S. Haase: Berliner Universität und Nationalgedanke 1800–1848

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Titel
Berliner Universität und Nationalgedanke 1800–1848. Genese einer politischen Idee


Autor(en)
Haase, Sven
Reihe
Pallas Athene 42
Erschienen
Stuttgart 2012: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
407 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Stickler, Institut für Geschichte, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Der Band präsentiert eine steile These: Danach könne die Berliner Universität als eine Art Labor bezeichnet werden, in der sich nach progressiven Anfängen eine Wissenschaftsauffassung durchgesetzt habe, die eine Orientierung an der europäischen Gegenwart und politischen Neuerungen verworfen habe. Das Prinzip des Historismus habe sich durchgesetzt und damit die wissenschaftliche Fundierung einer staatskonservativen, „rechten“ Ideologie, ein Gegenentwurf zur Aufbruchsstimmung der Revolution. Die Berliner Universität habe insofern das Fundament einer autoritären Staatsidee produziert und dem preußischen Staat ein „wissenschaftliches Weltbild“ geliefert, das die bald kanonisierte Konstruktion eines kleindeutschen Identitätsmodells und eines Reichskonstrukts unter preußischer Führung ermöglicht habe. Das Wesen des Nationalgedankens sei hierbei von einer „linken“, am Ideal der Staatsbürgerschaftsgesellschaft orientierten progressiven Idee zu einer „rechten“, obrigkeitsfixierten Staatsideologie, verändert worden. Haase geht zwar nicht soweit, seine These gleichsam teleologisch in die Vorgeschichte des Nationalsozialismus einzuordnen, doch ist seine Arbeitsweise dennoch von der Annahme eines Sonderwegs beziehungsweise einem a priori kleindeutschen Zugang zum Thema geprägt. So gerät bei ihm etwa aus dem Blick, dass im frühen 19. Jahrhundert im deutlich größeren Wien eine zweite deutsche Großstadt-Universität existierte. Die Urbanität Berlins, das Nebeneinander unterschiedlichster sozialer und politischer Entwürfe, die ab 1810 ihre akademische Entsprechung im erst durch den Sieg des Historismus nivellierten Pluralismus der an der Berliner Universität vertretenen wissenschaftlichen Theoriebildungen gefunden habe, ist für Haase eines seiner Haupterklärungsmuster.

Im Mittelpunkt seines Interesses stehen hierbei die Philosophische Fakultät, aber auch Jurisprudenz und Theologie. Der Band ist in drei chronologisch aufeinander aufbauende Teile gegliedert: „Der patriotische Aufbruch 1800–1815“, „Restauratives Zwischenspiel 1815–1830“ und „Die Berliner Universität im Vormärz 1830–1848“. Diese sind jeweils unterteilt in gleichlautende Kapitel: „Situation & Ereignis“, „Ort & Gesellschaft“, „Idee & Institution“. Behandelt werden darin „Die Kultur der Niederlage“, „Das Zentrum Preußens“ und „Die deutsche Wissenschaft“ (Erster Teil), „Die Einschränkung der akademischen Freiheit“, „Studentische Gesellschaft und große Stadt“ und „Wege der Forschung“ (Zweiter Teil) sowie „Nationen und Revolutionen“, „Elite vs. Masse“ und „Die konservative Wende“ (Dritter Teil). Auf diese Weise entsteht ein differenziertes und farbiges Portrait des frühen Berliner Universitätsbetriebs, der Gelehrten und Studenten sowie des intellektuellen, politischen und gesellschaftlichen Umfelds, in dem sich Hochschulpolitik und Wissenschaft abspielten.

