I. Köhler u.a. (Hrsg.): Pleitiers und Bankrotteure

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Titel
Pleitiers und Bankrotteure. Geschichte des ökonomischen Scheiterns vom 18. bis 20. Jahrhundert


Herausgeber
Köhler, Ingo; Rossfeld, Roman
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
413 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Marx, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier / Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität des Saarlandes

Regulationsfragen der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise verweisen ebenso auf die Bedeutung ökonomischen Scheiterns wie die Suizide hochrangiger US-Banker oder des Großindustriellen Adolf Merckle. Doch auch wenn gegenwärtige Entwicklungen zu einer stärkeren Berücksichtigung von (ökonomischen) Krisen in der Geschichtswissenschaft beigetragen haben, ist das Interesse an Pleitiers in einer auf Wachstum und Erfolg orientierten Gesellschaft insgesamt noch eher gering. Vor diesem Hintergrund haben Ingo Köhler und Roman Rossfeld einen inspirierenden Tagungsband vorgelegt, aus dem sich vielfältige Erkenntnisse über die Funktionsmechanismen von Märkten und unternehmerische Risiken gewinnen lassen.

In ihrer instruktiven Einleitung fassen die Herausgeber gewandt den bisherigen Forschungsstand zusammen und machen auf die semantische Dichotomie von Erfolg und Misserfolg aufmerksam. Erfolgsrezepte der ökonomischen Theorie können demnach wertvolle Hinweise bei der Ursachensuche für wirtschaftliches Scheitern liefern, das aus dieser Perspektive relativ zu vorherigen Zieldefinitionen wird. Das mechanistische Erklärungsmodell eines durch Wettbewerb bedingten Marktaustritts liefert noch keine Gründe für mangelnde Innovationskraft oder zu geringe Produktivität. Die Multidimensionalität ökonomischen Scheiterns speist sich vielmehr aus einer Verbindung endogener und exogener Entwicklungen, der begrenzten Handlungsoptionen beteiligter Akteure, der Pfadabhängigkeit von Unternehmen und der Grenzen unternehmerischen Risikomanagements.

Zunächst nimmt Jan-Otmar Hesse das unternehmerische Handeln in der modernen Wirtschaftstheorie – von Richard Cantillon über Joseph A. Schumpeter bis Mark Casson – in den Blick, die ökonomisches Scheitern stets als Folge volkswirtschaftlicher Anpassungsprozesse interpretiert, jedoch keine Aussagen über fallierende Unternehmer trifft und unternehmerisches Scheitern zum Teil als Oxymoron begreift. Ökonomischer Misserfolg wird von den vorgestellten Theoretikern nicht explizit diskutiert, allerdings lassen sich zumindest im Anschluss an Casson zwei Formen unterscheiden: das individuelle Scheitern aufgrund von Selbstüberschätzung oder Fehlentscheidungen und das Scheitern als fehlerbehafteter Auswahlprozess, über welchen inkompetente Unternehmer in zentrale Entscheidungspositionen gelangen. Florian Schui widmet sich sodann dem mehrfach revidierten Urteil über den Colbertismus in der ökonomischen Ideengeschichte. Colberts Wirtschaftspolitik war speziell auf den königlichen Ruhm sowie die Steigerung politischer und militärischer Macht ausgerichtet. Einzelne Unternehmer hatten sich diesen Zielen unterzuordnen, ihr Erfolg oder ihr Scheitern war von nachrangiger Bedeutung. Während Keynes der Politik Colberts eine solide theoretische Grundlage bescheinigte, konnten der traditionelle Liberalismus und Hayeks neoliberales Paradigma den Colbertismus nur als „Teil einer totalitären Tendenz“ ablehnen (S. 75). Danach greift Heike Knortz auf Michael Porters Clustermodell zur Erklärung ökonomischen Scheiterns zurück. Indem sie Porters Erfolgskategorien umkehrt, versucht sie den Erfolg bzw. Misserfolg oberrheinischer Tabak-, Textil- und Uhrenunternehmen etwas einseitig auf das Bestehen bzw. Fehlen einer unmittelbaren räumlichen Konkurrenz sowie zentraler vor- und nachgelagerter Branchen zurückzuführen. Staatliche Eingriffe sind demnach kaum als Bestimmungsfaktoren ökonomischen Erfolgs anzusehen, ebenso hat individuelles Scheitern hier keinen Platz.

