A. Niedźwiedź: The Image and the Figure

Titel
The Image and the Figure. Our Lady of Częstochowa in Polish Culture and Popular Religion


Autor(en)
Niedźwiedź, Anna
Anzahl Seiten
196 S.
Preis
€ 9,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sarah Schmidt, Tübingen

Die Schwarze Madonna von Tschenstochau ist das berühmteste und meistbesuchte Gnadenbild Polens und zugleich eine nationale Ikone im Sinne Eric Hobsbawms, also ein Bild, das nationale Identität stiftet.1 Anna Niedźwiedź untersucht im Gegensatz zu vielen bisherigen Studien nicht nur die politische und nationale Geschichte des Bildes („great story“), sondern versucht auch die persönliche, private Bedeutung des Bildes für die Gläubigen zu ermitteln („small story“). Denn, so die Anthropologin Niedźwiedź, ohne die persönliche Dimension sei der nationale Stellenwert des Bildes nicht hinreichend erklärbar.

Die nationale Bedeutung erläutert Anna Niedźwiedź vor allem anhand der Rezeption der Ikone in Kunst und Literatur, ein Schwerpunkt liegt dabei auf den Publikationen des sogenannten Zweiten Umlaufs (drugi obieg) der frühen 1980er Jahre. Viele der als Quellen verwendeten literarischen Texte und Bilder stammen daher aus der Solidarność-Ära. Für die Betrachtung der „small story“ wurden Ergebnisse von umfangreichen selbst geführten Umfragen genutzt.

In der Einleitung finden sich Erläuterungen all jener analytischen Begriffe, die bereits im Titel auftauchen: „Image“ bezeichnet das konkrete Bild, das Gemälde. „Figure“ jedoch meint die in dem Bild dargestellte heilige Person, in diesem Falle Maria. Die Gläubigen unterscheiden laut Niedźwiedź nicht zwischen dem Bild und Maria, so dass sie den Eindruck haben, ein Verweilen vor dem Bild sei eine Begegnung mit Maria persönlich und daher eine Begegnung mit dem „sacrum“. Diese fehlende Unterscheidung zwischen „image“ und „figure“ wird als „non-differentiation“ bezeichnet (S. 46). Mithilfe dieser Begriffe kann Niedźwiedź sehr gut aufzeigen, wie religiöse Bilder ihre Wirkungsmacht entfalten.

Am Beginn der Studie steht eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Ursprungslegenden, den „stories of origin“ (S. 5), da diese die Gegenwart des „sacrum“ in einem Bild belegen und die Verehrung durch die Gläubigen begründen. Anna Niedźwiedź zeigt auf, dass das Bild der Muttergottes von Tschenstochau zugleich als „acheiropoietos“ (ein Bild, das durch göttliches Eingreifen entstanden ist) und als Reliquie (ein Gegenstand, der mit der heiligen Person in Berührung gekommen ist) verehrt wird. Dank ihrer fundierten Kenntnis der Quellen und der kunsthistorischen Forschungsliteratur kommt Niedźwiedź zu dem Schluss, dass das Bild ungefähr im achten Jahrhundert in Italien gemalt worden und von dort nach Polen gekommen sei. Damit widerspricht sie der auch in der Forschung verbreiteten These, dass das Bild eine orthodoxe Ikone sei.2 Niedźwiedź verdeutlicht, dass im Falle der Schwarzen Madonna die Ursprungslegenden jedoch von einem anderen Narrativ („great story“) überlagert werden, welches die religiöse und nationale Bedeutung der Ikone begründet.

Teil dieser „great story“ sind die Schrammen auf der rechten Wange Mariens. Laut Niedźwiedź lassen sich die Legenden zur Entstehung der Schrammen einordnen in ein frühmittelalterliches Erzählschema vom geschändeten Gnadenbild. In diesem Schema bildet die Beschädigung des Bildes, das heißt die „Verwundung“ der heiligen Person, den Beweis für die „genuine Gegenwart des sacrum“ (S. 55) im Bild, da in Folge der Beschädigung Wunder passieren. Während die Quellen und Legenden oft die Belagerung des Klosters im Jahre 1430 als Ursache für die Schrammen nennen, vermutet Niedźwiedź, dass die Schrammen vom Maler bewusst auf dem Bild angebracht wurden, da dies im achten Jahrhundert eine übliche Praxis bei Heiligenbildern gewesen sei. Aufgrund der Wunden rechnet sie das Bild dem Typus der „Mater Dolorosa“ zu und eröffnet eine bislang in der Forschung noch wenig beachtete Perspektive, nämlich dass sich das Bild von Tschenstochau dank der Schrammen auch in den polnischen Opfertops einfügt3. Während der Teilungszeit, besonders nach der Niederschlagung des Januaraufstandes 1864, bekamen die Wunden eine politische Bedeutung und wurden Symbol des nationalen Leidens (S. 81). Ihren Höhepunkt erreichte diese Symbolik Anfang der 1980er Jahre nach der Ausrufung des Kriegsrechts, wie Niedźwiedź anhand ausgewählter Statements und Bilder zeigt.

