Cover
Titel
Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR


Autor(en)
Kowalczuk, Ilko-Sascha
Reihe
Beck’sche Reihe 6026
Erschienen
München 2013: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
427 S., 25 Abb.
Preis
€ 17,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Gieseke, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der Band von Ilko-Sascha Kowalczuk über „Überwachung und Repression in der DDR“ erregte sofort nach seinem Erscheinen einigen Aufruhr. Anlass war seine Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen und öffentlichen Bild von den „Inoffiziellen Mitarbeitern“ (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Er kritisiert die extreme Fokussierung auf die IM und die Tendenz, scheinbar eindeutige Entscheidungshilfen für Enthüllungsfälle und Überprüfungsverfahren zu produzieren. Durch seinen Arbeitgeber, die Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU), und die anderen Akteure der „Aufarbeitung“ seien so „zehntausende Menschen als IM konstruiert, erschaffen worden, die offenbar vor allem, zuerst und überwiegend IM der Stasi waren und sonst offenbar nichts“ (S. 214). Es sei hingegen notwendig, nicht nur unfreiwillig Denkmuster der Stasi zu reproduzieren, sondern das „konkrete Tun des Einzelnen“ (S. 214) im historischen Kontext zu analysieren. In diesem Sinne gäbe es „praktisch bis heute keine IM-Forschung“ (S. 235). Eine solche Forschung erbrächte wahrscheinlich den Nachweis, so Kowalczuk, „dass die IM im Herrschafts- und Unterdrückungsapparat im Regelfall eine spezifische, punktuelle und temporäre Rolle spielten, mehr aber oft auch nicht“ (S. 236). Eine ironische Bestätigung dieser Kritik lieferten die aufgeregten Reaktionen: Kowalczuks nach seinen eigenen Worten „wissenschaftlich fast zweitrangig[e]“ (S. 235) These, die IM-Statistik müsste von rund 188.000 auf 109.000 korrigiert werden, provozierte eine Welle von Medienberichten, hektische Festlegungsrituale bei der BStU über die amtlich „richtige“ IM-Zahl, und sogar „Verharmlosungs“-vorwürfe von Kollegen.1

Dabei befasst sich der Band über weite Strecken mit ganz anderen Fragen. Weniger spektakulär und weitgehend aus dem gut gesättigten Forschungsstand gearbeitet sind die Abschnitte zur Gründungs- und Entwicklungsgeschichte sowie den hauptamtlichen Mitarbeitern. Kowalczuk legt hier großen Wert auf die Regiefunktion der SED und arbeitet insbesondere die biografisch bedingte hohe Gewaltorientierung der Gründergeneration heraus. Er regt an einigen Punkten neue Forschungsperspektiven an, etwa zu den Geschlechterverhältnissen als unterbelichteter Dimension sowohl innerhalb des Apparates als auch in seiner Überwachungs- und Verfolgungstätigkeit (S.18).

Der breiteste Akzent der Darstellung liegt jedoch auf Fallschilderungen der Verfolgung von Widerstandskämpfern und Oppositionellen, von den Aufständischen des 17. Juni 1953 bis zu den Repräsentanten der neuen Oppositionsgruppen in den 1980er-Jahren. Diese Sammlung enthält zwar vor allem relativ bekannte Fälle, die vom Autor selbst und anderen bereits breit analysiert wurden. Die lesebuchartige Zusammenstellung bietet aber einen guten Überblick über die Vorgehensweisen der Stasi in ihrer klassischen Rolle als Unterdrückungsapparat.

In diesem Zusammenhang arbeitet sich Kowalczuk auch an einigen kursierenden Zahlen über die Post- und Telefonüberwachung ab. Er weist nach, dass manche überbordenden Angaben zu deren Dimensionen schon rechnerisch kaum als plausibel zu betrachten sind. Ohnehin hätte die eigentliche gesellschaftliche Wirksamkeit der Staatssicherheit gerade darin gelegen, ihre allseitige Präsenz durch entsprechende Gerüchte zu suggerieren, die in der Bevölkerung kursierten: „Das Wissen über das MfS war gering, aber die Angst vor ihm in allen Gesellschaftskreisen hoch.“ (S. 277) Diese angenommene Präsenz habe keine Nischen zugelassen (S. 280).

