M. Kappeler: Klaus Mann und seine Geschwister in Internatsschulen

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Titel
„Wir wurden in ein Landerziehungsheim geschickt…“. Klaus Mann und seine Geschwister in Internatsschulen


Autor(en)
Kappeler, Manfred
Erschienen
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Jens Brachmann, Institut für Erziehungswissenschaft, Fakultät 1, Pädagogische Hochschule Freiburg

Seit dem Einsetzen der zweiten großen Aufklärungswelle um pädokriminelle Übergriffe an katholischen und reformpädagogischen Internatsschulen im Jahre 2010 sind vielbeachtete Abhandlungen zum Phänomen des Aufwachsens im Internat und zur spannungsreichen Balance von emotionaler Nähe und professioneller Distanz in pädagogischen Einrichtungen ediert worden. Sehr konsequent schildern Betroffene in diesen Publikationen erlittenes Unrecht1, zeichnen ehemalige Schüler die Ambivalenz des Lebens in den reformorientierten Vorzeigeinstituten nach2, oder skizzieren engagierte Journalisten die Korrumpiertheit der liberalen Kulturelite der alten Bundesrepublik und ihrer vorgeblich charismatischen Akteure aus den reformpädagogischen Leuchttürmen.3

Auffällig an den bisher vorgelegten Editionen ist zweierlei: Erstens konzentrieren sich die Quellenstudien vorrangig auf die Odenwaldschule als jenes Musterinstitut, das dank des Spannungsverhältnisses von Reformtradition wie schier unglaublicher pädagogisch-professioneller Verwahrlosung seit den frühen 1970er-Jahren der voyeuristischen Aufmerksamkeit von Boulevard, Feuilleton wie Wissenschaft sicher sein darf. Zum zweiten ist die investigative Berichterstattung nachvollziehbar über die Aufklärung der Verbrechen des Haupttäters Gerold Becker motiviert, wodurch aber weder eine notwendige Diskussion um die Zeitgemäßheit der Lebensform Internat forciert, noch die Relevanz der Eliteeinrichtungen für das Selbstverständnis aktueller Reformpädagogik problematisiert werden konnte. Nicht untypisch ist daher auch der neuerdings populäre Reflex, die Schandtaten Beckers als letzten Beleg dafür anzuführen, dass der so genannte reformpädagogische Aufbruch des 20. Jahrhunderts von Mythen und Dogmen verstellt sei und dass „Reformpädagogik“ nichts zur Schul- und Unterrichtsentwicklung im „Jahrhundert des Kindes“ beigetragen hätte.4

Weil sich Manfred Kappeler bereits mit einer weithin beachteten Studie an der systematischen Diskussion um die konstitutive Funktion von sexueller Gewalt in (sozial-)pädagogischen Einrichtungen beteiligt hatte5, wird auch die nun vorgelegte Monografie vom Verlag marktstrategisch zunächst in der ideologischen Kampfzone von Missbrauch und zweifelhafter reformpädagogischer Praxis platziert (siehe Rückumschlag).

Argumentativ verfolgt der Autor mit dem Buch allerdings eine andere Absicht: Tatsächlich stehen nämlich weder die institutionellen Alleinstellungsmerkmale der Landerziehungsheime im breiten Spektrum des reformpädagogischen Aufbruchs im Fokus seiner Erörterung, noch die sozialfürsorgerischen Instrumente „pädagogischer Provinzen“ als „Schulen besonderer pädagogischer Prägung“. Im Kern interessieren ihn vielmehr die Psychopathologien und die prekäre Familiendynamik des Ehepaars Thomas und Katia Mann sowie ihrer sechs Kinder, von denen fünf zumindest einen Teil ihrer Kinder- oder Jugendzeit in Internatsschulen verbrachten: „Ich wollte wissen […],“ so Kappeler zum Ziel seiner Untersuchung, „welche Anlässe hinter dieser privilegierten Heimunterbringung steckten. Oder einfacher gefragt: Was war los in der Familie Mann, als die Eltern sich entschieden, ihre in die Pubertät gekommenen Kinder aus dem Haus zu entfernen bzw., wie es im verdeckten bürgerlichen Sprachgebrauch heißt, ‚in ein Internat zu geben‘?“ (S. 8f.)