Viele der von Niedźwiedź befragten Pilger hingegen verbinden die Entstehung der Schrammen mit der Belagerung des Klosters durch schwedische Truppen 1655. Damals wurde das Kloster auf wundersame Weise gegen eine Übermacht von Feinden verteidigt. Das Motiv einer wundersamen Verteidigung war im Mittelalter bzw. in der frühen Neuzeit ebenfalls sehr verbreitet. In Tschenstochau konnte Maria sogar zur Schutzpatronin eines ganzen Landes werden, da man ihr die wundersame Rettung zuschrieb. Diese Sichtweise fand offizielle Bestätigung, denn zum Dank für die Rettung ernannte König Jan Kazimierz Maria zur Königin von Polen. In der polnischen Kultur wird der Titel „Maria – Königin von Polen“ unmittelbar mit dem Bild von Tschenstochau verknüpft. Daher wurde das Bild zum „palladium“, zum Schutzschild des polnischen Staates und der polnischen Nation. Hier bekräftigt Niedźwiedź die in der Forschung verbreitete Meinung, die Ikone von Tschenstochau gelte als Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit. In Anlehnung an die Theorie der politischen Mythen4 erklärt Niedźwiedź, dass die „great story“ nicht nur eine Interpretation der Vergangenheit, sondern auch „an ongoing interpretation of the present“ (S. 126) biete.

Im letzten Kapitel wendet sich Anna Niedźwiedź einem Phänomen zu, das bisher in der historischen Forschung noch wenig Beachtung gefunden hat: der „popular religion“. Diesen Begriff möchte Niedźwiedź im Sinne von „lived religion“ verstanden wissen. Anhand ihrer Umfrageergebnisse versucht sie zu zeigen, dass die nationale Dimension des Kults um die Schwarze Madonna („great story“) nicht verstanden werden könne, ohne die persönliche Dimension („small stories“). Die Pilger besuchten den Wallfahrtsort nicht nur aus einer nationalen oder patriotischen Motivation heraus, sondern kämen häufig auch mit privaten, persönlichen Anliegen. Gerade im persönlichen Bereich sei die „non-differentiation“ besonders wirkmächtig: Die Pilger empfinden die Begegnung mit dem Bild („image“) als eine Begegnung mit Maria selbst („figure“). Sie bekunden, dass sie die Schwarze Madonna als Mutter erfahren, die Empathie für ihre Probleme habe, und bekräftigen, dass sie das Bild vor allem durch das Leiden bewege. Die Bedeutung der „non-differentiation“ verdeutlicht Niedźwiedź am Beispiel der sogenannten Peregrination (Wanderschaft eines Marienbildes), einer religiösen Praxis, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr beliebt war. Die Gläubigen werteten den Besuch des Bildes als persönlichen Besuch der Gottesmutter. Als die Kommunistische Regierung die Peregrinationen der Schwarzen Madonna im Vorfeld der Millenniumsfeiern von 1966 verbot und das Bild beschlagnahmte, setzten die polnischen Bischöfe die Peregrinationen mit einem leeren Bilderahmen fort. Die Befragten versichern in Gesprächen mit Niedźwiedź, bei diesen Peregrinationen ohne Bild noch viel tiefere spirituelle Erfahrungen gemacht zu haben. Hier wäre der Versuch wünschenswert gewesen, dieses Phänomen mithilfe der Begriffe "image" und "figure" zu erklären. Denn es ist bemerkenswert, dass die Gläubigen eine Begegnung mit Maria ("figure") bezeugen, obwohl das Bild ("image") nicht da war.

Anna Niedźwiedź fügt ihrem Text viel Anschauungsmaterial in Form von Bildern bei. Leider werden diese Bilder und Fotos im Text oft nicht erläutert. Andererseits beziehen sich die Ausführungen zum Teil auf Fotos und Bilder, die dem Text nicht beigefügt sind. Vermutlich sind diese Abbildungen im kulturellen Gedächtnis Polens tief verankert. Eine englische Ausgabe dürfte sich jedoch eher an diejenigen richten, die des Polnischen nicht mächtig und daher vermutlich auch mit dem kulturellen Gedächtnis in nur geringem Maße vertraut sind. Insofern wäre es sinnvoll gewesen, Bilder, die im Text erwähnt werden, diesem auch beizufügen. Zudem hätte ein Anhang mit den Interviews den Leser in die Lage versetzt, sich ein genaueres Bild über die Aussagen der Befragten zu machen.

Auch in der vorliegenden Form ist es Anna Niedźwiedź gelungen, die Geschichte des Gnadenbildes von Tschenstochau von seinen Ursprüngen bis in die heutige Zeit hinein detailliert und doch kompakt zu beleuchten. Am Beispiel der Solidarność-Ära legt sie überzeugend die nationale und politische Bedeutung des Bildes dar. Der besondere Wert ihrer Studie liegt darin, dass sie versucht, ein Phänomen zu erklären, das wissenschaftlich nicht leicht zu greifen ist, nämlich die Glaubenserfahrung von Pilgern. Dank der großen Kompetenz und Umsicht auch in theologischen Fragen ist ihr das gut gelungen.

Anmerkungen:
1 Eric Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2005, S. 87; sowie: Peter Kriedte, Katholizismus. Nationsbildung und verzögerte Säkularisierung in Polen, in: Hartmut Lehmann (Hrsg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa: Bilanz und Perspektiven in der Forschung, Göttingen 1997, S. 249–274, S. 261.
2 Zum Beispiel: Mieczysław Maliński, Wer ist Karol Wojtyła? Auskünfte eines Freundes über Johannes Paul II., München 1998.
3 Zum Begriff Opfertopos siehe: Agnieszka Gąsior, Nationale Selbstvergewisserung im Polen der Nachwendezeit: das Marienheiligtum in Licheń, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 57 (2008) 3, S. 292–328.
4 Vgl. dazu Ives Bizeul, Politische Mythen, in: Heidi Hein-Kircher/Hans Henning Hahn (Hrsg.), Politische Mythen im 19. und 20. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa, S. 3–14; Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009.

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