C. Giustino u.a. (Hrsg.): Socialist Escapes

Cover
Titel
Socialist Escapes. Breaking Away from Ideology and Everyday Routine in Eastern Europe, 1945–1989


Herausgeber
Giustino, Cathleen M.; Plum, Catherine J.; Vari, Alexander
Erschienen
New York 2013: Berghahn Books
Anzahl Seiten
284 S., 12. Abb.
Preis
$105.00 / £65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Logemann, Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staatsapparat oder zwischen Handlungsspielräumen und Strukturen wird in der gesellschafts- und alltagsgeschichtlichen Forschung zu den mittelosteuropäischen Ländern zwischen 1945 und 1989 zusehends in den Mittelpunkt gestellt.1 Sie zielt auf das Wechselverhältnis von Akzeptanz, Anpassung und Ablehnung in Diktaturen und lässt weiterhin am ehesten Erkenntnisse über die Funktionsweisen staatssozialistischer Systeme erwarten. So fragen auch Cathleen M. Giustino, Catherine J. Plum und Alexander Vari – die, in dieser Reihenfolge, an den Universitäten Auburn, Western New England und Marywood lehren – in dem von ihnen herausgegeben Sammelband „Socialist Escapes“ nach den wechselseitigen Einflüssen von „ideology“ von oben und „agency“ von unten.

Am Beispiel des Freizeitverhaltens der Einwohner staatssozialistischer Länder wird untersucht, inwieweit Ausbrüche aus der vorgestanzten Ideologie und der alltäglichen Routine möglich waren. Eingerahmt von einer Einleitung von Vari und einer Zusammenfassung von Giustino ist das Buch in fünf – zunächst relativ willkürlich wirkende – Abschnitte mit jeweils zwei Beiträgen gegliedert. Das Panorama reicht von, erstens, staatlichen Museen in der Tschechoslowakei und Musikfestivals in Polen und der DDR über, zweitens, Urlaubserfahrungen in polnischen Bergen und Ferienlagern bei Ostberlin, bis zu, drittens, Nackt- wie Massenbadestränden in Rumänien und Bulgarien. Der vierte Abschnitt behandelt Autostopps in Polen und das Budapester Nachtleben und der fünfte schließlich Motoradfans in der DDR und Fußballstadien in Rumänien. Zusammengehalten wird der Band von der Fragestellung, unter welchen Bedingungen „socialist escapes“ möglich waren. Zu Recht betonen die Herausgeber vor allem in Einleitung und Zusammenfassung, dass Eigen-Sinn und „agency“ ständige Reaktionen auf die staatlichen Versuche der Kontrolle und Strafe darstellten. Auch weisen sie auf die unterschiedlichen zeitlichen Perioden und politischen Voraussetzungen in den jeweiligen Ländern hin, die verallgemeinernde Aussagen erschwerten.

Dennoch bleibt das Gefühl einer verpassten Chance. Gerade in Einleitung und Zusammenfassung hätte man sich gewünscht, dass sich die Verfasser von Gewissheiten verabschieden und auf der Basis der vielfältigen Beiträge des Buches deutlicher Thesen und Desiderate formulieren. In vielen der Aufsätze werden die „socialist escapes“ ungenügend in den politischen und gesellschaftlichen Realitäten der Volksrepubliken verortet. Die Autoren gehen zum Beispiel kaum der Frage nach, inwiefern Freizeitpraktiken und „escapes“ im Staatssozialismus von Motivlagen abgegrenzt werden können, die jenseits des Eisernen Vorhangs ganz ähnlich bestanden. Auch die politischen Besonderheiten der sozialistischen Systeme werden über ihre selbstauferlegten ideologischen Zwänge hinaus kaum ausgeleuchtet. So erklären die Autoren Anpassungsprozesse der Regime an die Praktiken der Menschen und vice versa zumeist mit Tauwetterphasen, Mangelwirtschaft und sozialistischer Konsumpolitik. Sie entwickeln die mikrohistorischen Entscheidungsprozesse und Sachzwänge der Systemträger aber nicht konsequent aus den Quellen. Immer wieder ist in dem Sammelband von Kontroll- und Strafmöglichkeiten der sozialistischen Staatsapparate die Rede. Nur wenige Autoren machen sich jedoch die Mühe, deren Potentiale und Grenzen in ihren Aufsätzen wirklich zu exemplifizieren. Dabei ist beispielsweise Jan Palmowski zuzustimmen, der davon ausgeht, dass „eine alltagsgeschichtliche Betrachtung sowohl der sozialen Praxis in der Staatssicherheit als auch der von der Staatssicherheit rezipierten sozialen Praxis in der Bevölkerung […] die Vielschichtigkeit des DDR-Alltags unterstreichen […]“ kann.2 Dieser Ansatz lässt sich durchaus auf die Historiographien der ostmitteleuropäischen Volksrepubliken übertragen. Er bleibt im Sammelband aber weitgehend ungenutzt.

