R. Rollinger (Hrsg.): Herodot und das Persische Weltreich

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Titel
Herodot und das Persische Weltreich. Herodotus and the Persian Empire. Akten des 3. Internationalen Kolloquiums zum Thema „Vorderasien im Spannungsfeld klassischer und altorientalischer Überlieferungen“, Innsbruck, 24.–28. November 2008


Herausgeber
Rollinger, Robert; Truschnegg, Brigitte; Bichler, Reinhold
Reihe
Classica et Orientalia 3
Erschienen
Wiesbaden 2011: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
IX, 827 S.
Preis
€ 118,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
André Heller, Alte Geschichte, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Der vorliegende Band versammelt dreißig Beiträge einer internationalen Konferenz im November 2008 an der Universität Innsbruck. In der beim Harrassowitz-Verlag inaugurierten Reihe „Classica et Orientalia“ sind bisher „Der Achämenidenhof“ (2010) und „Ktesias’ Welt“ (2011) erschienen – ein weiterer Band zu Berossos befindet sich in Vorbereitung –, denen jeweils Fachtagungen zu den Kulturkontakten zwischen dem griechisch-römischen Kulturkreis und dem antiken Nahen Osten zugrunde lagen.1 Aufbau und thematische Breite stellen sie den in der angelsächsischen Welt beliebten „Companions“ gleichwertig zur Seite. Darüber hinaus garantiert die Vielzahl der beteiligten Fächer (Alte Geschichte, Klassische Philologie, Iranistik, Altorientalistik und Vorderasiatische Archäologie) eine unterschiedliche Herangehensweise an Thematik und Autor. Die Beiträge zu Herodot und seiner Sicht auf Persien sind vier Themengruppen zugeordnet: „Der Anblick der persischen Macht – und ihre Wirkung auf die griechische Welt“, „Die ethnographische Erfassung des Perserreichs“, „Das Bild der epichorischen Quellen und der archäologische Befund“ sowie „Der dynastische Aspekt und die Ausbreitung der Herrschaft bis zur Ionischen Erhebung“. Abschließend steht eine „Schlussbetrachtung“ Reinhold Bichlers (S. 779–798) mit den zentralen Aussagen der Beiträge. Im Folgenden sollen einige Aufsätze kurz zur Sprache kommen.

Kai Ruffing („Herodot und die Wirtschaft des Achaimeniden-Reichs“) konstatiert, dass es die persische Wirtschaft nicht gegeben habe. Antikem wie modernem Betrachter fehle vor allem der Zugriff. Dagegen ließe sich Herodots Charakterisierung des Kyros als Vater, des Kambyses als Despot und des Dareios als Krämer sowie die persische Tributliste insgesamt als Zeitkritik am perikleischen Athen und dem Delisch-Attischen Seebund begreifen. Auch Stephanie West („Herodotus’ Sources of Information on Persian Matters“) spricht Herodots Tributliste Historizität ab, sie diene vor allem dazu, die gewaltigen Ressourcen des Reiches aufzuzeigen. In die gleiche Richtung ziele die Aufgebotsliste des Xerxes, die als Instrument der Verherrlichung des athenischen Sieges sowie der Betonung der ethnischen Vielfalt zu interpretieren sei. Herodot habe häufiger auf Dichter als Quellen zurückgegriffen, als er dies selbst angibt. Als Bildquelle für die persische Armee dürfte er zudem das Gemälde im Heraion von Samos herangezogen haben. Für die Umstände der Thronbesteigung Dareios’ seien keine Quellen vonnöten, da diese Stoff populärer Erzählungen gewesen seien.