Im zweiten Teil des Bands wird unternehmerisches Scheitern aus mikrohistorischer Perspektive analysiert. Margrit Schulte Beerbühl liefert nicht nur ein eindrückliches Beispiel des Scheiterns deutscher Kaufleute in London im 18. Jahrhundert, sondern thematisiert insbesondere den „Wandel der Normen und Verhaltensweisen gegenüber geschäftlichem Scheitern“ (S. 109). Indem Scheitern nicht mehr als krimineller Akt angesehen wurde, konnte der Schuldner entlastet und ein Neuanfang ermöglicht werden. Der Anstieg der Konkurse durch den kriegsbedingten Wegfall von Märkten und durch Freibeuterei hatte viele ehrbare Kaufleute unverschuldet in den Ruin getrieben und führte zur Revision des alten Konkursrechts. Zugleich mündete die Einführung des Entlastungsrechts in eine Diskussion über seine Ursache für den Anstieg der Risikobereitschaft, die in abgewandelter Form auch heute noch geführt wird.

Mit dem Künstler tritt bei Christian Saehrendt ein spezieller Unternehmer auf die Bühne, dessen Ziel nicht allein in der Erwirtschaftung ökonomischen Reichtums liegt. Ruhm, gesellschaftliche Anerkennung und ein selbstbestimmtes Leben treiben den Künstler mindestens ebenso an. Der französische Avantgardekünstler Gustave Courbet schwankte zwischen Markterfolg und Marktverachtung. Sein Erfolg gründete auf der Expansion des Kunstmarkts im 19. Jahrhundert sowie seiner Skandal-Strategie und revolutionären Attitüde; letztere besiegelte jedoch zugleich sein politisches und ökonomisches Scheitern. Laura Rischbieter zeigt am Beispiel der Hamburger Kaffee-Kaufmannschaft um 1900, dass es wenig plausibel ist, die persönliche Unfähigkeit des einzelnen Kaufmanns als grundsätzliche Ursache für ökonomisches Scheitern heranzuziehen, und verweist auf die Bedeutung sozialer Inklusions- und Exklusionsmechanismen. Natürlich können auch kaufmännische Unfähigkeit und exogene Risiken des Fernhandels zum Bankrott führen; indem sich Rischbieter aber auf die sozio-ökonomische Symbiose der Hamburger Händler konzentriert, kann sie dezidiert die Bedeutung sich wandelnder Normen und Verhaltensweisen herausarbeiten. Nonkonformes Verhaltens gegenüber neu implementierten Konventionen konnte dabei zum Fall eines Kaffeehändlers führen.

Im dritten Teil, der sich mit Risikomanagement und unternehmerischem Fehlverhalten befasst, behandelt Roman Rossfeld zunächst den mit einem Politskandal verbundenen, unerwarteten Niedergang des Schokoladenunternehmens Lucerna. Dem in der größten Boomphase der Schweizerischen Schokoladenindustrie aufgebauten Unternehmen gelang es nie, im hart umkämpften Schokoladenmarkt Fuß zu fassen. Hierfür waren sowohl unternehmensinterne als auch -externe Faktoren – wie steigende Rohstoff- und sinkende Verkaufspreise – verantwortlich. Damit bietet Rossfeld ein eindrückliches Beispiel für die vielfältigen Ursachen ökonomischen Scheiterns.

