D. Brandenberger: Propaganda State in Crisis

Cover
Titel
Propaganda State in Crisis. Soviet Ideology, Indoctrination, and Terror Under Stalin, 1927–1941


Autor(en)
Brandenberger, David
Reihe
Yale-Hoover Series on Stalin, Stalinism, and the Cold War
Erschienen
Anzahl Seiten
376 S.
Preis
€ 49,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fabian Thunemann, SFB 640 „Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel“, Humboldt-Universität zu Berlin

Als Stalin einmal herausfand, dass sein Sohn Wassili die berühmte Abstammung benutzt hatte, um der Bestrafung wegen einer seiner Trinkeskapaden zu entgehen, wies der Vater den Sohn scharf zurecht und unterrichtete ihn, dass er nicht Stalin, dass nicht einmal er selbst, der Vater, Stalin sei: Stalin, das sei schließlich allein die Sowjetmacht. In dieser Episode verdichtet sich eindrücklich das Selbstbild dieser neuen Macht, gleichermaßen Ausdruck historischer Notwendigkeit und prophetischer Offenbarung zu sein. Die Bedeutung des entrückten, alles durchdringenden Führers allerdings war nicht ungebrochen evident und wenn sie der eigene Sohn schon nicht recht erfasste, dann verlangte die unionsweite Verkündigung von Stalins Allmacht eine außergewöhnliche Missionsleistung. Ihr wendet sich das neue Buch von David Brandenberger zu, wobei er die im Titel angesprochene Krise des Propaganda-Staates in der Unfähigkeit begründet sieht, die trockene sowjetische Ideologie zu popularisieren (S. 3, S. 257).

Das elf Kapitel umfassende Buch, das die Jahre von der sogenannten Kriegsangst 1927 bis zum Vorabend des Überfalls Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion beschreibt, lässt sich in vier Blöcke einteilen: Die ersten Kapitel beschreiben den Kampf des sowjetischen Staates, den propagandistischen Anspruch einzulösen und das Experiment wirksam zu inszenieren und massentauglich zu orchestrieren (Kapitel 1–2). Während Personenkult und sowjetischer Patriotismus die spröde bolschewistische Propaganda der 1920er-Jahre beleben sollten und den wesentlichen Inhalt der folgenden Kapitel kennzeichnen (Kapitel 3–6), spülte die Massengewalt der späten 1930er-Jahre diese Errungenschaften fort (Kapitel 7–8) und setzte damit die virulente Krise des stalinistischen Propaganda-Staates gewissermaßen auf Dauer (Kapitel 9–11).

Brandenberger begreift Stalin und seine Entourage nicht allein als zynische Machtstrategen, sondern sieht in ihnen Menschen, die tatsächlich vom ideologischen Kampf gemäß der historischen Dialektik überzeugt waren und sich an der Interpretation ihrer historischen Erfahrung stetig abmühten (S. 1f.). Ihr politischer Sieg schien ihnen endgültig den Beweis historischer Gesetzmäßigkeit geliefert zu haben, und dementsprechend hatte die Propaganda allein auf die Erläuterung und Popularisierung dieser geschichtlichen Erfahrung zu setzen. Genau daran allerdings scheiterten sie kläglich und bescherten dem Propaganda-Staat die Krise (S. 3). Denn obgleich seine Instrumente mit der Zentralisierung propagandistischer Mobilisierung seit Mai 1920 im Komitee für politische Aufklärung abgestimmt und ein Jahr später durch die Etablierung der Abteilung Agitprop im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei weiter ausgebaut wurden, lieferten die Anstrengungen nicht den erhofften Erfolg, sondern provozierten vielmehr den zynischen Spott der Bevölkerung (S. 11–20). Ernüchtert klagte Stalin im Jahre 1931 öffentlich über den Scholastizismus bisheriger Propagandabemühungen (S. 26f.). „The people do not like Marxist analysis, big phrases, and generalized statements“ (S. 97) ließ Stalin 1934 etwa Georgi Dimitrow wissen und unterstrich seine Forderung, sich endlich auf heroische Taten und Führer zu konzentrieren.

In der Forschung wird die Hinwendung zum Personenkult meist auf die Großinszenierung von Stalins 50. Geburtstag im Jahre 1929 datiert, in der Stalin erstmals als irdische Inkarnation des Demiurgen erschien.1 David Brandenberger zeigt, wie penibel der sowjetische Machtapparat diese Inszenierung steuerte und mit welcher Akribie die Hagiographien Stalins seit den späten 1920er-Jahren vorbereitet und angeleitet, fortwährend überprüft und vielfach als unzureichend zurückgewiesen wurden. An dieser Stelle sei auf Jemeljan Jaroslawski verwiesen, der als fanatischer Anhänger Stalins seiner Loyalität niemals breitenwirksam Ausdruck verleihen durfte und der gewissermaßen der tragische Held in Brandenbergers Buch ist (eindringlich S. 212–215). Voller Aufopferung arbeitete Jaroslawski sich an einer Stalin-Biographie ab, gleichwohl musste er sich den Beiträgen von Stalins früherem persönlichen Sekretär Towstucha und dem in Transkaukasien aufstrebenden Berija geschlagen geben (S. 58–64). Als Jaroslawski schließlich bei Stalin persönlich für sein Buch warb, entgegnete dieser lakonisch: „I am against the idea of a biography about me“ (S. 60).