Ohne diese breitere Perspektive bleiben einige der „socialist escapes“ ohne Kontext. Man gewinnt den Eindruck, dass gerade die amerikanischen Autoren in ihrer modellhaften Verortung von agency die realsozialistischen Verhältnisse missdeuten. So ist zum Beispiel zu hinterfragen, ob man wie Catherine J. Plum einen Diebstahl, den ein Jugendlicher in der DDR an sowjetischen Gästen verübte – der eine öffentliche Bloßstellung des Täters und dessen Ausschluss aus einem Ferienlager zur Folge hatte – als Form der Dissidenz einschätzen sollte (S. 106). Zum einen sind auch andere Erklärungsmodelle für diese Tat denkbar. Zum anderen ist ihre Quelle ein Bericht sozialistischer Systemträger – und damit eine eigens zu thematisierende Quellengattung. Auch ist es wenig überzeugend, dass der Artikel lediglich auf den Beständen des Bundesarchivs aufbaut, das Betriebsarchiv von Carl-Zeiss Jena (der Träger des Feriencamps) jedoch nicht berücksichtigt. Auf ähnliche Weise bleibt im Artikel von Cathleen M. Giustino unterbeleuchtet, ob Massentourismus in ehemalige Adelspalais in der Tschechoslowakei wirklich das Potential einer „Flucht“ aufwies. Sicherlich waren die dort durch Fremdenführer vermittelten Inhalte nicht immer konform mit der sozialistischen Ideologie. Doch Giustino versucht, diese Phänomene mit den Verbrechen der Schauprozesse zu kontrastieren und konstruiert dabei einen Gegensatz zwischen Spätstalinismus und nonkonformen Praktiken, womit sie das Potential ihrer Quellen überreizt.

Patrice M. Dabrowski schreibt eine Sozialgeschichte des Urlaubs im polnischen Südosten, dem Bieszczadygebirge. Auch deren Interpretation kann hinterfragt werden; zumindest überrascht es wenig, dass es mit den Erscheinungen der Mangelwirtschaft am schlüssigsten erklärbar ist, dass ein aufgeklärter Tourismus von „neuen Menschen“ letztendlich scheitern musste. Dieser Tourismus könne deshalb, so Dabrowski, allenfalls als „socialist escape“, nicht aber als „escape from socialism“ (S. 91) verstanden werden. Zweifel bleiben auch nach der Lektüre der Artikel zu Tabak- und Alkoholkonsum an den Goldstränden Bulgariens (Mary Neuburger) oder zu Nudistenstränden in Rumänien (Irina Costache). Beide Autorinnen vermögen nicht aufzulösen, wo und wie private Praktiken und offizielle Politik ineinandergreifen. So verharren die Beiträger des Sammelbands zu oft in der Dichotomie von Staat und Gesellschaft und bei den sich durch diese eröffnenden Spielräumen. Sie setzen Staat und Gesellschaft aber nicht fruchtbar miteinander in Relation.

