F. Bozo u.a. (Hrsg.): Visions of the End of the Cold War in Europe

Cover
Titel
Visions of the End of the Cold War in Europe, 1945-1990.


Herausgeber
Bozo, Frédéric; Rey, Marie-Pierre; Ludlow, N. Piers; Rother, Bernd
Reihe
Studies in Contemporary European History
Erschienen
Oxford 2012: Berghahn Books
Anzahl Seiten
372 S.
Preis
€ 72,07
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Jan Hansen, Humboldt-Universität zu Berlin

Das Nachdenken über Möglichkeiten, wie der Kalte Krieg überwunden werden könnte, ist so alt wie dieser Konflikt selbst. Seitdem die Welt in zwei sich feindlich gegenüberstehende ideologische Blöcke zerfiel und mitten durch Europa ein „Eiserner Vorhang“ verlief, entwickelten Politiker, Intellektuelle und zivilgesellschaftliche Bewegungen Auswege aus diesem Gegensatz. Diese Konzepte liefen meist darauf hinaus, dass die westliche oder östliche Ideologie die Oberhand erringen oder ein sogenannter „dritter Weg“ den Systemgegensatz von Demokratie und Kommunismus transzendieren sollte.

Der vorliegende Sammelband untersucht diese „Visions of the End of the Cold War in Europe“ systematisch im Zeitraum von 1945 bis 1990. Der Band, der auf eine 2009 in Paris stattgefundene internationale Konferenz zurückgeht, nimmt aus einer interdisziplinären Perspektive jene Vorstellungen in den Blick, die die Ordnung von „Jalta“ überwinden wollten. Das große Verdienst des Bandes ist es, dass er das Ende des Kalten Krieges aus einer historiografisch überaus fruchtbaren, aber bislang noch viel zu selten eingenommenen Perspektive denkt: den Visionen und Narrativen aus 45 Jahren Systemgegensatz, wie der Status quo verändert werden könnte.

In ihrer präzisen wie instruktiven Einleitung umreißen die Herausgeber ihr Untersuchungsinteresse, das darauf gerichtet ist, wie „statesmen, diplomats, politicians, academics and others had reflected on ways of ending the East-West conflict and overcoming its undesirable consequences“ (S. 2). Diese Fragestellung wird von allen Beiträgen erfreulich konsequent durchgehalten. Daneben legen die Herausgeber auch Wert auf die Betonung, dass die untersuchten Repräsentationen nicht nur Antizipationen der Überwindung der Ordnung, sondern auch politische Meinungsäußerungen in einem spezifischen historischen Kontext waren. Gleichzeitig möchten sie danach fragen, was die Vorstellungen tatsächlich zum Ende des Kalten Krieges beigetragen haben.

Der Sammelband setzt sich aus sieben thematischen Abschnitten zusammen, die insgesamt 21 Aufsätze umfassen und anhand chronologischer Aspekte organisiert sind. Die hohe Zahl der Beiträge und ihr jeweils überschaubarer Umfang verweisen auf den Anspruch der Herausgeber, den Gegenstand möglichst umfassend zu behandeln – was den Band in die Nähe eines Handbuches rückt. Alle Aufsätze sind von international renommierten Experten geschrieben und argumentieren mit multiarchivalischer Quellenkenntnis. Sie bewegen sich auf der Höhe der Forschung und fügen ihr teilweise neue Erkenntnisse hinzu.

Das Spektrum der Beiträge ist weit gefächert. Es reicht thematisch von offiziellen Verständigungsversuchen über die Blockgrenzen hinweg bis zu oppositionellen Vorstellungen vom Ende des Kalten Krieges, geographisch von der Sowjetunion und ihrem osteuropäischen Machtbereich über Westeuropa bis hin zu den Vereinigten Staaten. Dieser Anspruch, die Imaginationen einer Post-Jalta-Ordnung auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ und des Atlantiks zu untersuchen, ist eine große Stärke des Sammelbandes.

Sowjetische Vorstellungen von der Überwindung der Blockkonfrontation stehen im Mittelpunkt der Beiträge von Geoffrey Roberts, der die Verständigungsversuche Moskaus in den 1950er Jahren analysiert, und von Vladislav Zubok, in dessen Beitrag die Haltung der Dissidenten um Michail Botwinnik, Lew Landau und Andrei Sacharow zum Kurs ihres Landes beleuchtet wird. Amerikanische Einstellungen zur Planung einer neuen Weltordnung untersuchen John Harper am Beispiel von George Kennan und Jaclyn Stanke anhand der Reaktionen der Eisenhower-Administration auf Stalins Tod und sich hier bietende Möglichkeiten einer Einigung mit der Sowjetunion. Beth Fischer und Marilena Gala schließlich rücken in zwei brillanten Aufsätzen Ronald Reagan und seinen Anteil am Ende des Kalten Krieges in den Fokus.