Michael Jursa („Taxation and Service Obligations in Babylonia from Nebuchadnezzar to Darius and the Evidence for Darius’ Tax Reform“) konfrontiert Herodots Angaben zum Tribut Babyloniens mit der keilschriftlichen Evidenz, in der Tribute keine Rolle spielten, sondern andere Wirtschaftsformen dominierten. Von der überragenden wirtschaftlichen Bedeutung der Tempel findet sich keine Spur bei Herodot. Die Summe von 1.000 Talenten Silber jährlich hätte, so Jursa, dem Lohn von 60.000 Arbeitern oder Soldaten entsprochen (S. 444 mit Anm. 75). Rüdiger Schmitt („Herodot und iranische Sprachen“) lehnt die oft postulierten Fremdsprachenkenntnisse Herodots ab; als Quelle für skythische Vokabeln scheide er aus, da sich die gebotenen Wörter nicht sicher etymologisieren ließen, dies gelte auch für vermeintlich iranische Wörter wie akinakes, anaxyrides und selbst die Tiara. Kenntnisse skythischer Mythen könnten Herodot in den Schwarzmeer-Kolonien oder in Athen selbst zu Ohren gekommen sein. Andererseits werde Herodot auch zu Unrecht kritisiert: So sei seine Aussage, alle persischen Eigennamen endeten auf -s (Hdt. 3,98,3) in seiner Sicht richtig, während griechische Namen andere Endungen besaßen; auch die Analyse persischer Königsnamen lege nicht deren iranische Ausgangsform, sondern die griechische Wiedergabe zugrunde (S. 334ff.). Sprachwissenschaftliche Kritik sei hier fehl am Platze, weil sie nicht Herodots Intention entspräche. Günter Vittmann hat sich die Mühe gemacht, alle indigenen Quellen zu „Ägypten zur Zeit der Perserherrschaft“ zusammenzutragen und zu kommentieren. Ein groteskes Detail ist, dass der Name der von Herodot erwähnten ägyptischen Prinzessin Nitetis auch der einer im 33. Jahr des Dareios bestatteten Apis-Kuh war (S. 393).

Allein vier Beiträge widmen sich Babylon und dem archäologischen Befund: Wouter Henkelman, Amélie Kuhrt, Robert Rollinger und Josef Wiesehöfer („Herodotus and Babylon Reconsidered“) kommentieren kritisch das Babylon-Bild Herodots und die Zerstörungen durch Xerxes, die sie im Einklang mit den meisten Forschern ablehnen, und liefern somit die theoretische Grundlage zu den folgenden drei Beiträgen. Sandra Heinsch, Walter Kuntner und Robert Rollinger („Von Herodot zur angeblichen Verödung babylonischer Stadtviertel in achaimenidischer Zeit“) kritisieren, dass das nachweisbare Abbrechen von „Familienarchiven“ in nordbabylonischen Städten als Beleg für Zerstörungen durch Xerxes reklamiert werde; ebenso lehnen sie mit überzeugenden Argumenten eine jüngst von Heather Baker durch Interpretation des archäologischen Befundes vertretene These, im Merkes-Viertel sei ab Xerxes ein spürbarer Niedergang sowie Beschädigungen am Tempel der Ištar von Akkadê nachweisbar, als spekulativ und methodisch problematisch ab.2 Die Annahme sei „das Ergebnis jenes vorgefassten Meinungsbildes zur Geschichte Babylons, das schon die Ausgräber an die Interpretation der Befunde anlegten und dessen Wirkungsmacht in erster Linie Herodots Historien zu verdanken ist“ (S. 490). In die gleiche Richtung stoßen Sandra Heinsch und Walter Kuntner („Herodot und die Stadtmauern Babylons“), die abschließend darauf hinweisen, dass die postulierte Gleichzeitigkeit der Stadtmauerstrukturen einer archäologischen Überprüfung nicht standhalte, sondern eine das gesamte 1. Jahrtausend v.Chr. umspannende Baugeschichte vorliege; von der aus Herodot geschlossenen Verlagerung des Euphratbettes müsse endgültig Abschied genommen werden (S. 525f.).

