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Titel
Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus


Autor(en)
Sieg, Ulrich
Erschienen
München 2013: Carl Hanser Verlag
Anzahl Seiten
315 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
D. Timothy Goering, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Die Geschichte der Philosophie beginnt mit einem Witz über einen Philosophen. Als der allererste Philosoph, Thales von Milet, beim Spazierengehen über Gott und Welt nachdachte und dabei andächtig in den Himmel blickte, fiel er unversehens in einen Brunnen. Schon Platon kannte diesen Witz und berichtete zusätzlich von einer anwesenden thrakische Magd, die den Sturz des Philosophen spöttisch kommentierte: „Er strenge sich an, die Dinge im Himmel zu erkennen, von dem aber, was ihm vor Augen und vor den Füßen liege, habe er keine Ahnung.“1 Im thrakischen Spott ist eine bekannte Charakterisierung von Philosophen enthalten, die noch heute nicht ganz unbekannt ist: Philosophen seien nicht besonders mit dem alltäglichen Leben vertraut, sondern weilten lieber in ihrer Gedankenwelt, entfernt von politischen und gesellschaftlichen Wirren um sie herum. Ulrich Sieg hat mit „Geist und Gewalt“ eine Arbeit vorgelegt, die sich gegen eine solche Philosophencharakterisierung stemmt. Für Sieg sind Philosophen keine weltfremden, aus ihrer Zeit gefallenen Denker, weshalb sich eine Geschichte deutscher Philosophen vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus nur im Spannungsfeld zwischen philosophischer Theorie und gesellschaftspolitischer Lebenswelt, zwischen „Geist und Gewalt“, verorten lässt. Seine Studie reiht sich damit in eine schon länger etablierte ideengeschichtliche Forschung ein, die die „breite Kontextualisierung ideenhistorischer Phänomene“ (S. 14) zum analytischen Leitprinzip erhebt.2

Die beiden ersten Kapitel des Buches behandeln das Kaiserreich. Hier treten Neukantianer wie Wilhelm Windelband (1848–1915) in Erscheinung, die gleichsam zu den „metaphysischen Ärzten“ des Kaiserreichs gezählt werden können. Sie haben Werte als philosophische Arzneimittel verabreicht zur Behandlung von Panikstörungen in der Zeit der „nervösen Großmacht“. Eine lindernde Wirkung sollten diese Beruhigungsmedikamente deshalb haben, weil sie das tumultuarische Sein in dem unerschütterlichen Sollen verankerten. „Das Sein-sollende ist der Schlüssel zum Sein“3, hatte Ernst Troeltsch (1865–1923) einmal behauptet. Und mit dieser normativen Schlüsselgewalt ausgestattet, standen Wertphilosophen ihrer Gesellschaft selbstbewusst zur Seite. So sahen sie vor allem im Krieg gegen den Terror eine Möglichkeit, ihre Expertenfähigkeiten unter Beweis zu stellen. Die Schallwellen der gescheiterten Attentate auf Kaiser Wilhelm I. im Jahre 1878 rollten durch die Philosophischen Fakultäten und riefen sollensdenkende Wertphilosophen auf den Plan, die sich – vergleichbar mit G. K. Chestertons „Der Mann, der Donnerstag war“ (1908) – wie eine Art Kriminalpolizei intensiv mit der philosophischen Verfolgung und Verhütung dieser Taten beschäftigten. „Ohne Berücksichtigung der politischen Krisensituation 1878/79“, vermerkt Sieg, „bleibt der rigide Charakter [Wilhelm Windelbands] Wertphilosophie unverständlich. Sie wurde entwickelt, als mit dem Kaiser das symbolische Zentrum des Gemeinwesens attackiert war und bekämpfte ihrerseits den Relativismus als Wurzel des Übels“ (S. 55).

