Titel
Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen


Herausgeber
Stambolis, Barbara
Reihe
Formen der Erinnerung 52
Erschienen
Göttingen 2013: V&R unipress
Anzahl Seiten
819 S.
Preis
EUR 59,99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Lukas Möller, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Kassel

Die deutsche Jugendbewegung, entstanden um 1900 und wie die anderen so genannten Reformbewegungen jener Zeit zum Chiffre für eine andere, bessere Kultur und Gesellschaft geworden, ist nach wie vor ein bedeutsamer Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Zum einen liegt es daran, dass dieser Bewegung Menschen angehörten, denen Einfluss in Politik, Kultur und Wissenschaft nachgesagt werden kann. Einige davon versammelt der hier besprochene Band. Zum anderen bleibt die Jugendbewegung aber auch deshalb lebendig, weil sich in den letzten Jahrzehnten ein breites Netzwerk an Forschenden entwickelt hat, die ausgewiesene Kenner des Gegenstandes sind und diese Kenntnisse weiter verfeinern und publizieren. Der Band „Jugendbewegt geprägt“, der im Jahr des 100. Jubiläums des „Ersten Freideutschen Jugendtags“ auf dem Hohen Meißner bei Kassel 1 – einem gemeinsamen Referenzereignis der sonst heterogenen Bewegung – erscheint, ist (auch) ein Zeichen dieser funktionierenden Netzwerke.

Die Herausgeberin Barbara Stambolis, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Paderborn und Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats des Archivs der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein (Witzenhausen), bringt in dem 819 Seiten starken Sammelband 58 Essays von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Geschichts-, Erziehungs-, Politik- und Sozialwissenschaften sowie Theologie zusammen, die sich dort auf fünf bis 20 Seiten mit verschiedensten Persönlichkeiten – mit einer Ausnahme Männer – befassen. Darunter befinden sich die Namen Otto Abetz, Siegfried Bernfeld, Willy Brandt, Johannes Rau, Wilhelm Flitner, Helmut Gollwitzer, Werner Heisenberg, Walter Laqueur, Carlo Schmid und Hans Scholl. Ein kurzes Biogramm leitet die Essays jeweils ein. Für den gewählten Kanon, so macht die Einleitung des Bandes deutlich, lassen sich keine harten Kriterien benennen. Die „gesellschaftliche, soziale oder politische Rolle der zu Porträtierenden“ (S. 38) spielt eine Rolle, ebenso eine gewisse „Prominenz“. Zugleich ist das Vorhandensein einer Selbstdeutung im Kontext der Jugendbewegung von Belange. Letzter Punkt betrifft die gesamte Konzeption des Sammelbandes. Denn nur wer die Jugendbewegung in Ego-Dokumenten selbst erwähnt hat, kam für die Publikation in Frage. Die Selbstdeutung Einzelner entscheidet somit – nicht zuerst der Wissenschaftler auf der Metaebene –, wessen „jugendbewegte Prägung“ in einem Essay näher beleuchtet wird. Stambolis reflektiert dies in ihrer Einleitung über Pierre Bourdieus Begriff der „biographischen Illusion“ (S. 27). Dennoch geht es dem Band um „Persönlichkeiten und deren Selbstreflexion, die […] über die ‚Bewegung‘ hinausweisend gesellschaftliche Bedeutung erlangten“ (S. 36). Daran anknüpfend liegt das forschende Interesse auf der Frage langfristiger Nachwirkungen bei Menschen, die der Jugendbewegung nahe standen. Welche „Menschenbilder“ wurden bei diesen Personen durch die Jugendbewegung geprägt, welche „nachhaltigen Impulse“ für gesellschaftliche Verantwortung und soziales Engagement nehmen ihren Ausgang in der jugendbewegten Erfahrung. „Inwiefern“, so fragt Stambolis, „lassen sich bei den Porträtierten gesellschaftliche Einflussnahmen ‚aus jugendbewegtem Selbstverständnis heraus‘ – zumindest ansatzweise – belegen?“ (S. 14) Der Begriff der „Prägung“, der sich im Titel des Bandes und in dieser Frage zeigt, wird allerdings bereits im Vorwort durch Anführungszeichen relativiert. Um „Prägungen“ im Sinne einer benennbaren Kausalität geht es Stambolis im Grunde – aus erkenntnistheoretischer Sicht zu Recht – nicht mehr. Diese Zurücknahme des ersten Eindrucks spricht für den weiteren Inhalt des Bandes, aber eben doch sehr wenig für dessen Titel, der durchaus eine starke suggestive Kraft entwickelt und möglicherweise auch entwickeln soll.

