J.P. Sternberg: Auswanderungsland Bundesrepublik

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Titel
Auswanderungsland Bundesrepublik. Denkmuster und Debatten in Politik und Medien 1945–2010


Autor(en)
Sternberg, Jan Philipp
Reihe
Studien zur Historischen Migrationsforschung 26
Erschienen
Paderborn 2012: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simone Blaschka-Eick, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven

Jan Philipp Sternberg untersucht die mediale und politische Rezeption von Auswanderung zwischen 1945 und 2010 in der Bundesrepublik. Dabei konzentriert er sich für die Zeit von 1945 bis 1961 auf deutsche Flüchtlinge und Vertriebene, Gastarbeiter und Osteuropa-Flüchtlinge. Die vor allem von den Amerikaner und Briten organisierte Auswanderung der Displaced Persons – KZ-Überlebende und Zwangsarbeiter vor allem aus Osteuropa – zwischen 1947 und 1952 wird im ersten Kapitel skizziert, aber im Folgenden nicht weiter einbezogen. Denn der Schwerpunkt des Buches liegt auf deutschen Auswanderern und Gastarbeitern sowie denjenigen, die von den Nationalsozialisten in osteuropäischen Ländern und in der Sowjetunion als „Volksdeutsche“ klassifiziert wurden. Diese Perspektive ist dann sinnvoll, wenn – wie im vorliegenden Buch – die Reaktionen der Politik und der Medien auf die Auswanderung von Menschen gezeigt werden sollen, mit deren Schicksal sich die „Sesshaften“ im Lande in irgendeiner nationalen Art verbunden fühlten. Dazu zählten die Displaced Persons nicht. Auch wenn dieser Punkt nicht explizit vorgestellt wird, ist das die erste von weiteren wichtigen Erkenntnissen über das Nachkriegsdeutschland, die man bei der Lektüre gewinnt.

Nach einem Überblick zur Auswanderung während der frühen Jahren der Bundesrepublik folgt im zweiten Kapitel eine Darstellung der innen- und außenpolitische Haltung der jeweiligen Regierung und der Opposition ebenso wie derjenigen der überseeischen Länder, die die Hauptzielgebiete deutscher Auswanderer seit Bestehen der Bundesrepublik sind: vor allem die USA, Kanada und Australien. Ebenso werden im dritten und vierten Kapitel auch die Standpunkte der Kirchen und der Vertriebenenverbände erläutert. Bei dieser Analyse der politischen Reaktionen auf das Auswanderungsgeschehen liegt der deutliche Schwerpunkt auf der Zeit von 1945 bis 1952.

Bei der Auswertung der medialen Reaktionen auf die Auswanderung stehen die 1950er- und die 2000er-Jahre im Fokus. In beiden Zeiträume werden die Printmedien berücksichtigt, in den 1950er-Jahren auch das Radio und in den 2000er-Jahren zudem das Fernsehen; hier vor allem die unsäglich schlechten „Auswanderer-Soaps“, bei denen Fernsehteams heutige deutsche Auswanderer auf ihrem Weg in ein neues Leben begleiten (S. 218ff.). In diesem fünften Kapitel, das Sternberg selbst als „Ausblickskapitel“ bezeichnet, werden die Auswanderungsgeschichte der 2000er-Jahre und deren mediale Rezeption parallel nebeneinander vorgestellt.

Als Quellen erschließt Sternberg Memoranden, Referentenentwürfe und Diskussionen in der Politik vor allem der mit Auswanderung beschäftigten Ressorts, Berichte von Tages- und Wochenzeitungen, Magazine, Fachzeitschriften, die Wirtschaftspresse und Berichte von Konferenzen vor allem kirchlicher karitativer Einrichtungen. Die neuere und aktuelle Forschungsliteratur bettet er ebenfalls in seine Untersuchung ein; wobei zu berücksichtigen ist, dass es zur Auswanderungsgeschichte der 2000er-Jahre keine umfassenden Forschungsarbeiten gibt und man sich vor allem auf die Statistiken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge stützen muss.

Besonders eindringlich, dicht und gut geschildert gelingen Sternberg das dritte und das vierte Kapitel. Dort zeigt er das Unverständnis, die Begeisterung und die Naivität, mit der der westdeutsche Staat auf die Massenauswanderung zu Beginn der 1950er-Jahre reagierte. Alle politischen Akteure schienen zu schwanken zwischen Verdammung und Verherrlichung. Kombiniert mit den imperialistisch anmutenden Siedlungsprojekten, die damals vor allem noch in Südamerika existierten, ergibt dies ein Bild der frühen Bundesrepublik mit unangenehm inkompetenten politischen Entscheidungsträgern – inkompetent insofern, als niemand auf die bereits gemachten positiven und negativen Erfahrungen zurückgriff, die Deutschland als Land der Massenauswanderung im 19. und frühen 20. Jahrhundert hatte sammeln können. Und anscheinend gab es trotz Holocaust und Zweitem Weltkrieg niemanden, der vehement diejenigen attackiert hätte, die von deutschen Siedlungen außerhalb des Bundesgebiets träumten. Stattdessen war die westdeutsche Politik gefangen zwischen der „Furcht vor dem Facharbeitermangel“ (S. 98) und der Furcht, Überbevölkerung im eigenen Land sei eine „soziale Atombombe“ (so die extreme Formulierung des Bundesverkehrsministers Seebohm, Deutsche Partei, beim Tag der Sudetendeutschen 1950, deren Verband er aktiv unterstützte; S. 94). In diesem Sinne argumentierten die Ersteren gegen und die Letzteren für Auswanderung.

