Cover
Titel
Hyperactive. The Controversial History of ADHD


Autor(en)
Smith, Matthew
Erschienen
London 2012: Reaktion Books
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
£25.00 / € 33,73
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Raphael Zahnd, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

„[…] to Dashiell, who bounced his way through the writing of this book“ (S. 4). Matthew Smiths Widmung ist nicht nur ein Hinweis auf eine persönliche Verbindung zum Thema der Untersuchung, sondern auch eine schöne Metapher für seine eigene Arbeitsweise. Wie in Smiths Wahrnehmung sein Sohn durch den Schreibprozess des Buches gehüpft sein mag, hüpft Smith selber durch die Geschichte dessen, was heute mit Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder (ADD, ADHD) oder zu Deutsch Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADS, ADHS)1 benannt wird. Dabei zeigt er auf, wie ein Störungsbegriff, von dem alle zu wissen meinen, was er bedeutet, mit politischen, wissenschaftlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Fragen verknüpft ist. Dank eines gekonnten Wechsels zwischen eher knapp gehaltenen Übersichten und ausgesuchten Fallbeispielen gelingt es Smith, die Geschichte mit einer spielerischen Leichtigkeit zu rekonstruieren. Der Vielseitigkeit des Themas wird er gerecht, indem er in jedem Kapitel die Perspektive wechselt. Diese Perspektiven können im Rahmen des Buches nie abschließend diskutiert werden, aber sie ermöglichen eben genau das, was angestrebt wird: Eine differenzierte Sichtweise auf Hyperaktivität, die den Facettenreichtum des Themas wieder ins Bewusstsein derjenigen zu bringen vermag, die mit dem Thema konfrontiert werden. Die historische Darstellung richtet sich demnach in erster Linie an betroffene Eltern und Menschen, die selbst mit der Diagnose ADHS konfrontiert sind, aber auch an Fachpersonen aus den Bereichen Medizin, Psychologie und Erziehung.

Smiths Buch erzählt eine Geschichte, die oft ebenso erstaunlich wie skurril ist. Er beginnt mit einer kritischen Betrachtung dessen, was in Lehrbüchern, Ratgebern, wissenschaftlichen Publikationen und Zeitungsartikeln gemeinhin als ‚Geschichte der Hyperaktivität‘ entfaltet wird (Kapitel 1). Smith skizziert diese Geschichte, indem er die Eckpfeiler des Narrativs aufgreift – beispielsweise Heinrich Hoffmans Zappel-Philipp. Er zeigt dann, weshalb ein solches Narrativ kaum geeignet ist, eine Geschichte der Hyperaktivität darzustellen. Die Dekonstruktion gelingt Smith erstaunlich leicht, nämlich indem er die einzelnen Teile der Geschichte wieder zurück in den Kontext der jeweiligen Forschung bzw. Erzählung bringt. Schnell wird klar, dass nur ein Weglassen des jeweiligen Kontextes einen Vergleich der bezeichneten Formen von Hyperaktivität überhaupt zulässt. So verweist Smith bei Hoffmanns klassischem Zappel-Philipp darauf, dass dieser eher als eine Zelebration überschwänglichen und überbordenden Verhaltens angeschaut werden muss, denn als Beschreibung von Pathologien.

Anschließend geht Smith zur Frage über, wo und wann eigentlich das erste hyperaktive Kind ‚entdeckt‘ wurde (Kapitel 2) und auf die damit eng verwobene Debatte über Hyperaktivität innerhalb der American Psychiatric Association (Kapitel 3). In diesen Kapiteln verbindet Smith die Geschichte der Hyperaktivität mit derjenigen des amerikanischen Schulsystems und der amerikanischen Psychiatriegeschichte. In diesem Kontext wird auch die Rolle der in den 1950er-Jahren eingeführten School Counselors kritisch hervorgehoben, die eben auch dazu da waren, sogenannte ‚Probleme‘ zu erkennen. Parallel zu diesen schulbezogenen Entwicklungen wird ersichtlich, wie die in der American Psychiatric Association ursprünglich dominante Psychoanalyse ihre Vorherrschaft langsam einbüßte und dabei langfristig der Weg für neurobiologische Erklärungsansätze frei gemacht wurde.

Smith verweist auf eine Vielzahl weiterer Faktoren, die mitverantwortlich waren, dass sich eben dieser heute dominante Ansatz in der Hyperaktivitätsdiskussion durchsetzen konnte. Dazu gehörten finanzielle Aspekte, denn eine Behandlung durch Medikamente war billiger als eine aufwändige Psychotherapie. Eine Rolle spielte aber auch die Unmittelbarkeit der Wirkung des Medikaments. Für die betroffenen Familien bot der neurobiologische Ansatz zudem eine Entlastung, da die Ursachen der Hyperaktivität nicht mehr in der Erziehung oder dem Umfeld gesucht werden mussten. Schlussendlich führte eine Vielzahl von Faktoren dazu, dass der neurobiologische Ansatz eine eindrückliche Dominanz entwickelte.