Nicht weniger in den je eigenen historischen Kontext des Kaiserreichs verstrickt war das Denken des berühmten Jenaer Philosophen Rudolf Eucken (1846–1926), dem das zweite Kapitel sich überwiegend widmet. In einem spannenden Narrativ wird gezeigt, wie „Eucken – ähnlich wie heute Peter Sloterdijk oder Richard David Precht – Fragen aufgriff, welche die Menschen bewegten, aber an den Universitäten keinen rechten Ort hatten“ (S. 78). Sieg verfolgt mit detektivischem Spürsinn den Briefwechsel zwischen Eucken und dem schwedischen Philosophen Vitalis Norström (1856–1916), der Eucken ins Gespräch um den Nobelpreis für Literatur brachte und bis zum Schluss den Jenaer Philosophen beriet. Die „Verbühnung der Philosophie Euckens“4 fand in der Verleihung des Nobelpreises (1908) ihren Höhepunkt, womit er endgültig zum „Musterbeispiel eines international operierenden Wissenschaftlers“ (S. 96) avancierte. Während Wertphilosophen wie Windelband ihrer Gesellschaft Werte verschrieben, waren neoidealistische Philosophen wie Eucken eher weltanschauliche Fitnesstrainer, die das philosophische Denken in die Bahnen eines Exerzitiums lenkten. „Der Sache nach war [Euckens] ‚Aktivismus‘ keineswegs nur alter Wein in neuen Schläuchen, sondern eine optimistische Weltsicht zur Bewältigung der vielfältigen Zukunftsaufgaben.“ (S. 100) So unterschiedlich Neoidealisten auch im Vergleich zu den Wertphilosophen waren, beide Philosophentypen wollten mit ihrem Denken gegenwartsnahe Fragen beantworten und gesellschaftliche Krisen bewältigen.

Chronologisch macht Siegs Arbeit mit dem dritten Kapitel einen Schritt vorwärts. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs erfolgte auch die „geistige Mobilmachung“ (Kurt Flasch) der Intellektuellen. Universitätsphilosophen setzten ihre Arbeit an der Nation und Kultur fort, weiteten aber die Tätigkeitsfelder in diesen Jahren aus: Aus dem Katheder wurde ein Stollen gemacht, Gedanken wurden zu Waffen. Der „Aufruf an die Kulturwelt“ vom 4. Oktober 1914 sowie die diversen „Ideen von 1914“ dokumentieren das Kriegsengagement der deutschen Philosophen, die in pathetischer Gebärde damit rangen, das deutsche Wesen zu bestimmen und die Einheit des deutschen Volkes weiter zu stärken. Philosophen wie Bruno Bauch (1877–1942) wurden zu selbsternannten Experten für die Ermittlung nationaler Bestimmungsmerkmale. In den entworfenen Blaupausen, wie Sieg gründlich zeigt, wurden insbesondere Juden systematisch ausgeschlossen und sollten sich allerhöchstens als „Gast im deutschen Hause“5 fühlen. Die patriotischen Aktivitäten der Philosophen im Ersten Weltkrieg machen daher plastisch, „wie gezielt antisemitische Ideologeme im Dienst eines auf innere Homogenität ausgerichteten Nationalismus eingesetzt wurden“ (S. 134).

Im „überhitzten Meinungsklima Weimarer Republik“ (S. 164) gerieten Philosophen und Intellektuelle, wie Sieg im darauffolgenden Kapitel zeigt, unter den „Druck einer Erwartungsinflation“ (S. 165). Der Zusammenbruch des Kaiserreichs hatte die Gesellschaft vor ein weltanschauliches Vakuum gestellt, das viele intellektuelle Akteure zu füllen versuchten. Denker wie Wilhelm Wundt (1832–1920), Max Wundt (1879–1963) und Bruno Bauch erstellten in dieser Zeit pechschwarze Zeitdiagnosen und legten ultranationalistische Ordnungsentwürfe vor. Sieg wirft in diesem Kapitel ein Schlaglicht vorrangig auf den Gemeinschaftsdiskurs dieser Jahre in den Schriften von Helmuth Plessner (1892–1895), Hans Freyer (1887–1969) und Martin Heidegger (1889–1976). Die komplexen Gemeinschaftsentwürfe dieser Philosophen fordern trotz großer Divergenzen übereinstimmend: Das Uneinholbare der menschlichen Existenz lasse sich keineswegs von einer Gemeinschaft vereinnahmen, müsse sich dennoch ihr freiwillig zu fügen erlernen. Und um die tatsächliche Umsetzung dieser Lehre bemühten sich Philosophen wie Plessner, Freyer und Heidegger auf ihre je eigene Weise. Auch wenn der weitgefächerte Gemeinschaftsdiskurs sich durch die Regierungsübernahme Hitlers grundsätzlich verändern sollte, lässt er erkennen, wie sich Philosophen in der Weimarer Republik um Denkfiguren bemühten, „welche die Überhöhung der Vergangenheit mit der Aussicht auf eine glorreiche Zukunft verbanden“ (S. 192).