Hinzu traten machtpolitische Überlegungen, die aus heutiger Sicht unverständlich erscheinen. In einer hervorragenden Analyse zeigt Sternberg, wie unterschiedlich westdeutsche Politiker in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren die Auswanderung von „reichsdeutschen“ und „volksdeutschen“ Flüchtlingen und Vertriebenen betrachteten. Sie differenzierten zwischen denjenigen, die vor Kriegsbeginn 1939 auf reichsdeutschem Gebiet gelebt hatten, und denjenigen, die zu diesem Zeitpunkt beispielsweise in Rumänien und der Tschechoslowakei gewohnt hatten und von den Nationalsozialisten zu „Volksdeutschen“ erklärt worden waren: „Da es überparteilicher Konsens in der frühen Bonner Republik war, auf die Rückgabe der Gebiete östlich von Oder und Neiße zumindest zu hoffen, war es nicht opportun, für ‚Reichsdeutsche‘ eine massenhafte Auswanderung zu fordern. […] Bei ‚Volksdeutschen‘ war die Lage eine andere; wer sie exkludierte, konnte damit zugleich eine Abkehr von der NS-Ideologie demonstrieren. Und je fremder eine Gruppe wahrgenommen wurde, desto einfacher war es auch, sie unter Zuhilfenahme kollektiver Zuschreibungen auf dem Reißbrett zu Auswanderern zu machen.“ (S. 163) Die Schilderung vom Umgang der Bundesregierung mit den knapp 13 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen sowie den Auswanderungswilligen unter ihnen zeigt einen neuen Aspekt der fehlenden Integrationspolitik der frühen Bundesrepublik: Wohnungsmangel und die hohe Arbeitslosigkeit bis zum Beginn der 1950er-Jahre ließen viele Flüchtlinge und Vertriebene verzweifeln und den Weg der Auswanderung wählen.

Gerade bei der Lektüre dieser anschaulichen Analyse wünscht man sich von der Untersuchung allerdings noch mehr: Die Darstellung der politischen Rezeption der Auswanderung hängt etwas im luftleeren, gesellschaftsfreien Raum, steht in keiner Beziehung zu den Wählern der Politiker. Diese diskutierten ja nicht nur untereinander; sie warben auch um Wählerstimmen. Um beim Beispiel der „Volksdeutschen“ und „Reichsdeutschen“ zu bleiben: Wie spiegelten die Politikermeinungen die Ansichten der alteingesessenen Bevölkerung wider? Wollten bestimmte Gruppen die anderen loswerden? Ebenso wäre die Reaktion der auswanderungswilligen Flüchtlinge und Vertriebenen auf diese politischen Meinungsäußerungen interessant: Forcierten sie die Auswanderung der „Volksdeutschen“? Spielten sie überhaupt eine Rolle? Hier fehlen auch statistische Stichproben: Gab es eine signifikant hohe Anzahl von ausgewanderten „Volksdeutschen“ zu einem bestimmten Zeitpunkt nach einer bestimmten politischen Diskursphase?

Diese, wenn man so will, „Zielgruppenanalyse“ der Rezeption von Auswanderung gelingt bei der Darstellung der Auswanderung in den Medien viel besser. Vor allem für die 1950er-Jahre ordnet der Autor die Zeitschriften und Magazine politisch ein. Erneut sehr anschaulich sind die unterschiedlichen Perspektiven von Politik und Medien, die Sternberg gegenüberstellt: dort die deutsche Makroperspektive, hier auch die Sicht des Einzelnen. So kamen in den Zeitungen immer wieder die Auswanderer selbst zu Wort, und ihnen wurde auch durchaus viel Verständnis entgegengebracht. Das Verständnis endet allerdings stets an dem Punkt, an dem die deutsche Volkswirtschaft durch die Auswanderung in Gefahr zu sein scheint; dann sprechen fast alle Politiker und Medien mit einer Stimme. Besonders gut zeigt Sternberg die Parallelen der medialen Rezeption der Auswanderung in den 1950er- und 2000er-Jahren: „Auch die Angst vor dem ‚brain drain‘ […] findet ihren Vorläufer in der Nachkriegszeit.“ (S. 101) Und in der Tat listet das Buch eine beeindruckende Zahl von Schlagzeilen der 2000er-Jahre auf, die die „verbreitete Angst vor Verlusten – vor allem vor dem Verlust von Fachkräften und Spezialisten“ belegen (S. 98, S. 202ff.). Hier wäre es sehr interessant gewesen, wenn Sternberg, der nicht nur Historiker, sondern auch Journalist ist, seine Zeitungskollegen einmal zu diesem Phänomen befragt hätte. Und: Wie nehmen eigentlich Auswanderer der 2000er-Jahre diese mediale Debatte wahr? Sie sind in einem demokratischen Staat aufgewachsen und nicht durch Diktatur, Holocaust und Krieg geprägt wie die deutschen Auswanderer der 1950er-Jahre. Wie empfinden heutige Bundesbürger öffentliche Anschuldigungen, sie schadeten ihrem Land durch ihre Auswanderung? Offen bleibt in dem Buch zudem die Frage, ob die heutige mediale Rezeption die Denkmuster der breiten Bevölkerung widerspiegelt.

Jan Philipp Sternbergs sehr lesenswerte Studie schließt eine Lücke in der deutschen Migrationsforschung. Als Leser/in profitiert man in hohem Maße von den neuen Zusammenhängen, die in der Dreiecksbeziehung von Politik, Medien und Auswanderung aufgezeigt werden. Und man sieht anhand der vielen offenen Fragen, dass das Buch Perspektiven für weitere Forschungen öffnet.