Hoch interessant ist der Beitrag von Wilfrid Allinger-Csollich: Er überprüft anhand der eigenen Grabungen am Stufenturm Borsippas die Interpretation der Grabungsergebnisse von Robert Koldewey/Friedrich Wetzel und Hansjörg Schmid an Etemenanki, wobei er anders als die damaligen Ausgräber die antiken Berichte außer Acht lässt. Es gebe weder nachweisbare Bauphasen an Etemenanki noch sei das untersuchte Gebäude jemals höher gewesen als von den Ausgräbern vorgefunden – nämlich sechs Meter! Auch Zerstörungsspuren fehlten, es lasse sich lediglich ein stetiger Abbau des Materials nachweisen. Eine mögliche Erklärung sei, dass Herodot ein, auf mündlicher Tradition beruhendes Bild eines Stufenturms wiedergegeben habe, wie wir ihn durch die Esagil-Tafel kennen (S. 555).

Wouter Henkelman („Cyrus the Persian and Darius the Elamite: a Case of Mistaken Identity“) weist durch sprachwissenschaftliche Analyse die Annahme zurück, dass unter Kyros eine elamisch geprägte Herrschaft vorliege, während mit Dareios I. das persische Element in den Vordergrund getreten sei. Der Titel „König von Anšan“ sei ein elamisches, archaisierendes Relikt, da diese Region sei schon im 7. Jahrhundert unter persische Kontrolle geraten sei. Es sei zu einer Verschmelzung elamisch-persischer Kultur und Sprache gekommen, die auch unter Dareios nachweisbar bleibe, dessen Rückgriff auf die arische Abkunft als einigendes Element habe dienen sollen. Bruno Jacobs („Kyros der große König, der Achämenide“) argumentiert überzeugend für eine zumindest entfernte Verwandtschaft zwischen Kyros und Dareios I.3 Dieser sei kaum in der Lage gewesen, neben der eigenen auch die Genealogie des Reichsgründers Kyros zu fälschen. Die feststellbaren Brüche zwischen der Zeit des Kyros und des Dareios ließen sich auch anders erklären und deuteten nicht auf eine Zäsur hin. In der Frage der Identität des Smerdis spricht sich Jacobs vorsichtig dafür aus, dass ein Mager namens Gaumata 522 den Thron usurpiert habe. Gundula Schwinghammer („Die Smerdis-Story. Der Usurpator, Dareios und die Bestrafung der Lügenkönige“) möchte in der Tatsache, dass der Leichnam des Bardiya/Gaumata laut Behistun-Inschrift nicht gepfählt und öffentlich zur Schau gestellt wurde, die alte Theorie bestätigt sehen, dass Dareios gegen den Bruder des Kambyses, also gegen dessen legitimen Nachfolger geputscht habe, denn das Ausstellen hätte Ähnlichkeiten mit Kambyses offenbaren können. Aus der Art der Bestrafung (Pfählen, Verstümmeln) lasse sich auch auf die Gefährlichkeit der jeweiligen Usurpatoren schließen.

Dilyana Boteva („Re-reading Herodotus on the Persian Campaigns on Thrace“) bietet interessante Überlegungen zu den Operationen des Dareios und Xerxes in Thrakien. In Rückgriff auf einen kaum beachteten russischen Aufsatz4 möchte sie die in der „Dynastischen Prophetie“ erwähnten Kämpfe zwischen einem König und Truppen aus Hanî nicht auf den Krieg zwischen Dareios III. und Alexander dem Großen5, sondern auf Operationen Dareios’ I. in Thrakien beziehen. Da Seleukos I. nach der babylonischen Königsliste in Hanî, nach antiken Quellen in Lysimacheia ermordet wurde, hätten Dareios’ Operationen, die Megabazos durchführte, um 515 v.Chr. im Hinterland der nördlichen Propontis stattgefunden (S. 744f.). Diese Interpretation ist nicht nur aus inhaltlichen Gründen abzulehnen, sondern auch, weil der Begriff Hanî, der etwa „Westland“ bedeutet, nicht auf diese Weise verstanden werden kann.6

