T. Neu: Erschaffung der landständischen Verfassung

Cover
Titel
Die Erschaffung der landständischen Verfassung. Kreativität, Heuchelei und Repräsentation in Hessen (1509–1655)


Autor(en)
Neu, Tim
Reihe
Symbolische Kommunikation in der Vormoderne 3; Studies Presented to the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions 93
Erschienen
Köln 2013: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
581 S.
Preis
€ 79,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Seresse, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität Kiel

Wer nach flüchtigem Blick auf den Titel das hier besprochene Werk leicht gelangweilt in der Schublade „noch ’ne Ständegeschichte“ ablegt, begeht einen Fehler. Wer den Titel aufmerksam liest und von der Formulierung „Erschaffung [also nicht: Entstehung] der landständischen Verfassung“ auf einen kulturgeschichtlich beeinflussten Ansatz schließt, liegt richtig. Wer neugierig wird wegen der Verknüpfung von „Kreativität, Heuchelei und Repräsentation“, ist auf dem besten Wege zu einer höchst inspirierenden Lektüre – und zwar inspirierend für gleich mehrere geschichtswissenschaftliche Teildisziplinen: Die hessische und die vergleichende Landesgeschichte; die auf die Frühe Neuzeit bezogene „neue Politikgeschichte“ oder „Kulturgeschichte des Politischen“; die deutsche Verfassungsgeschichte. Und wer einfach nur den Wunsch und die Muße hat, wieder einmal über Kontinuität und Diskontinuität als Verstehenskategorien der Geschichte nachzudenken, wird hier ebenfalls Anregung finden.

(Dis-)Kontinuität: Es kennzeichnete die politische Kultur Europas bis weit ins 18. Jahrhundert hinein, dass die Akteure beteuerten, ihr Handeln und ihre Institutionen entsprächen dem Herkommen. Auch und manchmal gerade diejenigen, welche etwas Neuartiges taten oder schufen, betonten die legitimierende Konformität mit der Vergangenheit. Dieses allgemeine Kennzeichen vormoderner politischer Kultur stellt eine inhaltliche und methodische Herausforderung für jeden dar, der sich mit der (Entstehungs)geschichte von Landständen befasst. Denn nicht nur frühneuzeitliche Landstände waren bemüht, ihre Existenz und ihre Rechte durch die Behauptung historischer Kontinuität und den Versuch ihres Nachweises zu fundieren; auch heutige deutsche Landtage suchen verständlicherweise nach parlamentarischen Traditionen. Wie auch immer motiviert – das Denkmuster der Kontinuität stellt ein Problem dar, namentlich für die Entstehungsgeschichte landständischer Verfassungen, denn zu einem bestimmten Zeitpunkt müssen sie naturgemäß neuartig gewesen sein, Diskontinuität verkörpert haben.

Tim Neu, der die vorliegende Arbeit zur Genese der landständischen Verfassung in Hessen(-Kassel) als Dissertation in Münster vorgelegt hat, stellt das methodische Problem nicht nur klar dar, sondern begegnet ihm auch systematisch und durchdacht. Er untersucht die Verfassung ausdrücklich als Verfassung in fieri, also im Vorgang des Gemachtwerdens; besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der „Inszenierung von Kontinuität“ (S. 1) durch die Akteure des 17. Jahrhunderts.

Nach der Einleitung geht es in Kapitel 2 zunächst um die bisherige Erforschung der deutschen Ständegeschichte. Der einschlägige Abschnitt (S. 15–63) stellt nicht nur eine forschungs- und problemorientierte Hinführung zum Gegenstand der Arbeit dar, sondern lässt sich auch allgemeiner als konzise Einführung in dieses Großthema der Landesgeschichte lesen. Nicht zuletzt werden hier die etablierten und zu Recht kritisierten Begriffe „Repräsentation“ und „Dualismus“ aufgenommen, definiert und für die vorliegende Studie in Dienst genommen. Neu erarbeitet dann schrittweise, was er unter landständischer Verfassung versteht: „Eine landständische Verfassung ist dann gegeben, wenn der allgemeine Landtag als die institutionelle Form, in der die Gesamtheit der (sozialständisch heterogenen) Landstände als korporativer Träger politischer Teilhaberechte und Repräsentant des Gemeinwesens auf- und dem Landesherrn gegenübertritt, gleichermaßen in der politischen Praxis effektiv verankert und normativ anerkannt ist.“ (S. 93)