Boris Gehlen und Tim Schanetzy kommen anschließend zu dem Ergebnis, dass quantitativ umfangreiche Personalvernetzung nicht per se zum Erfolg führt. Obwohl das von Paul Silverberg in der Zwischenkriegszeit geführte Unternehmen ein Muster finanzieller Stabilität war und er selbst über ein weit gespanntes Beziehungsnetzwerk verfügte, konnte er sich nicht gegen den versierten Manipulator Friedrich Flick durchsetzen, der seine Macht auf Kapitaleigentum stützte und die Gunst institutioneller Verschiebungen auf staatlicher Ebene ausnutzte. Indem der Analysefokus von der gesamtwirtschaftlichen Makro- auf die betriebswirtschaftliche Mikroebene verlegt wird, werden hier neue Begründungszusammenhänge für unternehmerischen (Miss-)Erfolg sichtbar. In diese Richtung plädiert auch Ingo Köhler, der ökonomisches Scheitern in den 1970er-Jahren nicht allein auf makroökonomische Verschiebungen zurückführen will. Schließlich scheiterten nicht alle Unternehmer in der Krise. Seine Fallbeispiele zeigen, dass veränderte Marktsignale nur im Idealfall zu einem Lernprozess im Unternehmen führten und unkontrollierte Expansionsstrategien, eine verfehlte Produktpolitik sowie das Festhalten an überkommenen Führungsprinzipien in der Realität oftmals im ökonomischen Desaster endeten.

Im letzten Teil stehen der Strukturwandel und der technische Fortschritt im Mittelpunkt. Während Roman Wild bei der Basler Seidenbandindustrie der 1920er-Jahre auf die unternehmensspezifischen Risiken einer auf den Export ausgerichteten Modebranche hinweist und für den Untergang eine Mischung endogener und exogener Faktoren verantwortlich macht, nehmen Cathrin Kronenberg und Boris Gehlen den Niedergang des Süßwarenherstellers Stollwerck während der 1970er-Jahre in den Blick. Die vom Vorstand proklamierte Abkehr von der Produktionsorientierung und Hinwendung zur Marketingorientierung verkam zu einem reinen Lippenbekenntnis, bei dem die Kontrolllücke zwischen Vorstand und Aufsichtsrat zum neuralgischen Punkt einer durch Fehlentscheidungen im Personal-, Produkt- und Organisationsbereich gekennzeichneten Unternehmensentwicklung wurde.

Reinhold Bauer arbeitet anschließend anhand der missglückten, staatlich subventionierten Innovationsversuche im Hydrobergbau und beim Stirlingmotor in den 1970er-Jahren zentrale Faktoren für innovatorisches Scheitern heraus. Innovationen können sowohl an technischen Problemen und Fehleinschätzungen zur Nutzung als auch an überlegenen Verfahren, einem zu hohen Neuheitsgrad oder einem inadäquaten Entwicklungsumfeld scheitern. Im Fall der angeführten Beispiele verhinderte die Überwindung der unmittelbaren Krise einen Durchbruch der Inventionen. Unter Rückgriff auf ein evolutionsökonomisches Modell führt Silke Fengler schließlich den missglückten Markteintritt von Agfa in den USA auf fortdauernde Pfadabhängigkeiten, den gescheiterten Versuch zur Etablierung eines eigenständigen Technologiepfads und die fehlende Anpassungsbereitschaft an den amerikanischen Markt zurück. Daneben hat ferner die Beschlagnahmung sämtlicher Patente und Warenzeichen während des Zweiten Weltkriegs die langfristige Unternehmensentwicklung wesentlich beeinflusst.

Insgesamt sind fast alle Beiträge sehr gewinnbringend zu lesen und vermitteln zusammen einen guten Einblick in die Geschichte des ökonomischen Scheiterns. Lediglich eine kleine Einschränkung sei erlaubt: Die Konzentration des Sammelbands auf Unternehmen/r aus dem deutschsprachigen Raum lässt nur bedingt Aussagen über Muster eines kulturell unterschiedlichen Umgangs mit ökonomischem Scheitern zu. Die in der Einleitung von Köhler und Rossfeld aufgezeigten Untersuchungsperspektiven geben hierfür allerdings anregende Anstöße, die weiteren, wünschenswerten Analysen zu diesem Themenfeld nur empfohlen werden können.

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