Schließlich endet Siegs Arbeit mit den deutschen Philosophen im „Dritten Reich“. Auch wenn „der Philosophie beim nationalsozialistischen Umbau der Universitätswelt keine größere Bedeutung zukam“ (S. 200), hinderte das viele Philosophen nicht daran, oft krampfhaft ihre Loyalität zum nationalsozialistischen Staat zu bekunden. Tragikomisch ist dabei ein Intermezzo, das im Zusammenhang einer Art Festschrift der deutschen Wissenschaft für Adolf Hitler entstand. Diese Festschrift sollte sowohl die Errungenschaften der deutschen Wissenschaft bekunden als auch den deutschen Führer ehren. In einem Beitrag nutzte allerdings der Philosoph und Erziehungswissenschaftler Ernst Krieck (1882–1947) die Gelegenheit, seinen berühmten Kontrahenten Alfred Baeumler (1887–1968) indirekt als liberalen, blutleeren Gelehrten darzustellen. Unter der Nazi-Elite rief dieser Beitrag Empörung hervor, so dass die Festschrift beinahe verboten wurde. Am Ende blieb die peinliche Affäre allerdings nur eine Erinnerung daran, dass sich nationalsozialistische Loyalitätserklärungen an den Führer problemlos mit ungeschicktem akademischen Naserümpfen vereinbaren ließen. Auch die im Kohlhammer Verlag erschienene Reihe Kriegseinsatz der Geisteswissenschaft wird von Sieg besprochen und verdeutlicht die aktive Bereitschaft der Philosophen, ihre Fähigkeiten im Dienste des Nationalsozialismus zu stellen.

Siegs Arbeit wird insgesamt nicht von einer eindeutig identifizierbaren Fragestellung getragen. Vielmehr halten lebendige Narrative verflochtener Lebensgeschichten die Arbeit zusammen, die vor dem Hintergrund politischer Verhältnisse facettenreich gezeichnet werden. Wer das Buch daher mit der Erwartungshaltung liest, eine mit neuem Archiv- und Quellenmaterial gesättigte Forschungsarbeit zu finden, missversteht das Vorhaben und wird vermutlich enttäuscht sein. Sieg nimmt sich freilich die schwierige Aufgabe vor, komplizierte Sachverhalte der deutschen Philosophen- und Ideengeschichte erzählbar zu machen. Und das gelingt ihm. Die Lektüre ist daher ein intellektuelles Vergnügen, und dies nicht nur für das Fachpublikum, sondern vor allem auch für Nicht-Spezialisten. Im größeren Narrativ, das entsteht, lässt sich erkennen, wie deutsche Philosophen vom Kaiserreich zum Dritten Reich sich beständig darum bemühten, ihr Denken in den Dienst ihrer Zeit zu stellen – auch selbst zu den denkwürdigsten Zeiten. Und damit schallt der alte thrakische Spott doch ganz leise wider: Nicht nur durch isoliertes, andächtiges Philosophieren, sondern auch durch geistesgegenwärtiges Mitdenken laufen Philosophen beständig in Gefahr, in verborgene Brunnen zu fallen.

Anmerkungen:
1 Platon, Theaitetos, 173c–174a.
2 Einen guten – wenn auch skizzenhaften – Überblick zum Stand der Ideengeschichte bzw. zur „intellectual history“ geben: Peter E. Gordon: „What is Intellectual History? A frankly partisan introduction to a frequently misunderstood field“, <http://history.fas.harvard.edu/people/faculty/documents/What%20_is_Intell_History%20PGordon%20Mar2012.pdf> (17.05.2013) und Riccardo Bavaj, Intellectual History, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 13.09.2010, URL: <http://docupedia.de/zg/Intellectual_History?oldid=84627> (17.05.2013).
3 Ernst Troeltsch, „Moderne Geschichtsphilosophie“ (1904), in: Ernst Troeltsch (Hrsg.), Zur religiösen Lage. Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, S. 673–728, hier S. 707.
4 Friedrich Wilhelm Graf, „Die Positivität des Geistigen. Rudolf Euckens Programm neoidealistischer Universalintegration“, in: Rüdiger vom Bruch u.a. (Hrsg.), Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997, S. 53–85, hier S. 78.
5 Ernst Cassirer, „Zum Begriff der Nation. Eine Erwiderung auf den Aufsatz von Bruno Bauch“, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 34 (1991), S. 73–91, hier S. 82.

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