „tabula gratulatoria“ vielleicht zu den exotischsten Aspekten. Dies gibt durchaus Rätsel und irgendwann auch Arbeit für Ethnologen des Alltags auf.

Anmerkungen:
1 Thomas Bierschenk, Weltmarkt, Stammesgesellschaft und Staatsformation in Südostarabien, Saarbrücken 1984; ders., Die Fulbe in Nordbénin. Geschichte, soziale Organisation, Wirtschaftsweise, Münster 1997.
2 Vgl. etwa Thomas Bierschenk, Zidanes Kopfstoß. Tanz des roten Felsenhahns oder ritualisierte Beleidigung unter Sportlern? Die Ethnologie zwischen kulturalistischer Spekulation und empirischer Sozialforschung, Arbeitspapiere des Instituts für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Nr. 108, 2009.
3 Siehe u.a: Thomas Bierschenk / Jean-Pierre Chauveau / Jean-Pierre Olivier de Sardan (Hrsg.), Courtiers en développement. Les villages africains en quête de projets, Paris 2000; Thomas Bierschenk / Jean-Pierre Olivier de Sardan, Les pouvoirs aux villages. Le Bénin rural entre démocratisation et décentralisation, Paris 1998; Thomas Bierschenk / Georg Elwert (Hrsg.), Entwicklungshilfe und ihre Folgen. Ergebnisse empirischer Untersuchungen im ländlichen Afrika, Frankfurt am Main 1993. Zum aktuellen Projekt ‚State at Work’: Thomas Bierschenk, States at Work in West Africa. Sedimentation, Fragmentation and Normative Double-Binds, Arbeitspapiere des Instituts für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Nr. 113, 2010.
4 APAD steht für Association Euro-Africaine pour l’Anthropologie du Changement Sociale et du Développement. LASDEL steht für Laboratoire d'Etudes et de Recherche sur les Dynamiques Sociales et le Développement Local (Niamey und Parakou). ECRIS bezeichnet eine von Olivier de Sardan und Bierschenk entwickelte Feldforschungsmethode (Enquête collective rapide d’identification des conflits et des groupes stratégiques).

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