Was Kappeler in zehn Kapiteln vorlegt, ist eine sehr informative, spannend zu lesende und an psychoanalytischen Hypothesen reiche schicksalhafte Homestory einer der kulturell bedeutendsten deutschen Familien in den ersten Jahren der Weimarer Republik. Ihre besondere Überzeugungskraft erhält die Geschichte aus dem Umstand, dass der Leser quasi einbezogen wird in kontroverse Diskussionen um Erziehungsmaßnahmen für unangepasste, am wilhelminischen Schulsystem und der emotionalen Enge des Elternhauses scheiternde Kinder. Er scheint mit am Familientisch zu sitzen, wenn über die Schulwahl oder die Ausbildungsperspektive von Leistungsverweigerern und genialischen Individualisten entschieden wird. Spannend ist dies vor allem deshalb, weil Kappeler sehr plausibel deutlich macht, wie überfordert die Eltern von den vielfältigen Erwartungen einer überaufmerksamen Öffentlichkeit waren und wie verzweifelt sie sich bemühten, die bürgerliche Fassade aufrecht zu erhalten – trotz stehlender, lügender, betrügender und die Werte der Zivilgesellschaft ignorierender Nachkommen.

Das von Kappeler präsentierte Quellenmaterial ist nicht neu und in der Forschung seit Jahren bekannt: Im Wesentlichen stützt sich der Autor auf die einzig überlieferten Tagebücher Thomas Manns aus den Jahren 1918–1921, dessen einschlägige pädagogische und kulturphilosophische Schriften (etwa „Goethe und Tolstoi“ von 1922), vor allem aber auf die autobiografischen Entwürfe, frühen Erzählungen und Stücke des ältesten Sohnes Klaus Mann. Obgleich Kappeler das Material gattungsstrukturell nicht immer seriös deutet (die fiktionalen Texte werden etwa auf die gleiche biografische Weise interpretiert wie die authentischen Lebenszeugnisse), gelingt es ihm, die Dokumente sehr konsequent im Hinblick auf die Familiendynamik und die Pubertätskrisen der Mann-Kinder hin aufzubereiten. Die dadurch entfaltete „andere“ Familiengeschichte offenbart eine mehrdimensionale Chronologie des Scheiterns:

Das erste Kapitel („Was war los in der Familie Mann?“ S. 15–50) führt zunächst in das Drama der Familie ein und stellt mit Thomas Mann den Urheber der emotionalen Katastrophen der Kinder vor. Daran schließen sich die Kapitel: „Die Pubertät – Eine Zeit der großen Ungezogenheit?“ (S. 51–75) sowie die „Herzogpark-Bande“ (S. 76–105) an. Diese Abschnitte dienen nicht nur dazu, mit den Münchner Hauptschauplätzen der Familienvilla Poschi vertraut zu machen. Vielmehr wird hier ein widersprüchlicher Kosmos aus Schulschwierigkeiten, Anpassungsunwilligkeit, inspirierender Peergroup, unmittelbarer krimineller Selbstwirksamkeit und großbürgerlichem Milieu lebendig, der geradezu nach Eskalation in der familiären Dynamik verlangt.

Sehr überzeugend kann Kappeler daran anschließend deutlich machen (Kapitel 4–6: „Zwischen Tolstoi und Goethe“; „Thomas Mann und die Psychoanalyse“; „Reformpädagogische Internatsschulen“), vor welchen ideologischen Horizonten (Reformpädagogik, pädagogischer Humanismus, Jugendbewegung und Psychoanalyse) die Entscheidung der Eltern fällt, die Kinder „in ein Landerziehungsheim zu schicken“ (vgl. S. 91). Insbesondere Thomas Mann wird hierbei als ein aufgeschlossener, kulturkritische Tendenzen unterstützender Literat mit ausgeprägten reformpädagogischen Affinitäten sichtbar.

Das Votum für die Alternativschulen aus dem Umfeld der Landerziehungsheimbewegung erfolgte nach Kappeler keineswegs ausschließlich aus reformpädagogischer Überzeugung. Vielmehr waren es vor allem schichtenspezifische Gründe, die die Eltern für die „pädagogischen Provinzen“ einnahmen (vgl. S. 130): Durch die Auswahl dieser Institute konnten sie ihr Gesicht waren, ohne öffentlich eingestehen zu müssen, dass sie mit den eigenen Erziehungsmaßnahmen gescheitert waren und professioneller Unterstützung bedurften, um ihre entwicklungsauffälligen Kinder wenigstens nach außen hin noch in der Illusion regulärer Beschulung zu belassen.

Überhaupt gelingt es dem Autor immer wieder eindrücklich darauf hinzuweisen, dass Internate beileibe keine romantischen Sehnsuchtsorte des Aufwachsens waren, sondern oft letzte Ankerplätze vor der Katastrophe eines individualisierten Lebens, privilegierte Fluchtstätten und psychosoziale Moratorien für sozial auffällige Sprösslinge aus gutem Hause – mithin „das klassenspezifische Gegenstück zur Heimerziehung proletarischer Kinder“ (S. 9).