Das vierte Kapitel widmet sich der Frage, weshalb es gerade Ritalin war, das sich gegen andere Medikamente und Therapiemethoden durchsetzen konnte. Es ist in weiten Teilen den aggressiven Vermarktungsmethoden rund um das Medikament gewidmet. Als Alternativen zu Ritalin und ähnlichen Medikamenten verweist Smith auf verschiedene Formen von Diäten, Kräutertherapien, Behandlung durch Massage, verschiedene Nahrungsergänzungen, Meditation, Akkupunktur und Elektromyografie (EMG) Biofeedback (Kapitel 5). Er räumt ein, dass die Effektivität dieser Methoden zwar vielfach nur durch wenige klinische Beobachtungen belegt wurde, aber dennoch Studien vorhanden waren, die auch auf einer breiteren Untersuchungsbasis vielversprechende Resultate lieferten. Eine solche alternative Methode war in der Feingold-Diät zu finden, die im weiteren Verlauf des Kapitels viel Raum einnimmt. Die dabei aufgezeigte Debatte steht exemplarisch für diejenigen alternativen Therapiemethoden, die sich zwar längerfristig nicht durchsetzten, deren Nutzen aber durchaus nachgewiesen werden konnte. Bevor Smith zum Schluss kommt, streicht er im siebten Kapitel noch einmal heraus, um was es ihm eigentlich in dem Buch geht: Indem er auf den britischen und kanadischen Wissenschaftsdiskurs eingeht, zeigt er auf, weshalb die Lösungsansätze zum ‚Problem‘ der Hyperaktivität nicht nur in den heute vielerorts gängigen biomedizinischen Erklärungsansätzen gesucht werden sollten. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Diskussion in den USA sind die Diskussionen innerhalb dieser Länder weniger fokussiert auf das neurobiologische Erklärungsmodell und versuchen verstärkt Kontextfaktoren für Erklärungen und Lösungsansätze miteinzubeziehen. Dies trifft den Kern von Smiths Kritik: Hyperaktivität soll nicht nur in den Menschen gesucht und behandelt werden, auch äußere Faktoren wie das Schulsetting, Ernährung, Urbanisierung und gesellschaftliche Erwartungen müssen mitbedacht werden.

Hyperaktivität, dies zeigt Smith eindrücklich, lässt sich weder in einer einzelnen Disziplin verorten, noch kann sie aus der Perspektive einer einzelnen Disziplin erfasst werden. So repräsentiert das vorliegende Buch sicherlich einen Teil Medizingeschichte, bietet aber auch eine enge Anbindung an Themen der Psychologie und der Erziehungswissenschaft, um nur einige Anknüpfungspunkte zu nennen. Smiths Ausführungen stehen zudem in enger Verbindung zu Bruno Latours Überlegungen, wenn er aufzeigt, wie der Hyperaktivitätsbegriff sowohl durch wissenschaftliche, aber auch durch politische und öffentliche Positionen geprägt und geformt wird. Hyperaktivität entpuppt sich als ein treffendes Beispiel dafür, was Latour als Hybrid bezeichnet2 – ein Mischwesen zwischen Natur und Kultur. Wenn im Vorwort mehrere Autoren erwähnt werden, mit denen sich Smith während seiner Forschungsarbeiten auseinandergesetzt hat, dann ist es ebenfalls keine Überraschung, dass neben Latour auch die Namen Ludwik Fleck und Thomas Kuhn erwähnt werden. Die Geschichte der Hyperaktivität zeigt auf, wie Denkstile miteinander konkurrieren können und wie sich die Dominanz eines Denkstils über die Zeit verschieben kann.

Die historische Untersuchung ist nicht zuletzt von besonderer Relevanz für die Sonderpädagogik. So zeigt die Geschichte der Hyperaktivität eindrücklich die Performativität von Behinderung3 auf, aber auch, dass sich dieser Gegenstand nur unter „der Erfassung der Totalität […], seiner Historizität wie seiner inneren Widersprüche und ihrer dialektischen Vermittlung“4 erforschen lässt. Auch wenn die umfassende Geschichte von Hyperaktivität in einer einzigen Studie nur schwer zu erfassen ist, zeigt dieser äußerst wertvolle Beitrag, wie über eine historische Betrachtungsweise ein differenzierter Diskurs zu einem aktuellen und relevanten Thema ermöglicht werden kann.

Anmerkungen:
1 Smith verwendet in seinem Buch durchgehend den Begriff „hyperactivity“, da er sich historisch als konsistenter erweist als andere Bezeichnungen. Auch wenn die sogenannte Störung nicht zwingend an Hyperaktivität gekoppelt sein muss (ADD/ADS), ist der Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch am weitesten verbreitet.
2 Vgl. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 2008.
3 Vgl. Jan Weisser, Behinderung, Ungleichheit und Bildung. Eine Theorie der Behinderung, Bielefeld 2005.
4 Wolfgang Jantzen, Allgemeine Behindertenpädagogik. Teil 1: Sozialwissenschaftliche und psychologische Grundlagen. Teil 2: Neurowissenschaftliche Grundlagen, Diagnostik, Pädagogik und Therapie, Berlin 2007, hier S. 85.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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