Nimmt man diese Akzente zusammen, so lässt sich Kowalczuks Darstellung als Plädoyer lesen, sich einerseits nicht an einer verengten Apparat- und Institutionengeschichte festzuhalten, sondern die Wirkungsgeschichte in den Mittelpunkt zu stellen, hin zu einer „Geschichte von unten, die fragt, was die Stasi konkret tat“ – so der Klappentext des Buches. Andererseits möchte er die „klassische“, an Orwell gemahnende Funktion kommunistischer Geheimpolizeien gegen potentiell aufflammende Widerstandsakte wieder in den Mittelpunkt stellen. Ohne hier auf alle Punkte eingehen zu können, ergeben sich daraus einige bedenkenswerte neue Perspektiven. Vor allem Kowalczuks Unbehagen über eine intellektuell genügsame, an politischen Erfordernissen ausgerichtete Stasi-Forschung erscheint sehr überzeugend. Ob es hingegen gerechtfertigt ist, die „großen Männer“ der Opposition wieder so in das Zentrum zu rücken, erscheint eher zweifelhaft, denn auf diese war nach 1961 nur der kleinste Teil der Stasi-Verfolgung gerichtet.

Die eigentliche schwache Seite des Bandes liegt jedoch darin, dass er kaum einen der von ihm skizzierten neuen Ansätze tatsächlich in Angriff nimmt. So wirft er im IM-Kapitel zwar die Fragen nach Motiven von Informanten und nach ihren sozialen Kontexten, nach Denunziationsmustern und Verhaltensstrategien innerhalb und außerhalb der förmlichen Erfassung als IM auf. Er versäumt es aber, wenigstens exemplarisch zu erkunden, was dabei heraus käme, wenn man diese Fragen empirisch untersuchte. Nicht zufällig räumt Kowalczuk im Text immer wieder ein, „keine neuen Thesen oder empirischen Befunde“ zu haben. Er hoffe aber, „vielleicht weitergehende Forschungen“ (S. 12) anregen zu können.

Diese Schwäche in der Umsetzung gilt auch generell für den in der Einleitung angekündigten „Paradigmenwechsel“ (S. 14) zu einer „Geschichte der DDR-Geheimpolizei in der DDR-Gesellschaft und im SED-Staat“, die „genauso alle anderen gesellschaftlichen und staatlichen Sektoren, das Mittun und die Gegenwehr, die Anpassung und den Widerstand, die Zwänge der Herrschenden und Beherrschten, die allgemeinen wie speziellen Rahmenbedingungen in die Analyse mit einbeziehen“ will (S. 10f.). Die ambitionierte Absicht, „anhand grundlegender Beispiele“ seinen „neue[n] wissenschaftliche[n] Zugriff“ (S. 14) zu erläutern und „in ihrer Gesamtheit ein Bild vom MfS in Staat und Gesellschaft [zu] zeichnen“ (S. 16) löst Kowalczuk nur punktuell ein. Tatsächlich setzt er sich mit „der Gesellschaft“ jenseits von Herrschaftsapparat und kleiner Oppositionsszene fast gar nicht auseinander. Neben dem IM-Kapitel kommen hierzu kaum zwanzig Seiten zusammen. So legt der Autor unter Rückgriff auf seine älteren Arbeiten zwar überzeugend dar, wie eng der SED-Parteiapparat an der Berliner Humboldt-Universität mit dem MfS kooperierte. Er listet die dort präsenten Offiziere und IM (sic!) sowie ihre Stoßrichtungen auf (Abschirmung von sicherheitsrelevanter naturwissenschaftlicher Forschung, ideologische Aufsicht und Disziplinierung, Zurückdrängung von Westkontakten und einiges mehr). Die für den Paradigmenwechsel zu einer Gesellschaftsgeschichte der Repression interessanten Fragen jedoch, wie wirksam oder unwirksam die Staatssicherheit bei all diesen Anliegen war, in welchen Phasen und unter welchen Umständen sie ihre Maximen zum Beispiel gegen die Interessen der Fachdisziplinen durchsetzen konnte oder eben nicht, werden weder gestellt noch beantwortet. Nur der einsame Satz, das Berufsverbot für Dozenten mit Ausreiseantrag sei „von der volkswirtschaftlichen Dringlichkeit der Forschungsvorhaben“ abhängig gewesen, deutet an, dass sich die Stasi keineswegs immer durchsetzte (S. 164).