Landtagsabschiede, -akten und verwandte Quellen dienen als Materialgrundlage für die drei chronologisch aneinander anschließenden Hauptkapitel der Arbeit (S. 97–476). In ihnen wird die genannte Definition konsequent auf das hessische Beispiel angewandt, um die „Verfassungsgenese als politische Praxis“ (S. 500) zu erhellen und zu begreifen. Neu stellt jeweils die wesentlichen Etappen der Ereignisgeschichte vor und beleuchtet dann detailliert, was konkret strittig war und wie argumentiert wurde. Er kommt zunächst zu dem Ergebnis, dass die ständischen Einungen während des Vormundschaftsstreites 1509–1514 nicht in eine dauerhafte Institutionalisierung mündeten. Erst die in der Landgrafschaft erhobenen Reichssteuern etablierten seit ca. 1530 den allgemeinen Landtag, der jedoch keine exklusive Geltung erlangte, sondern nur eine von mehreren ständischen Versammlungsformen blieb. Neu konstatiert daher folgerichtig bis Ende des 16. Jahrhunderts ausdrücklich keine landständische Verfassung, sondern eine „Form ständisch supplementierter Fürstenherrschaft“ (S. 174). Von etwa 1590 bis 1623 dagegen kam es, maßgeblich befördert durch einen innerhessischen Erbfolgekonflikt, in Hessen-Kassel zur Herausbildung der landständischen Verfassung im oben genannten Sinne: Besonders hier kann Neu die im Untertitel erwähnte „Heuchelei“1 diagnostizieren, denn die neuartige Institution des Hessen-Kasseler Landkommunikationstages wurde als dem Herkommen gemäß ausgegeben. In den bekannten Auseinandersetzungen der 1620er-Jahre und ab 1646 fand dann die letzte Ausgestaltung und Präzisierung der Verfassung statt, beeinflusst durch die mittlerweile entfaltete gelehrte Debatte um landesherrliche und ständische Rechte. Am Ende stand 1655 eine Vereinbarung zwischen Landgraf und Landständen: Seitdem war die Gesamtheit der Landstände als Repräsentantin des Landes eine dem Gemeinwohl verpflichtete und daher anerkannte persona publica. „Der Fürst war Herrschaftsträger kraft seiner Landeshoheit, die Ständegesamtheit kraft ihrer Landesrepräsentation.“ (S. 422) Damit war die landständische Verfassung auf Basis des seinerzeit neuesten Standes der Herrschaftstheorie ausformuliert – und hatte Bestand bis ans Ende des Ancien Régime.

Neu zieht zur Analyse des ständischen und vor allem ritterschaftlichen Argumentierens immer wieder sozialtheoretische Modelle heran; das geschieht auf behutsame Weise und stets auf ein geschärftes Verständnis der Phänomene hin ausgerichtet.

Das Schlusskapitel bietet nach der Zusammenfassung einen expliziten Beitrag für die künftige Forschung, indem die genutzten Definitionen, Ergebnisse und Anregungen noch einmal pointiert dargeboten werden. Auf den letzten Seiten schlägt Neu noch einmal den Bogen zur ineinander verschränkten verfassungsgeschichtlichen Kontinuität und Diskontinuität.

Das beeindruckende Reflexionsniveau dieser Studie geht einher mit kompositorischer und inhaltlicher Stringenz (und übrigens auch ausgezeichneter sprachlicher Qualität). Alle oben genannten Teildisziplinen werden von den definitorischen Leistungen und den in systematischer Arbeit erzielten Ergebnissen dieser inspirierenden Studie profitieren, sei es in Anlehnung oder Widerspruch.2 Wer sich auf dieses Buches einlässt, wird es nicht bereuen.

Anmerkungen:
1 Neu verwendet diesen Begriff, um zu bezeichnen, dass Kontinuität bzw. die Übereinstimmung neuartiger Regelungen mit älteren Zuständen fingiert wurde. „Heuchelei“ erscheint mir insofern nicht glücklich gewählt, als der Begriff negativ konnotiert ist und mit der bewussten Vorspiegelung falscher Tatsachen sowie der Erschleichung eines Vorteils verbunden wird. Ob den Akteuren aber tatsächlich immer ganz klar war, inwiefern ihre Traditionslinien fiktiv waren, muss offen bleiben. Erst recht lässt sich die Absicht der Täuschung nicht nachweisen. Der Rezensent gesteht aber gerne ein, dass ihm bislang kein passenderer Begriff eingefallen ist.
2 Apropos Widerspruch: Es beeindruckt nicht zuletzt die kenntnisreiche und differenzierte Auseinandersetzung mit der Forschung in Haupttext und Fußnoten.

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