In seinem hervorragenden Essay über den Botschafter des „Dritten Reiches“ in Frankreich, Otto Abetz, verweist Eckhart Conze, Historiker der Universität Marburg und ebenfalls Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Archivs der deutschen Jugendbewegung, nicht nur auf dessen Lebensereignisse, seine Ambivalenzen und Verstrickungen. Conze reflektiert zugleich allgemein über die Frage, welche Kraft man in einer Biografie einem einzelnen Aspekt zusprechen sollte. Er schreibt: „Ebenso hüten wir uns vor dem Kurzschluss, der Mitgliedschaft in einer Gruppe oder einem Bund der Jugendbewegung überhaupt eine unmittelbare und direkt zurechenbare Wirkung zuzuschreiben.“ (S. 57) Konsequent weitergedacht bedeutet dies jedoch, dass weder die Werke von Tyrannen noch die von Helden allzu schnell der Jugendbewegung zugeschrieben werden sollten. Gerade dies passierte und passiert mit den „kulturellen Führern“ aus dem „Geist der Jugendbewegung“ (Helmut Schelsky; vgl. S. 13) jedoch immer wieder. Nicht zuletzt nimmt Stambolis Publikation ihren Ausgang in dieser Annahme. Was Conze in seinem Beitrag reflektiert, weist demnach auch auf eine Schwierigkeit der Publikation „Jugendbewegt geprägt“ insgesamt hin: Abetz Biografie ist in vielerlei Hinsicht betrachtenswert, sein opportunistisches Verhalten für seine Generation sicherlich beispielhaft. Die Jugendbewegung lässt sich in dieser Biografie ebenfalls finden – aber eine irgendwie geartete Prägung, gar eine jugendbewegte Prägung, arbeitet Conze mit guten Gründen nicht heraus. Mit dieser klugen Zurückhaltung gegenüber dem Schlagwort der „Prägung“ allerdings wird der Band zu einer Ansammlung spannender, lehrreicher Biografien, in der neben vielen anderen Schlagwörtern auch die „Jugendbewegung“ ihren nicht zu gewichtenden Platz hat.

Allerdings scheuen sich einige Beiträger nicht, Prägungen im Sinne einer Kausalität, auch bei unzureichender Quellenlage, anzunehmen. Der Theologe Traugott Jähnichen beispielsweise schreibt über Hermann Schafft, dass dieser wie „wohl kaum ein anderer evangelischer Theologe von der Jugendbewegung geprägt“ (S. 582) worden sei. Als Beleg dienen weitgehend Äußerungen von Dritten aus dem Band „Hermann Schafft – Ein Lebenswerk“ 2. Darin schreiben Freunde und Trauernde nach dem Tode Schaffts jene Geschichte des Mannes, wie sie ihn für die Nachwelt erhalten wissen wollten. Überdies soll Schaffts Leben durch das Fest am Hohen Meißner 1913 mitgeprägt worden sein. Allerdings hat Schafft nach allen zur Verfügung stehenden Ego-Dokumenten gar nicht an diesem teilgenommen. Jähnichen trifft den Kern der Person Schaffts wohl eher, wenn er schreibt: „Schafft übte auf die Jugendbewegung einen prägenden Einfluss aus.“ (S. 582) Diesen Einfluss konkret zu benennen gelingt dem Beitrag allerdings nicht. Zu suchen wäre er sicherlich vor allem in den Jahren nach 1945, als Schafft in der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein und im Freideutschen Kreis den Vorsitz innehatte. Sachlich angemessener wäre jedoch, von dem Versuch einer Einflussnahme und Prägung zu sprechen.

