J. Flemming u. a. (Hrsg.): Lebenswelten im Ausnahmezustand

Cover
Titel
Lebenswelten im Ausnahmezustand. Die Deutschen, der Alltag und der Krieg, 1914–1918


Herausgeber
Flemming, Jens; Saul, Klaus; Witt, Peter-Christian
Reihe
Zivilisationen und Geschichte 16
Erschienen
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Jasper, Tübingen

Mit der vorliegenden Materialsammlung zum Ersten Weltkrieg widmen sich die Herausgeber dem Thema des „Alltags im Ausnahmezustand“ des Krieges. Die präsentierten Texte sollen Einblick in die Lebenswelten der Frauen und Männer geben, die sie verfasst haben und sie zeigen nach Überzeugung der Herausgeber, mit welchen Strategien die Schreiberinnen und Schreiber versucht haben, die Ausnahmesituationen des Krieges zu bewältigen.

Neben einer 17 Seiten umfassenden Einleitung, die im Wesentlichen auf einem Aufsatz beruht, den Jens Flemming 2007 veröffentlicht hat, findet man auf den folgenden Seiten verschiedenste Materialien zum Ersten Weltkrieg gesammelt. Diese in ihrem Charakter sehr unterschiedlichen Quellen gliedern die Herausgeber in zehn weitgefächerte Themenfelder wie „Anfang und Ende“ (des Ersten Weltkrieges) und „Heimatfront, Konfliktfelder, Opfer“, um nur einige zu nennen. Diese Großthemen sind durch zugeordnete Unterthemen konstituiert, so dass das Material unter insgesamt 43 Aspekten präsentiert wird. Der Quellensammlung sind biographische Hinweise zu den Autoren der Quellen (S. 341–350), eine Auswahlbibliographie zum Ersten Weltkrieg (S. 351–355) sowie ein Personen- und Sachregister (S. 356–368) beigefügt.

Die Texte unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht. Es sind nicht nur Quellen aus den Jahren 1914 bis 1918, sondern auch Texte aus den Jahrzehnten danach abgedruckt. Auch das Spektrum der Quellengattungen ist sehr breit. Ein Roman wird neben Briefauszügen präsentiert, Kommentare aus Zeitungen finden sich neben Truppengeschichten. Während viele Texte somit schon öffentlich zugänglich waren, handelt es sich bei etwa einem Drittel der Quellen um bisher unveröffentlichtes Material, hauptsächlich aus den Staatsarchiven Hamburg und Osnabrück.

Angesichts der Vielfalt von Quellengattungen und den weit über die Zeit des Ersten Weltkrieges hinausgehenden Entstehungszeiträumen der Texte wäre deren Einordnung durch Bereitstellung von möglichst präzisen Hintergrundinformationen hilfreich gewesen. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn man über einen Autor wie Erich Edwin Dwinger lediglich erfährt, dass er Schriftsteller gewesen sei. Erst Hinweise auf Dwingers Biographie, seine Perspektive und die Wirkung seiner wichtigsten Werke würden eine Einordnung seines Textes ermöglichen. Das Material wird präsentiert, aber nicht ausreichend kommentiert, ein Problem, das sich wie ein roter Faden auch durch die Einleitung zieht.

Über die Feldpost liest man zum Beispiel auf Seite 15: „Sie (die Feldpostbriefe; Anm. des Verfassers) sind“, wie 1916 der Historiker Walter Goetz befindet, „Zeugnisse der Ereignisse“ und „Prüfsteine der Gesinnung“. Als Quellenangabe findet man in Fußnote 25: „Walter Goetz, Deutschlands geistiges Leben im Weltkrieg, Gotha 1916, S. 38.“ Die volle Übereinstimmung des Verfassers mit der Sichtweise von Walter Goetz, die in der Verwendung des Indikativs („Die Feldpostbriefe sind Zeugnis der Ereignisse“) zum Ausdruck kommt und auf eine Problematisierung der Perspektive und Aussageabsicht von Goetz völlig verzichtet, zeugt nicht von kritischer Distanz. Zwar erfährt man über das Personenverzeichnis, dass Goetz nicht nur ein in der Heimat sitzender Historiker war, sondern auch im Rang eines Bataillonskommandeurs als Soldat am Krieg teilnahm, aber die Deutung dieser Information, ja ihre Berücksichtigung in der Darstellung, bleibt aus.

Am Ende der Einleitung wird behauptet, der „diffuse, differenzierte und voller Ungleichzeitigkeiten“ steckende Alltag entziehe sich einer „stringenten Kategorisierung“ (S. 26). Hier sind mit Blick auf sehr strukturierte und stringent kategorisierte Arbeiten aus dem Bereich der Alltagsgeschichte, wie sie Alf Lüdtke und Hans Medick vorgelegt haben, Zweifel angebracht.1 Es bleibt zu fragen, ob die Schwierigkeiten, das erkenntnisleitende Interesse zu formulieren, nicht in viel stärkerem Maß für die Probleme bei einer schlüssigeren Gliederung des Materials verantwortlich waren, als der sich in den Quellen angeblich abbildende diffuse Charakter des Alltages. Nach Überzeugung der Verfasser ist das ein nachgeordnetes Problem: „Dieser Mangel jedoch, wenn es denn einer ist, wird aufgewogen durch Unmittelbarkeit, Anschauung, durch Leben.“(S. 26) Der Glaube an die unmittelbare Anschaubarkeit vergangenen Lebens durch (oder über) Quellentexte kommt auch in der Formulierung zum Ausdruck, Texte „spiegelten“ Erfahrungen der Betroffenen wider. Dieses Bild von Quellen (als Spiegel der Vergangenheit) und der daraus resultierende Umgang mit ihnen sind befremdlich. Texte sind sicher nicht nur von Erfahrungen unberührte Konstruktionen, aber auch nicht nur spiegelnde, das heißt seitenverkehrte Abbildungen dieser Erfahrungen.

Der weitgehende Verzicht der Herausgeber auf die Bereitstellung nötiger Hintergrundinformationen sowie die fehlende Reflexion über den Charakter der einzelnen Quellen zwingen den Benutzer, die kritische Einordnung des Materials selbst zu leisten. Unabhängig davon ist die Bereitstellung bisher nicht veröffentlichter Texte zum Ersten Weltkrieg sehr willkommen.

Anmerkung:
1 Vgl. Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrung und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, und Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900. Lokalgeschichte als allgemeine Geschichte (Veröffentlichungen des Max-Plank-Instituts für Geschichte, Bd. 126), Göttingen 1996.