Erfreulich ist an Haases Studie vor allem, dass neben der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte im engeren Sinne die Geschichte der Berliner Studenten mitbehandelt wird, diese also als gleichberechtigte Akteure wahrgenommen werden. Auch wenn Quellen und Literatur bisweilen ergänzungsbedürftig sind1 und es sich angeboten hätte, einige grundlegende Ausführungen zur Sozialgeschichte des damaligen Studententums voranzustellen2, so vermag Haase doch einleuchtende Zusammenhänge herzustellen zwischen den universitäts- und wissenschaftsgeschichtlichen Tendenzen der Jahre 1800 bis 1850 und den Entwicklungen in der Berliner Studentenschaft. So behandelt er die sich aus der „Humboldtschen Lücke“ (Siegfried A. Kähler) ergebenden Probleme für die studentische Arbeitsdisziplin3 und analysiert am Beispiel Fichtes und Schleiermachers, wie unterschiedlich die Professorenschaft mit deviantem Verhalten der Studenten umging; Schleiermacher hatte hier mehr Verständnis als Fichte, der einem im Kern autoritären Erziehungsprogramm das Wort redete. Die sich aus einer konkreten Disziplinarangelegenheit 1811/12 ergebenden Streitigkeiten zwischen dem Rektor Fichte und dem Senat nutzte die Obrigkeit schließlich, um in die akademische Gerichtsbarkeit einzugreifen und der Universität das Recht der freien Rektorenwahl zu entziehen.

Derartige Übergriffe auf die universitäre Autonomie wiederholten sich 1824, als Friedrich Wilhelm III. die Burschenschaft verbot. Die Gärungen in der Studentenschaft wurden also dazu benutzt, den staatlichen Zugriff auf die Universität zu verstärken. Die im Ergebnis erfolgreiche restriktive Politik Preußens gegenüber den studentischen Verbindungen, insbesondere der Burschenschaft, die während des gesamten Vormärz durchgehalten wurde, deutet Haase ebenfalls als Konsequenz der Urbanität: Anders als in traditionsreichen kleineren Universitätsstädten waren die Berliner Studenten, obgleich ihre Zahl größer war, eine letztlich randständige Gruppe, da sie für die Stadt weder wirtschaftlich übermäßig von Bedeutung waren, noch das gesellschaftliche Leben dort wirklich prägen konnten. Dies setzte den Bestrebungen der Verbindungen, innerhalb der Studentenschaft wirklich meinungsbildend zu wirken und am Comment orientiertes Verhalten zu erzwingen, Grenzen. Am ehesten gelang dies noch unmittelbar nach den Befreiungskriegen, welche ein generationenprägendes Ereignis darstellten. Zutreffend stellt Haase fest, dass die Nationalidee sich bei den Verbindungen mit Vergemeinschaftungstendenzen verband. Ob man daraus allerdings (implizit abwertend) so einfach schließen kann, dass den korporierten Studenten die unsichere Suche nach Individualität im neuhumanistischen Sinne einfach zu kompliziert war, ist doch fraglich. Immerhin weist Haase gleichzeitig darauf hin, dass die studentische Reformbewegung im Kontext der Befreiungskriege auch ein jugendkulturelles Phänomen war. Vor dem Hintergrund der Unterdrückung der Burschenschaft in Berlin seit den 1820er-Jahren expandierten im Vormärz vor allem die Landsmannschaften bzw. Corps, seit den 1840er-Jahren auch der christlich orientierte Wingolfsbund, der staatsloyal und konservativ ausgerichtet war.

Die Tatsache, dass die Berliner Universität eben keine klassische Verbindungshochburg war, hatte auch zur Folge, dass sie vor allem leistungswillige Studenten anzog. Hochinteressant im Hinblick auf damalige Bildungsbiographien ist die Gegenüberstellung von August Twesten, Ferdinand Maßmann und Heinrich Heine. Entsprach ersterer vollständig dem neuhumanistischen Bildungsideal, so war Maßmann ein altdeutsch-patriotisch gesinnter burschenschaftlicher Aktivist, während Heine, der sich in Bonn der Burschenschaft angeschlossen hatte, in Berlin keineswegs „burschikos“ auftrat. Darin eine grundsätzliche Abwendung des Individualisten Heine vom Verbindungswesen zu sehen, wie Haase dies suggeriert, greift indes zu kurz: Heine hatte sich bereits in Göttingen von der burschenschaftlichen Idee abgewandt und war dort, was Haase nicht erwähnt, Mitglied der Landsmannschaft (später Corps) Guestphalia geworden, der er 1844 im Caput X seines Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ ein literarisches Denkmal setzte.