Die vorgebliche Bescheidenheit Stalins, die Jan Plamper in seinem Buch über den Stalinkult treffend als „immodest modesty“ bezeichnet, dechiffriert auch David Brandenberger überzeugend als entscheidenden Teil der Inszenierung selbst. Der Personenkult wie auch das Phänomen des sowjetischen Patriotismus stehen im Grunde genommen quer zu den ideologischen Bestandteilen eines von Klassenkampf und Weltrevolution beseelten Denkens. Doch wie Stalin im Jahre 1935 Marija Swanidse anvertraute, war er überzeugt davon, dass das Volk eines Zaren bedurfte (S. 52), und auch die marxistische Tradition Russlands bot Anhaltspunkte zur Rolle des Individuums im Rahmen eines dialektischen Materialismus. Dementsprechend wurde aus einer theoretischen Spannung im Handumdrehen eine dialektische Offenbarung. Der Kult belebte all die Halbgötter (Molotow, Woroschilow, Kaganowitsch), erschuf in Gestalten wie Alexei Stachanow, Pawel Morosow oder in Ostrowskis Pawel Kortschagin seine eigene Fabelwelt, die alle schließlich den Göttervater Stalin nur noch glanzvoller erscheinen ließen (S. 67–97). Anhand vieler Beispiele aus Literatur, Film und Museumsausstellungen zeigt Brandenberger die Verästelung sowjetischer Heldenverehrung und die alsbald patriotische Erweiterung von Stalins Sozialismus-in-einem-Land-Theorie. In Form selbstbewusster Nationalstaaten wollte die Sowjetmacht nicht nur allen vermeintlichen äußeren Feinden trotzen, sondern sie vor allem durch die richtige Überzeugung, den sozialistischen Inhalt zur Strecke bringen (S. 98–119).

Die Massengewalt der späten 1930er-Jahre jedoch unterminierte, Brandenberger zufolge, die recht erfolgreiche Popularisierung der Generallinie. Niemand vermochte nun vorauszusehen, wen die Gewalt treffen würde, und daher konnte das empathische Heldenepos einer beliebigen Person, die womöglich bald als Volksfeind enttarnt wurde, das Todesurteil seines Verfassers bedeuten. Verantwortliche wie Jaroslawski wurden in dieser Zeit von allen Seiten nach einem verlässlichen Almanach gefragt, der als zuverlässige Grundlage der Propagandaproduktion dienen sollte (S. 151, S. 314, Fußnote 38). Die Hektik und Umwälzungen in Folge der Massengewalt beschreibt David Brandenberger außerordentlich eindringlich, insbesondere weil er einen Personenkreis in den Blick nimmt, der die offizielle Parteilinie propagandistisch zu verbreiten und nun sogar den möglichen eigenen Untergang mit Sinn zu versehen hatte. Der Lyriker Wolschenin gestand, dass ihn allein der Gedanke erschrecke, den Stift für die Feier zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution in die Hand zu nehmen; da die Zeit sich so rasant verändere, sei es unmöglich, die Atmosphäre zu erahnen, die dann herrschen werde (S. 163f.).

Schließlich machte Jaroslawski im Frühjahr 1938 erneut einen Vorstoß und übersandte Stalin ein Manuskript, an dem er zusammen mit Pospelow, dem stellvertretenden Vorsitzenden von Agitprop, und einer Gruppe von Forschern gearbeitet hatte und aus dem später der berühmte „Kurze Lehrgang“ (‚Kratki kurs‘) hervorging. Obwohl Stalin den Entwurf zunächst lobte, wurde er schließlich einer fundamentalen Revision unterzogen und firmierte bald ohne konkrete Autorennennung als Text einer Kommission des Zentralkomitees der KPdSU. Ideen, nicht Personen seien nun entscheidend, rief Stalin den Delegierten einer Propaganda-Konferenz anlässlich der Diskussion des ‚Kratki kurs‘ im September 1938 zu und warf damit für viele die Errungenschaften einer anschaulichen und belebten Geschichte der frühen und mittleren 1930er-Jahre wieder über Bord (S. 198–209). Somit kehrte der Apparat zurück an den spröden Ausgangspunkt und die ewige Wiederkehr der Krise schien abermals den Beweis dialektischer Geradlinigkeit zu liefern.

Das große Verdienst von David Brandenberger ist es, dass er den Topos vom Propaganda-Staat wieder in die Diskussion einbringt, dabei aber das Selbstbild des sowjetischen Staates stets mit der – häufig hausgemachten – widersetzlichen Realität konfrontiert. Er zeigt überzeugend, dass Ideologie und Propaganda keine starren marxistischen Größen darstellten, sondern fortwährend Umwälzungen unterlagen und sich dem Machtkalkül der Elite immer wieder aufs Neue anzuschmiegen hatten. Somit gehen der ideologische Überzeugungstäter und der nüchterne Machtstratege Stalin bei Brandenberger eine prekäre Verbindung ein, die die Gewaltneigung dieses Systems erhellt und dem Leser zugleich eine aufschlussreiche Lektüre vom unbarmherzigen Sisyphus beschert.

Anmerkung:
1 Vgl. Jan Plamper, The Stalin Cult. A Study in the Alchemy of Power, New Haven / London 2012, S. 29–31. Zum Demiurgen Stalin siehe Boris Groys, Gesamkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, München / Wien 1988, insbesondere S. 39–82.

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