W. Hardtwig: Deutsche Geschichtskultur im 19. und 20. Jahrhundert

Cover
Titel
Deutsche Geschichtskultur im 19. und 20. Jahrhundert.


Autor(en)
Hardtwig, Wolfgang
Erschienen
München 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Westermann, Zeitgeschichte, Historisches Seminar der Universität Heidelberg

Die Wiederveröffentlichung bereits publizierter Aufsätze kann Nachteile bringen, beispielsweise wenn die Distanz zur aktuellen Forschung zu groß ist oder die Zusammenstellung willkürlich wirkt. Sie birgt aber auch viele Vorteile, etwa wenn entlegene Publikationen oder verschiedene Aufsätze zu einem Leitthema an einem Ort konzentriert werden. Letzteres trifft auf vorliegenden Band zu. Hardtwig versammelt 14 eigene Aufsätze, von denen zwölf bereits in den Jahren 1978–2012 veröffentlicht wurden; zwei Aufsätze sind Erstveröffentlichungen. Allerdings erfolgt – wie der Titel suggeriert – keine detaillierte Methodendiskussion oder ein Fallbeispiel zum Konzept der Geschichtskultur. Das vorgelegte Werk dokumentiert mit seinem breiten Spektrum zum Titelthema das Œuvre des langjährigen Professors für Neuere Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Einzelne Teile dieses Œuvres schlagen sich bereits in den Überschriften der vier thematisch nicht verbundenen Themenblöcke des Buches nieder: 1. Theorieprobleme der Geschichtswissenschaften, 2. Wissenschaft und Institution, 3. Geschichtsschreibung und Literatur sowie 4. Geschichte und Öffentlichkeit.

Im ersten Block zeigt sich der Wissenschaftshistoriker Hardtwig: In zwei Aufsätzen (Erstveröffentlichung 1978 und 1979) beleuchtet er die Entwicklung der Geschichte als Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er geht dabei verstärkt auf den Unterschied zwischen methodischem Vorgehen und dem Typus des Erzählers ein. Diese Dichotomie veranschaulicht er an den prominenten Historikern Droysen und Ranke. Damit liefert er selbst bestes Beispiel für den dritten Aufsatz des Kapitels, der die „Personalisierung als Darstellungsprinzip“ (1988) behandelt. Hardtwig betont für diese Darstellungsweise die „Chancen, sich der Fremdheit historischer Wirklichkeiten anzunähern“ (S. 47), um „damit elementares Interesse [zu] wecken“ (S. 48). Allerdings müsse dabei streng auf methodische Sicherung geachtet werden. Auch gelte es, ein Grundproblem von Personalisierung zu hinterfragen: In welchem Verhältnis stehen Ereignis/Individuum und Strukturen (S. 49)?

Der Universitätshistoriker Hardtwig zeigt sich im zweiten Block, in dem er die Geschichtswissenschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität, die 1949 den Namen des Bruderpaares Humboldt erhielt, im Zeitraum von 1810–1993 untersucht (2010). Hardtwig gelingt hier eine Synthese aus Disziplingeschichte unter Berücksichtigung der Leistungen prominenter Professoren und einer politischen Strukturgeschichte. Stets quellennah verwebt er Aussagen hinsichtlich Lehrstrukturen, Politikeinflüssen, dem Wirken Einzelner sowie gesellschaftlichen Leitbildern zu einem aussagekräftigen Gesamtbild über die Berliner Geschichtswissenschaften.

Im dritten Block behandelt Hardtwig das Verhältnis zwischen professioneller Geschichtswissenschaft und populärer Literatur, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts mit einer Flut an Schriftstellern und Journalisten entwickelt hätte (S. 164). In drei Aufsätzen über „Populäre Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert“ (2002), Kriegstagebüchern im Zweiten Weltkrieg (2002) und zu „Zeitgeschichte in der Literatur 1945–2000“ (2008) fragt Hardtwig nach dem Verhältnis beider Genres. Anhand von konkreten Beispielen – etwa Günter Grass und Sebastian Haffner – thematisiert er die Unterschiede und damit verbunden die Ansprüche der beiden Bereiche. Den Literaten gehe es darum, „die Fremdheit des Vergangenen zu relativieren und seine unmittelbare Relevanz für die Gegenwart zu betonen“, Handlungsorte zu veranschaulichen, zeitliche Zusammenhänge zuzuspitzen (S. 160). Im Vergleich zum Wissenschaftler, „der sich einer Diktion der Sachlichkeit zu befleißigen hat, darf der populäre Erzähler aber bei alledem drastisch, polemisch und sarkastisch werden [...]“ (S. 162). „Individualisierung von Erfahrungen, Verhaltensweisen und Deutungen“ (S. 201) sowie die Verknappung und Pointierung der Zeitperspektive auf den einen antreibenden Moment (S. 199) seien positive Möglichkeiten der Literaten. Der Wissenschaftler solle dazu eine „Ergänzungs- oder Komplementäraufgabe“ (S. 228) übernehmen. Indem er gedächtnis-, mentalitäts-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Bedingungen dieses Gegensatzes im Ansatz schildert, erschließt er gleich mehrere weiterführende Fragestellungen in diesem Kontext. Hardtwig diskutiert dabei Fragen der Generationalität, der medialen Strukturen und Skandalisierung von Schriftstellern. Er merkt dabei an, dass „für den methodenbewussten Historiker [...] die saubere Trennung zwischen literatur- und geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden im Kontext der neuen Kulturgeschichte nicht mehr selbstverständlich [ist]“ (S. 226). Demgegenüber weist er der populären Literatur auch eine „kritische Funktion“ zu, da sie – mit Mitteln, die dem Wissenschaftler verwehrt sind – thematisieren könne, was sonst unbehandelt bliebe (S. 228). Demnach erkennt Hardtwig eine Annäherung zwischen wissenschaftlicher und literarischer Arbeitsweise.

