A. Rehling: Konfliktstrategie und Konsenssuche in der Krise

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Titel
Konfliktstrategie und Konsenssuche in der Krise. Von der Zentralarbeitsgemeinschaft zur Konzertierten Aktion


Autor(en)
Rehling, Andrea
Reihe
Historische Grundlagen der Moderne
Erschienen
Baden-Baden 2011: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
522 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Knud Andresen, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Die Arbeitsbeziehungen und die wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen in Deutschland waren stets sozialpartnerschaftlich geprägt. Vor allem der Korporatismus als Regulierungsform industrieller und sozialer Konflikte gilt als Kennzeichen der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Andrea Rehling geht in ihrer Tübinger Dissertation auf die Suche nach den ideengeschichtlichen Hintergründen des Korporatismus und tut dies unter der Leitfrage, ob diese eine spezifisch deutsche Tradition zeigten. Dies verneint sie am Ende der Arbeit, die vor allem einen Beitrag zu den noch recht wenig erforschten Diskussionen in den jeweiligen Verbänden leistet. Ihren Untersuchungszeitraum begrenzt sie – gleichwohl weit gefasst – auf die Phase der Hochindustrialisierung zwischen 1880 und 1970.

Rehling führt den Leser eingangs souverän durch die Klippen der sozialwissenschaftlichen Debatten insbesondere seit den 1970er-Jahren. Die unterschiedlichen Konzeptionen prägen bis heute die Debatten; Begriffe wie Neokorporatismus, Sozialpartnerschaft oder korporativer Kapitalismus gehören dazu. Laut Rehling bezeichnen sie für das 20. Jahrhundert aber "im Grunde einen ähnlichen Sachverhalt" (S. 15), nämlich die Zusammenarbeit zwischen Staat, Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern in überbetrieblichen Gremien. Rehling untersucht nicht einzelne Ebenen, in denen – wie im System der dualen Berufsausbildung – korporatistische Gremien bis heute etabliert sind, sondern blickt auf makrokorporatistische Institutionen der Spitzenebene. Dabei interessieren sie vor allem liberale Korporatismusvorstellungen.

Über Vorläufer von korporatistischen Gremien wurde im Kaiserreich zwar diskutiert, aber es gab nur einen Versuch Bismarcks, einen Volkswirtschaftsrat zu gründen, in dem die Arbeiterschaft eine untergeordnete Rolle spielen sollte. Diese Idee eines "Wirtschaftsparlaments" scheiterte 1880 im Reichstag, nur in Preußen wurde solch eine vorwiegend berufsständische Vertretung kurzzeitig installiert. Erst, so Rehlings These, mit der Zentralisierung der jeweiligen Verbände und der Ausdifferenzierung der Ministerialbürokratie wuchsen die Möglichkeiten, korporatistische Ordnungsvorstellungen umzusetzen. Den Löwenanteil der Arbeit nehmen daher mit fast 200 Seiten die Debatten zwischen 1914 und 1933 ein. Für die Gewerkschaften ging es 1914 darum, ihre Zustimmung zum Krieg dafür zu nutzen, offizielle Anerkennung zu erhalten. In Kriegsarbeitsgemeinschaften und mit dem Hilfsdienstgesetz von 1916 gelang dies auch. Mit der Gründung der wohl einflussreichsten korporatistischen Institution, der Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG), am 15. November 1918 durch alle drei Richtungsgewerkschaften und die industriellen Arbeitergeberverbände wurde schließlich der "erste deutsche liberale Makrokorporatismus" (S. 59) durchgesetzt.

Nach Rehlings Ansicht lag das Motiv für die Einrichtung in Befürchtungen vor einer ungeregelten Demobilisierung und weniger in einem machtstrategischen Kalkül, die Revolution zurückzudrängen; eine Deutung, von der die ältere Literatur geprägt war. Für die Gewerkschaften bedeutete die ZAG die Anerkennung als Tarifpartner. Allerdings geht es Rehling vorrangig um die Motive der Akteure, weniger um Handlungen. Daher arbeitet sie systematisch die Argumentationen staatlicher Vertreter, der Parteien und Gewerkschaften sowie der Arbeitgeberverbände heraus. In der Arbeiterbewegung bestand die Hoffnung, durch die Zusammenarbeit für den Sozialismus zu werben. Die Arbeitgeber, die christlichen und liberalen Gewerkschaften sowie staatliche Vertreter erhofften sich eher die Aufhebung des Klassenkonfliktes. Völkische und rechte Theoretiker behandelt Rehling aufgrund der guten Forschungslage nicht, wie auch der nationalsozialistische Korporatismus nur in einem Exkurs behandelt wird. Allerdings zeigt Rehling an den Diskussionen, wie Ideen der Volksgemeinschaft in der Endphase der Weimarer Republik den späteren "diktatorischen Staatskorporatismus" (S. 250) zumindest in Vorformen enthielten.

Die Intensität der von Rehling auf breiter Literaturgrundlage nachgezeichneten Debatten korrespondierte nicht mit der Wirkmächtigkeit der makrokorporatistischen Gremien. Die ZAG blieb auf industrielle Bereiche beschränkt und wurde 1924 seitens der Gewerkschaften beendet. Ebenso scheiterte ein Reichswirtschaftsrat, dessen Einrichtung 1920 in der Weimarer Verfassung vorgesehen war. Über einen vorläufigen Reichswirtschaftsrat und einige Ausschüsse kam auch dieses "Wirtschaftsparlament" nicht hinaus. Beide Gremien standen für zwei unterschiedliche Motive: Für die sozialistische Arbeiterbewegung bot der Reichswirtschaftsrat Möglichkeiten, die Wirtschaft mitzusteuern, hingegen zielten Arbeitgeber und Zentrumspolitiker wie auch christliche und liberale Gewerkschafter darauf, in einer Arbeitsgemeinschaft konkrete Konflikte zu regeln.