Der Sammelband zeigt deutlich, dass es weder dem Wert noch dem Inhalt der Historien Herodots gerecht wird, sie auf Verwertbarkeit und Richtigkeit der Informationen zu reduzieren. Die Faszination Herodots und die Bedeutung seines Werkes bestehen insbesondere darin, dass trotz der unüberschaubaren Literaturfülle immer neue Facetten entdeckt werden können. Abschließend sei Schmitt zitiert: „Wir sollten Herodot dankbar sein für sein Interesse an sprachlichen Fragen aller Art, denn das reiche Material, das sein Werk enthält, auch zu iranischen Sprachen, hat ältere Forscher allezeit – schon in der Antike, dann bei den Anfängen der Keilschriftentzifferung und bis heute – zu eigenen Beobachtungen und zu weiterem Nachdenken veranlaßt“ (S. 336). Dies wird an allen, in diesem höchst anregenden Band behandelten Themen sichtbar.

Anmerkungen:
1 Josef Wiesehöfer / Robert Rollinger / Giovanni B. Lanfranchi (Hrsg.), Ktesias’ Welt. Ctesias’ world (=Classica et orientalia 1), Wiesbaden 2011; Bruno Jacobs / Robert Rollinger (Hrsg.), Der Achämenidenhof. The achaemenid court. Akten des 2. Internationalen Kolloquiums zum Thema „Vorderasien im Spannungsfeld Klassischer und Altorientalischer Überlieferungen“, Landgut Castelen bei Basel, 23.–25. Mai 2007 (=Classica et orientalia 2), Wiesbaden 2010.
2 Heather Baker, Babylon in 484 B.C.: the Excavated Archival Tablets as a Source for Urban History, in: Zeitschrift für Assyriologie und Vorderasiatische Archäologie 98 (2006), S. 100–116; dies., A Waste of Space? Unbuilt Land in the Babylonian Cities of the First Millenium BC, in: Iraq 71 (2009), S. 89–98.
3 Dies würde die Notwendigkeit, statt von persisch von teispidisch-achaimenidisch zu sprechen, hinfällig machen; vgl. dazu vor allem Robert Rollinger, Der Stammbaum des achaimenidischen Königshauses, oder: die Frage der Legitimität der Herrschaft des Dareios, in: Archäologische Mitteilungen aus Iran und Turan 30 (1998), S. 155–209.
4 Claudio Masetti, Voina Darija I so Skifami i babilonskaja proročeskaja literatura, in: Vestnik drevnej istorii 161 (1982), S. 106–110.
5 Zu den Operationen jetzt auch Christopher Tuplin, Revisiting Dareios’ Scythian Expedition, in: Jens Nieling / Ellen Rehm (Hrsg.), Achaemenid Impact in the Black Sea. Communication of Power, Aarhus 2010, S. 281–312, der S. 295 mit Anm. 46 Masettis These ablehnt (online: <http://www.pontos.dk/publications/books/bss-11-files/bss-11-tuplin>; Stand: 03.09.2012). Zur Interpretation der Prophetie zuletzt André Heller, Das Babylonien der Spätzeit (7.–4. Jh.) in den klassischen und keilschriftlichen Quellen, Berlin 2011, S. 426–433.
6 In einem Astronomical Diary ist Alexander „König von Hanî“, womit Makedonien gemeint sein muss, vgl. Giuseppe F. Del Monte, Testi della Babilonia Ellenistica, Bd. 1: Testi Cronografici, Pisa 1997, S. 7. Die in babylonischen Texten hellenistischer Zeit immer wieder genannten „Truppen aus Hanî“ meinen ebenso makedonische Soldaten. Zum Begriff Hanî vgl. Heller, Babylonien der Spätzeit, S. 422ff.

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