Im vierten Block spricht Hardtwig das grundsätzliche Verhältnis von „Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit“ an. In fünf Aufsätzen greift er Einzelaspekte auf. Anhand der Unterhaltungsbranche mit geschichtlichen Inhalten – etwa im Fernsehen – beschreibt er die Rolle der nicht näher definierten ‚Öffentlichkeit‘ (2010). Er macht einen „Trend zur Eventisierung“ (S. 380) aus, der eigentlich nicht die Vergangenheit thematisiere, sondern ein „gesteigertes Erlebnis der Gegenwart“ (S. 389) darstelle. Unterhaltung definiert er mit Kaspar Maase als ohne Anstrengung mögliche Anregung des Fühlens und Denkens (S. 390). Mit historischen Inhalten werde dies ermöglicht: Statt an eine moderne Lebenswelt anzuknüpfen, womit ein Nachdenken über das eigene aktuelle Sein erzwungen würde, schaffe die geschichtliche Distanz eine gemütlichere Rezeption. Der Fachhistoriker solle hier als Korrektiv eingreifen und im Gegensatz zur „Erlebnis- und Spaßdimension“ die Wissensorientierung anmahnen (S. 394).

In einem weiteren Aufsatz reflektiert Hardtwig den Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ in Bezug auf den Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik (2007). Er schildert Wechselwirkungen von Öffentlichkeit mit der juristischen Aufarbeitung und der Ausbildung einer Erinnerungskultur in Form von Reden und Gedenktagen. Er benennt mit der DDR sowie den Besatzungsmächten zudem externe Faktoren und kommt zu dem Schluss, dass die „Vergangenheitsbewältigung“ sehr stark von der Öffentlichkeit – über Opferverbände und Medien – hätte angeregt werden müssen.

In diesem Block finden sich auch die beiden Erstveröffentlichungen: jeweils ein Aufsatz über „Geschichtskultur in Deutschland von 1850 bis 1871“ und zum Großvater Hardtwigs, dem Weimarer Reichsminister Eduard Hamm. Konkret hier wäre die Möglichkeit gewesen, den Begriff der Geschichtskultur methodisch aufzugreifen, Hardtwig bleibt aber bei sehr grundsätzlichen charakterisierenden Bemerkungen. In Bezug auf Hamm benennt er einen Mechanismus des Erinnerns: Hinter jeder Erinnerung stehe eine Interessensgruppe. Für Hamm fehlten solche Gruppen. Hardtwig agiert hier bewusst subjektiv, als Erinnernder. Über die Geschichte der Person hinaus – die als herausgehobene Figur des Liberalismus der Weimarer Zeit erst aktuell als Forschungsobjekt von Manuel Limbach entdeckt wurde – eröffnet Hardtwig das Forschungsfeld des liberalen Widerstands während des Dritten Reichs, der immer noch zu wenig erforscht ist.

Als Bürgertumsforscher stellt Hardtwig mit Blick auf die Jahre zwischen 1850 und 1871 die gesellschaftlich-politischen Entwicklungen neben die kulturellen. Mit Bezug auf die Forschungsliteratur hält Hardtwig als Erkenntnisse fest, dass sich der Geist des Aufbruchs von 1848 nicht hätte halten können, denn „[...] die politischen, sozialen und schließlich auch militärisch-kämpferischen Turbulenzen und die massive Erfahrung des bürgerlichen Scheiterns [erzeugten] keine kollektive positive Erinnerung“ (S. 246). Erst mit der Reichsgründung 1871 hätten die damaligen ‚Kämpfer‘, die vom immer selbstbewusster werdenden Bürgertum dominiert worden seien, ihre Erzählung dann in eine nationale Geschichte einbauen können (S. 247). In dieser Zeit hätten die Monarchen der Einzelstaaten ein Bedürfnis für öffentliche Repräsentation entwickelt und entsprechende Einrichtungen wie Museen und Gemälde bauen und anfertigen lassen; freilich innerhalb der Spannung des Föderalismus, von „Nation und Region“ (S. 262). Diese Akteursgruppe sei durch weitere Träger von Geschichte flankiert worden: Bürgertum, Geschichtsvereine und Literaten. Diese nutzten jeweils verschiedenen Formen von Geschichte, Mythen und Künsten, die es zu entschlüsseln gelte (S. 261).

Insgesamt liegt ein ambivalentes Buch vor. Es spricht ohne explizite Gesamtfragestellung mehrere Felder an, etwa die Public History oder die Wissenschaftsgeschichte. Fundiert geschichtswissenschaftlich erarbeitet, entfalten seine Thesen Erkenntnisgewinn, aber nur selten Neuigkeitswert. Daher empfiehlt sich das Buch nicht für diejenigen, die sich dezidiert zum Thema Geschichtskultur – die als heuristisches Konzept nicht diskutiert wird – informieren wollen. Hardtwig wirft aber viele weiterführende Aspekte auf. Wer sich für das Verhältnis von populärer zu professioneller Geschichtswissenschaft oder zur Personengeschichte mit ihren Quellen interessiert, findet hier Ansatzpunkte. Insofern bleibt das vorgestellte Buch Hardtwigs ein Appetitanreger zur weiteren Lektüre seiner Werke oder zu vertiefender Forschung.