In der Nachkriegszeit blieben diese Motive durchaus ähnlich verteilt. Ein im Bundeswirtschaftsministerium mit Unterstützung von Arbeitgebern und Gewerkschaften entwickelter Plan für einen Bundeswirtschaftsrat wurde nach dem Korea-Boom und der geregelten betrieblichen Mitbestimmung fallen gelassen. Mit der Gründung der EWG 1957 wurden Sozial- und Wirtschaftsräte in den meisten Mitgliedsländern eingerichtet, allerdings nicht in der Bundesrepublik. Mit der Konzertierten Aktion begann 1967 in Zeiten von Planungseuphorie und Keynesianismus die sicherlich bekannteste tripartistische Zusammenarbeit. Während Rehling sich für die vorherigen Abschnitte auf umfangreiche Forschungsliteratur und publizierte Quellen stützen kann, betritt sie hier historisch fast Neuland1. Entsprechend ist ihre Arbeit in diesem Abschnitt am stärksten quellengestützt. Im Vergleich zur Weimarer Republik waren die Erwartungen an dieses Gremium weniger weitreichend. Karl Schiller, als Bundeswirtschaftsminister einer der Initiatoren, verband damit nicht die "Harmonisierung aller gesellschaftlichen Konflikte, sondern ihre Eingrenzung": Der Informationsaustausch sollte zur kollektiven Vernunft und damit zu wirtschaftspolitisch richtigen Entscheidungen führen (S. 317f.). Zugleich zeigten sich aber weiterhin die älteren Konfliktlinien. Die Gewerkschaften versuchten, auch sozialpolitische Entscheidungen mit herbeizuführen, die Arbeitgeberverbände hingegen, die Arbeit auf konjunkturpolitische Maßnahmen zu beschränken.

Durch Fehlprognosen verlor das Gremium zudem bald an Zuspruch. Aufgrund einer erwarteten schwachen Konjunkturentwicklung übten die Gewerkschaften 1968 Lohnzurückhaltung. Da unerwartet die Konjunktur anzog, kam es im September 1969 zu einer Welle von wilden Streiks, um die Löhne den Gewinnen anzugleichen. Das Vertrauen in Planungs- und Prognosefähigkeit wurde durch solche Ereignisse erschüttert. Politisch nennt Rehling die Studentenbewegung – die in den Sitzungen der Konzertierten Aktion als Gefahr einer Re-Ideologisierung verstanden wurde und insbesondere die Gewerkschaften herausforderte – als einen delegitimierenden Aspekt. Dies überrascht etwas, da in den Gewerkschaften selbst, vor allem der mächtigen IG Metall, Skepsis gegenüber einer zu engen Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern verbreitet war. Ein weiterer Bedeutungsverlust ergab sich schließlich auch durch internationale Spitzentreffen und den europäischen Einigungsprozess, die angesichts der weltwirtschaftlichen Verflechtungen nationalstaatliche Steuerungsmodelle schwächten. Im Juli 1977 kam es zu einem abrupten Ende der Konzertierten Aktion: Die Gewerkschaften nahmen an den Sitzungen nicht mehr teil, da die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände beim Bundesverfassungsgericht Klage gegen das Mitbestimmungsgesetz von 1976 eingereicht hatte. Für Rehling endet damit die Ära makrokorporativer Gremien. Zwar gab es weiterhin Einrichtungen der Zusammenarbeit – so die 1977 gegründete Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen –, aber diese blieben auf einzelnen Sektoren begrenzt. 1977 war der "Traum vom gesamtgesellschaftlichen Konsens […] endgültig ausgeträumt" (S. 432f.).

Im Fazit ihrer anschaulich geschriebenen und materialreichen Arbeit überrascht Rehling etwas. Die Ursachen für das von ihr konstatierte Ende des liberalen und "modernen Makrokorporatismus" sieht sie weniger in der Erfolglosigkeit, was bei nur zwei ernsthaften Versuchen, solche Spitzengremien zu etablieren, und den zu keiner Zeit einflussreichen Wirtschaftsräten eigentlich auf der Hand liegt. Sie macht vielmehr ein "gravierend" verändertes Staats- und Gesellschaftsverständnis dafür verantwortlich, da seit den 1970er-Jahren Heterogenität und Pluralität in der Gesellschaft zunehmend akzeptiert worden seien und daher Bestrebungen, mit Spitzengremien gesellschaftliche Konflikte dauerhaft zu lösen, hinfällig wurden (S. 443). Zwar mögen über die Weimarer Republik hinaus auch in der Bundesrepublik manche Akteure gesellschaftliche Homogenisierungsvorstellungen damit verbunden haben – wie es in Ludwig Erhards "Formierter Gesellschaft" noch durchscheint –, aber die Zusammenarbeit scheiterte an unterschiedlichen Erwartungen der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften. Hier scheint das gut ausgeleuchtete historische Sujet für etwas zu weitreichende Erklärungen herhalten zu müssen, zumal Korporatismus in vielen Bereichen auch weiterhin ohne Spitzengremien funktioniert.2

Anmerkungen:
1 Allerdings ist die Konzertierte Aktion im Kontext aufgearbeitet, so zu Planungseuphorie und Expertenwissen bei Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007.
2 Vgl. für die Tarifautonomie und die Bedeutung des Staates als Akteur: Thilo Fehmel, Konflikte um den Konfliktrahmen. Die Steuerung der Tarifautonomie, Wiesbaden 2009.

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