Ein großer Wert des Bandes „Jugendbewegt geprägt“ liegt bei aller möglichen Kritik an diesem Ansatz, wie auch Eckart Conze schreibt, im „individualisierende[n] Blick, weil er die Heterogenität der Jugendbewegung sichtbar werden lässt und dadurch die Auseinandersetzung mit dem historischen Phänomen Jugendbewegung erleichtert“ (S. 57). Nur beispielhaft sei die Verschiedenartigkeit der zeitlichen Zugänge und Gruppen der Jugendbewegung aufgezeigt. Wilhelm Flitner (S. 249–259) wird 1909, im Jahr seines 20. Geburtstags, im lebensreformerischen, kulturell orientierten Sera-Kreis aufgenommen. Manfred Hausmann, Schriftsteller und Prediger, wird Mitglied des Alt-Wandervogels, einer der originären jugendbewegten Gruppen, und ist 1913 Teilnehmer des Ersten Freideutschen Jugendtags (S. 357–367). Oder Werner Heisenberg, der 1919, im Alter von 18 Jahren, in Süddeutschland Teil der jugendbewegten „Gruppe Heisenberg“ ist (S. 369–382). Verbunden mit der politischen Arbeiterjugendbewegung ist hingegen der norddeutsche Willy Brandt, der früh durch seine Mutter in den 1920er-Jahren Bezug zu dieser Gruppe aufbaut (S. 173–189). Schließlich Walter Laqueur, der als Deutscher und Jude im Frühjahr 1933 der jüdischen Jugendbewegung beitritt und dort „einen Anker, eine Insel des Friedens inmitten einer Welt, die mehr und mehr feindlich wurde“ (S. 443–449, hier S. 449), findet.

Stambolis weist selbst auf eine weitere Stärke des Bandes hin: „Eine vergleichende Lektüre mehrerer Essays eröffnet also möglicherweise einen erhellenden Einblick in unterschiedliche Weisen, wie Menschen sich deutend ‚in die Zeit stellen‘ und ihre persönlichen Prägungen mit allgemeineren, zeitgeschichtlich anerkanntermaßen als einschneidend betrachteten Ereignissen in Zusammenhang bringen.“ (S. 27f.) Dabei sollte allerdings betont werden, dass es sich zuerst um selbstkonstruierte und selbstgedeutete Prägungen handelt und nicht zwangsläufig um tatsächliche. Der Band ist drittens deshalb wertvoll, weil er bisweilen zum Perspektivwechsel beim Blick auf „prominente“ Biografien zwingt. Er präsentiert einen ganz eigenen Blickwinkel, fordert den Leser und die Leserin auf, die Brille „Jugendbewegung“ aufzusetzen. Das ist spannend und bisweilen unterhaltsam und lehrreich zugleich – auch wenn es nicht für jede aufgenommene Biografie funktioniert.

In dieser Hinsicht ist „Jugendbewegt geprägt“ unbedingt lesenswert. Eines zweiten Bandes, wie ihn Stambolis in Aussicht stellt (S. 781f.), bedarf diese Personengeschichte der Jugendbewegung, die in einzelnen Essays den „Mythos Jugendbewegung“ mehr stützt als kritisch herausfordert, aber nicht zwangsläufig.

Anmerkungen:
1 Winfried Mogge / Jürgen Reulecke (Hrsg.), Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988.
2 Werner Kindt (Hrsg.), Hermann Schafft – Ein Lebenswerk, Kassel 1960.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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