Erfreulicherweise zeigen einige Autoren im Schlussteil des Sammelbandes doch noch, in welche Richtung sich eine Historiographie bewegen müsste, die das Erklärungspotential von systemimmanenten Widersprüchen des Staatssozialismus im Blick hat. Mark Keck-Szajbel gelingt es unter Anwendung des Modells vom ersten und zweiten Staatssozialismus3, die Tramperbewegung in Polen in eine Gemengelage verschiedener Interessen einzuordnen. Seine kluge Differenzierung beruht darauf, dass er in der Gewährung von Freiräumen im Privaten eine andere Möglichkeit der Kontrolle durch den Staat versteht (S. 168). Dabei macht er deutlich, dass Tramper wie Staatsapparat Vorteile und Nachteile in Kauf nahmen, um Strukturen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Caroline Fricke greift in erhellender Weise auf die Überlieferung der Staatssicherheit zurück, um jugendliche Exzesse abseits von Crossmotorradrennen zu rekonstruieren. Ihr gelingt es zu zeigen, dass die Staatsorgane bestens informiert waren, wenn Jugendliche der Gegenkultur die Barrieren des Regimes durchbrachen. Um jedoch prestigeträchtigere Veranstaltungen gelingen zu lassen, ließen sie an anderer Stelle Freiräume: „In order to keep official public festivities free of demonstrations of noncompliance, the regime reluctantly tolerated spaces of escapism outside the public view.“ (S. 215) So gelingt es Fricke, Steuerungs- und Kontrollmechanismen, aber auch deren Grenzen plausibel zu machen. Durch eine breitere Einbettung ihrer Fragestellung in die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte der DDR schärft Fricke zudem überzeugender als andere Autoren ihre Argumente. So heben sich etwa Verweise auf die Alkoholkultur der DDR oder Frickes profunde Kenntnis der Jugendkultur der DDR von den pauschalen Annahmen anderer Autoren des Bandes ab.

Auch Florin Poenaru belegt eindrücklich, wie das Vorstellungsvermögen eines Historikers und Quellen der „oral history“ dazu beitragen können, Lebenswelten der rumänischen Fußballfankultur plastisch auferstehen zu lassen. Sein Plädoyer lautet, zweigeteiltes Denken über den Staat und die Gesellschaft aufzugeben und vieles stärker in einen Zusammenhang zu stellen: „What is missing is a proper understanding of the internal paradoxes, contradictions, and gaps constitutive of the power edifice that shaped the lives of people experiencing real-existing socialism in creative, productive, and positive manners.“ (S. 234)

Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Poenaru diesen Satz als Kommentar zum Sammelband formuliert hat. Denn trotz der Vielfalt der Themen bleiben die meisten der Aufsätze hinter dieser Prämisse zurück. Ihnen fehlt eine Kombination verschiedener und unkonventioneller Quellen und die Suche nach komplexen Antworten. Der Sammelband postuliert die Verabschiedung von einfachen Gegenüberstellungen wie „ideology“/„agency“ zwar, erprobt sie aber nicht konsequent. Solche Herangehensweisen dürften einer Annäherung an staatssozialistische Realitäten jedoch weitaus eher gerecht werden.

Anmerkungen:
1 Ulf Brunnbauer, „Die sozialistische Lebensweise“. Ideologie, Gesellschaft, Familie und Politik in Bulgarien (1944–1989), Köln 2007; Małgorzata Fidelis, Women, Communism, and Industrialization in Postwar Poland, Cambridge 2010; Dorothee Wierling, Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie, Berlin 2002.
2 Jan Palmowski, Staatssicherheit und soziale Praxis, in: Jens Gieseke (Hrsg.), Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR, Göttingen 2007, S. 253–272.
3 Włodzimierz Borodziej, Pauschalreisen als staatliche Veranstaltung – das polnische Reisebüro ORBIS, in: ders. / Jerzy Kochanowski / Joachim von Puttkamer (Hrsg.), „Schleichwege“. Inoffizielle Begegnungen sozialistischer Staatsbürger zwischen 1956 und 1989, Köln 2010, S. 207–230. Die Metapher des „sekundären Staatssozialismus“ stammt ursprünglich von Dariusz Stola.

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