Bedauerlich an dem mit Gewinn zu lesenden Band ist, dass Sven Haase auf einer vergleichsweise geringen Quellenbasis weitreichende Thesen aufbaut. Es ist natürlich legitim, die Meistererzählung von der Vorbildhaftigkeit der Berliner Universitätsgründung für die kleindeutsch-preußische Gelehrtenrepublik ins Negative zu wenden, doch um diese These wirklich empirisch zu unterfüttern, hätte es dringend vergleichender Quellenstudien, insbesondere zu süddeutschen und österreichischen Universitäten bedurft. Deswegen bleibt Haases steile These letztlich im Bereich des Hypothetischen, lediglich in den studentengeschichtlichen Kapiteln kommen auf der Basis vorhandener Literatur Bezüge zu den Verhältnissen an anderen Universitäten vor. Nicht ganz klar wird auch, wie die Entwicklung der Berliner Studentenschaft im Sinne von Haases Grundthese zu interpretieren ist. War die Unterdrückung der Burschenschaft nun positiv wegen der Eindämmung nationalistischer Tendenzen oder reaktionär, weil progressive Gesellschaftsentwürfe kriminalisiert wurden? Dass Nationalismus und revolutionäre Gesinnung, wie sie etwa für die „germanisch“ orientierten Bünde der Burschenschaft kennzeichnend waren, einander nicht ausschlossen, sondern möglicherweise sogar einander bedingten, kommt in der Arbeit zu kurz. Ärgerlich ist, dass Haase durchweg den falschen Terminus „Burschenschaftler“ – schließlich spricht man auch nicht von „Gewerkschaftlern“ – verwendet statt korrekt „Burschenschafter“; ebenso gibt es keine „Wingolfer“, sondern nur Wingolfiten; solche Schnitzer sollten einem Bildungshistoriker eigentlich nicht passieren. Dennoch bliebt festzuhalten, dass Haase einen wichtigen Beitrag zur deutschen Universitätsgeschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgelegt hat; es wäre zu wünschen, dass die ambitionierte Studie weitere Arbeiten anregt, die geeignet sind, die weitreichende Grundthese des Bandes einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.

Anmerkungen:
1 So fehlt etwa Eduard Voigt, Der Anteil der Berliner Studentenschaft an der allgemeinen deutschen Burschenschaft bis zu ihrer ersten Katastrophe, Diss. phil. Berlin 1914. Seltsam ist auch, dass die einschlägigen Bestände des Archivs der Deutschen Burschenschaft im Bundesarchiv Koblenz nicht verwendet wurden; Haase hat an ungedruckten Quellen ausschließlich einschlägige Akten des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz ausgewertet.
2 Vgl. etwa: Alexandra Kurth, Männer – Bünde – Rituale. Studentenverbindungen seit 1800, Frankfurt am Main 2004; Harm-Hinrich Brandt, Studentische Korporationen und politisch-sozialer Wandel. Modernisierung und Antimodernismus, in: Harm-Hinrich Brandt / Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, München 1993, S. 122–143; Harald Lönnecker, Studenten und Gesellschaft. Studenten in der Gesellschaft – Versuch eines Überblicks seit Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Universität im öffentlichen Raum, Basel 2008, S. 387–438; Matthias Stickler, Universität als Lebensform? Überlegungen zur Selbststeuerung studentischer Sozialisation im langen 19. Jahrhundert, in: Rüdiger vom Bruch u. M. von Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910, München 2010, S. 149–186.
3 Diese Problematik existierte allerdings bereits vor 1800; vgl. Ulrich Rasche, Cornelius relegatus und die Disziplinierung der deutschen Studenten (16. bis frühes 19. Jahrhundert). Zugleich ein Beitrag zur Ikonologie studentischer Memoria, in: Barbara Krug-Richter / Ruth-E. Mohrmann (Hrsg.), Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa, Köln 2009, S. 157–221.