Der zweite Hauptteil des Buches widmet sich den Internatserfahrungen der vier ältesten Mann-Kinder (Kapitel 7–9: „Erika und Klaus Mann in der Bergschule Hochwaldhausen“; „Klaus Mann in der Odenwaldschule“; „Golo und Monika Mann im Landerziehungsheim Schloss Salem am Bodensee“). Ausführlich werden die oft provisorischen Verhältnisse in den Landerziehungsheimen der 1920er-Jahre vorgestellt und die Internatsaufenthalte von Erika, Klaus, Golo und Monika nachgezeichnet. Deutlich wird dabei immer wieder, dass die Internate den emotionalen Stress innerhalb der Familie nachhaltig deeskalieren halfen. Tatsächlich erfolgte die Entfernung der Kinder aus dem Elternhaus dabei auch einvernehmlich: Die Geschwister begriffen die Trennung von der Familie nicht als von den Eltern durchgesetzte Zwangsmaßnahmen.

Im zusammenfassenden Epilog (vgl. Kapitel 10) heißt es dazu: „Der Wunsch von Thomas und Katia Mann, ihre ‚schwierigen‘ Kinder professionellen Pädagogen anzuvertrauen, traf sich mit dem Bedürfnis der Kinder nach der Befreiung aus der emotionalen Enge in ihrem ‚weltoffenen‘ Elternhaus und mit ihrem ohnehin starken, entwicklungsbedingten ‚Hunger‘ nach neuen Erfahrungen in anderen sozialen und geografischen Räumen […].“ (S. 262)

Kurzfristig verschafften die Internatsbesuche auch tatsächlich Entspannung. Im Ergebnis aber mussten Eltern und Kinder jedoch unterschiedliche Bilanzen der Jahre ziehen: Das von den Eltern mit den Aufenthalten eigentlich intendierte Ziel, dass sich die Kinder psychisch wie schulisch stabilisieren und für bürgerliche Karrierewege öffnen, wurde nicht erfüllt: „Sie mussten die für sie bittere Erfahrung machen, dass der Anspruch dieser Kinder, ein selbstbestimmtes Leben in der Boheme zu führen, verbunden mit einer deutlichen Absage an ein sogenanntes bürgerliches Leben, in den Internatsschulen noch gestärkt wurde.“ (S. 263)

Für die Kinder stellte sich die Frage nach dem Ertrag freilich anders: Erika kehrte nach den chaotischen Monaten an der Bergschule Hochwaldhausen nach München zurück und verfolgte aufs Neue ihre genialischen Aktivitäten. Klaus setzte bei den Eltern durch, dass ihm ein weiteres Jahr an der Odenwaldschule finanziert wurde, wo er dank verständnisvoller Geduld des pädagogischen Kauzes Paul Geheeb zum Schriftsteller reifte. Auch Golo erlebte die Zeit in Salem als Befreiung von den Bedrückungen des Elternhauses (vgl. S. 229) und fand an der von Kurt Hahn geleiteten Reformschule seine Identität als bekennender Homosexueller.

Auffällig an Kappelers Buch ist, dass sich die Darstellung auf die problematischen Lebenswege der männlichen Hauptakteure verdichtet und der Autor insbesondere am Schicksal des ältesten Sohnes ein überdeutlich empathisches Interesse nimmt, wodurch die Sachlichkeit der Deutung mitunter beeinträchtigt wird.

Ausgespart bleibt leider auch die Skizze von Michaels Lebensweg. Bedauerlich ist dies vor allem deshalb, weil der jüngste Mann-Sohn, 1919 geboren, ungewollt und für den Vater „ein bockiges und uninteressantes Kind“ (vgl. S. 38) ebenfalls im Internat aufwächst und gerade wegen der spannungsreichen psychosozialen Konstellation zum Übervater ein aufschlussreicher Testfall für Kappelers zentrale Hypothese gewesen wäre, dass sich die familiäre Stresssituation in der Münchner Poschingerstraße durch die Heimunterbringung der Kinder tatsächlich entspannte.

Anmerkungen:
1 Jürgen Dehmers, Wie laut soll ich denn noch schreien. Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch, Reinbek 2011.
2 Tilman Jens, Freiwild. Die Odenwaldschule – Ein Lehrstück von Opfern und Tätern, Gütersloh 2011.
3 Christian Füller, Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte, Köln 2011.
4 Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim 2011.
5 Manfred Kappeler, Anvertraut und ausgeliefert. Sexuelle Gewalt in pädagogischen Einrichtungen, Berlin 2011.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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