Die Beiträge über westeuropäische Ideen und Konzepte nehmen naturgemäß den größten Raum ein in diesem Sammelband. Denn Westeuropa fand sich an der Nahtstelle der Auseinandersetzung der Supermächte und musste befürchten, zum Schauplatz einer nuklearen Eskalation des Systemwettstreits zu werden. Dies bedingte ein intensives Nachdenken über Alternativen zum Kalten Krieg. Der vielleicht wichtigste Ausweg, der von den Zeitgenossen diskutiert wurde, war die Vertiefung und Beschleunigung der (west)europäischen Integration, wie die Beiträge über das politische Denken von Charles de Gaulle (Garret Martin) und Franz Josef Strauß (Ronald Granieri) vorführen.

Eine andere Stärke dieses Sammelbandes ist es, dass viele Beiträge transnationale Aspekte thematisieren. Der Aufsatz von Marie-Pierre Rey über die Reaktion der französischen Linken auf Michail Gorbatschows Reformprogramm und dessen dramatische Auswirkungen ist ein schönes Beispiel, was die transnationale Geschichtsschreibung leisten kann. Auch Bernd Rothers Aufsatz über Willy Brandts Eintreten für Rüstungskontrolle, Abrüstung und Gemeinsame Sicherheit in der Sozialistischen Internationale als einer supranationalen Organisation thematisiert solche Transfers auch über Blockgrenzen hinweg. Der lesenswerte Text von Thomas Gijswijt schließlich untersucht mit der Bilderberg Group explizit ein transatlantisches Netzwerk von nordamerikanischen und westeuropäischen Außenpolitikern.

Die meisten Beiträge dieses Sammelbandes sind aus der Perspektive der Geschichte der internationalen Beziehungen geschrieben. Ihnen liegt ein Begriff des Politischen zugrunde, der politisches Denken und Handeln zuvorderst auf der Ebene von Staatsmännern und -frauen verortet. Deshalb untersuchen die Beiträge meist Vorstellungen vom Ende des Kalten Krieges ausgehend von einer historischen Persönlichkeit, mit der allgemeine Aussagen über die jeweiligen Regierungen und Staaten entwickelt werden. Auch wenn der Zugang nicht über Personen, sondern über Institutionen erfolgt – wie bei Angela Romano über die Europäische Gemeinschaft im KSZE-Prozess –, bleibt die Analyse auf staatliches Handeln gerichtet.

Diese Fixierung auf „decision-makers or thinkers“ (S. 2) hat zur Folge, dass die meisten Aufsätze die Gesellschaften dies- und jenseits des „Eisernen Vorhangs“ nicht wirklich in den Blick nehmen. Selbst diejenigen Beiträge, die Akteure jenseits der staatlichen Ebene untersuchen, interessieren sich vorrangig für die politischen, wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Eliten. Immerhin zeigen die Beiträge von Gregory Domber über die polnische Oppositionsbewegung und von Christian Domnitz über den tschechoslowakischen Dissidenten Jiří Hájek das Potential auf, das in einer Untersuchung solcher Akteure steckt.

Interessant wäre es gewesen, gesellschaftliche Graswurzelbewegungen konsequent mit zu berücksichtigen und zu fragen, welche spezifischen Vorstellungen vom Ende der Blockkonfrontation dort vorherrschten und wie sich diese von den Repräsentationen der Eliten unterschieden. Ein prominentes Beispiel sind die Friedensbewegungen der 1980er Jahre in Nordamerika, West- und Osteuropa, die weitgehend unberücksichtigt bleiben.

Dennoch liegt mit diesem Sammelband ein gelungener Versuch vor, den ohnehin schon zahlreichen Analysen über das Ende des Kalten Krieges einen neuen Aspekt hinzuzufügen: In jeder Phase der ideologischen Auseinandersetzung gab es dies- und jenseits des „Eisernen Vorhangs“ ein tiefes Unbehagen gegenüber der Blockkonfrontation, das auch vor den jeweiligen Staatsführungen nicht Halt machte. Das in diesem exzellenten Buch erstmals versammelte, reichhaltige und vielschichtige Panorama von Vorstellungen einer alternativen Weltordnung verdeutlicht dies auf höchstem Niveau.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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