In dem kurzen Abschnitt (auf den Seiten 177–182) über tatsächliche oder per Gerücht und Vermutung indirekt wirksame Überwachung breiterer Bevölkerungskreise beschreibt er die Wandersagen von abgehörten Telefongesprächen und den Spitzeln in Studiengruppen oder unter NVA-Rekruten, und erzählt eine Reihe von Stasi-Witzen. Der wiederum entscheidenden Frage, was es über die MfS-Präsenz aussagt, dass es offenbar Zeiten und Räume gab, in denen es (zum Beispiel unter Kollegen oder Nachbarn) als risikoarm betrachtet wurde, diese Witze zu erzählen, geht Kowalczuk mit keinem Wort nach.

Seine Attitüde gewinnt überdies eine ein wenig anmaßende Note, wenn er den Leser wissen lässt, viele seiner „offenen Forschungsfragen“, die er „konkret und kritisch nachfragend“ erörtern wolle, seien ihm „selbst erst beim Schreiben an diesem Buch aufgefallen“. Zugleich behauptet er, „gesellschafts-, mentalitäts- oder kulturgeschichtliche Arbeiten, die auch das MfS einschließen oder die Stasi in solchen Perspektiven analysieren“ seien „sehr rar“ (S. 17f.). Tatsächlich gibt es schon seit längerer Zeit Konzepte, die sich mit der Rolle der Repressionsorgane in der „sozialen Praxis“ diktatorischer Herrschaft und dem „Eigensinn“ historischer Akteure (gleichviel, ob MfS-Offizier, Parteifunktionär, Denunziant, Durchschnittseinwohner oder Dissident) auseinandersetzen.2 Und mittlerweile gehört es zum Standard ernstzunehmender empirischer Studien zur Alltags- und Gesellschaftsgeschichte des Kommunismus, die Präsenz der Geheimpolizei mitzudenken und die von ihr produzierten Akten zu verwenden. Gemessen an der Flut von Publikationen, die lediglich IM enthüllen und Geschichten der Stasi-Allmacht erzählen, mag das mindestens gute halbe Dutzend solcher Bände noch immer als „sehr rar“ erscheinen.3 Aber es wäre gewiss produktiver und kollegialer gewesen, für die von ihm entdeckten Fragen all jene Befunde aufzugreifen, die andere auf diesem Feld schon erarbeitet haben. Nicht einmal das mikrohistorische Projekt der BStU-Forschungsabteilung zu Herrschaft und Alltag im Kreis Halberstadt findet die Beachtung Kowalczuks.4

So hinterlässt der Band einen zwiespältigen Eindruck. Er kritisiert völlig zu Recht das eingefahrene Bild von den „Inoffiziellen Mitarbeitern“, setzt in der Institutionengeschichte des Ministeriums einige bedenkenswerte Akzente und liefert einen Überblick über die Bekämpfung von Widerstand und Opposition durch die Staatssicherheit. Den annoncierten Perspektivwechsel zu einer Gesellschafts- und Kulturgeschichte der Repression hingegen löst er weder empirisch noch konzeptionell ein, obgleich Kowalczuk dafür einige Verbündete hätte, die diesen Weg längst beschritten haben.

Anmerkungen:
1 Bundestagsdrucksache 17/13581, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke, 16.5.2013; Christian Booß, Der IM, der keiner war, in: Der Tagesspiegel, 13.3.2013, <http://www.tagesspiegel.de/politik/streit-um-stasi-forschung-der-im-der-keiner-war/7921198.html> (21.08.2013).
2 Vgl. z.B. Alf Lüdtke (Hrsg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991; Thomas Lindenberger, In den Grenzen der Diktatur. Die DDR als Gegenstand von ‚Gesellschaftsgeschichte‘, in: Rainer Eppelmann u.a. (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn 2003, S. 239–245; Sandrine Kott / Emmanuel Droit (Hrsg.), Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive, Berlin 2006.
3 Vgl. exemplarisch Georg Wagner-Kyora, Vom „nationalen“ zum „sozialistischen“ Selbst. Zur Erfahrungsgeschichte deutscher Chemiker und Ingenieure im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2009; Dolores Augustine, Red Prometheus. Engineering and Dictatorship in East Germany, 1945–1990, Cambridge 2007; Daniel Logemann, Das polnische Fenster. Deutsch-polnische Kontakte im staatssozialistischen Alltag Leipzigs 1972–1989, München 2012.
4 Vgl. Daniela Münkel, Staatssicherheit in der Region. Die geheimen Berichte der MfS-Kreisdienststelle Halberstadt an die SED, in: Deutschland Archiv 43 (2010) 1, S. 31–38.

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