Cover
Titel
Männerchorgesang und bürgerliche Bewegung 1815–1848 in Mitteldeutschland.


Autor(en)
Nickel, Sebastian
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 37
Erschienen
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katrin Moeller, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Der Musikwissenschaftler Sebastian Nickel widmet seine Untersuchung der reichen Tradition des Männerchorgesangs im mitteldeutschen Raum. Er lässt diese mit der Etablierung der Vereinsstrukturen ab 1815 einsetzen und verfolgt die Entwicklung in den vier Städten Dessau, Magdeburg, Leipzig und Dresden bzw. allgemein des Thüringer Sängerbunds bis in das Jahr 1848. Die von ihm entwickelte Fragestellung verfolgt dezidiert historische Ziele: Ihm geht es primär um die politische Ausrichtung dieser Vereine (S. 15), wird doch die Untersuchung einer angenommenen patriotisch-freiheitlichen Grundierung der Gesangsvereine am Anfang des 19. Jahrhunderts prominent herausgestellt, zum Teil von ihm auch bezweifelt. Sie findet sich in den paradigmenbildenden Schriften zum bürgerlichen Verein intensiv herausgearbeitet. Nickel versteht es geschickt, die historischen Fragestellungen um interdisziplinäre Aspekte zu bereichern. Er fragt nach den musikalischen Innovationen und Rückkopplungen, die durch die politischen Impulse inspiriert worden sein könnten. Neuere Ansätze der Vereinsforschung, die eher nach den Formen und nach der Ausgestaltung eines breiteren bürgerlichen Engagements fragen, bleiben demgegenüber eher vernachlässigt.

Methodisch ist sein Unterfangen eine Herausforderung, bestehen doch die Hinterlassenschaften häufig aus Statuten, Liederbüchern oder Konzertprogrammen, die über die politische Mentalität und Haltung der einzelnen Mitglieder nur sehr bedingt Auskunft erteilen. Wichtigste Quelle sind – besonders für die frühen Jahre der Gesangsvereine – meist die retrospektiv entstandenen Festschriften, deren Verwendung weitere methodisch-rezeptionsgeschichtliche Probleme aufwerfen. Nickel übergeht leider jede Diskussion dieser methodischen Hürden und verweist stattdessen auf die fachspezifische Bedeutung musikwissenschaftlicher Interpretationen von Lied- und Notenwerken. Grundsätzlich erscheint diese Ausrichtung sehr begrüßenswert, ist damit doch gerade die geglückte Verbindung von musik- und geschichtswissenschaftlichen Forschungen in Aussicht gestellt. Gerade für eine Zeit, in der politisches Handeln aufgrund von Zensur und zunehmender Repression oft codiert vonstattengeht, wäre eine methodische Analyse hoch anschlussfähig an die Forschungen zu Sprechakttheorien und eventueller Entsprechungen im Musikalischen.

Unklar bleibt allerdings, welche inhaltlichen Auswahlkriterien zur Auswahl der vier Städte geführt haben 1 und wie die politischen versus geselligen Ambitionen jeweils analysiert und bewertet werden sollen. Überdies werden Formen des gemischten Chorgesangs oder Knabenchöre von vornherein aus der Untersuchung ausgeschlossen. Hier hätte man sich zumindest einen kurzen Verweis auf die durchaus heterogene Gesangslandschaft gewünscht, um den sich formierenden politischen Männergesang nicht zur einzigen Form des gesanglichen Kulturengagements zu stilisieren. Es bleibt ein Mangel der Arbeit nicht breiter zu analysieren, welche ganz unpolitischen Motive der jeweilige Gesangsverein vielleicht auch verfolgte.

Gewinnbringend ist dagegen auf jeden Fall die Einbeziehung ganz unterschiedlicher Handlungsträger. So unternimmt Nickel im Rahmen der Analyse der eigentlichen Gesangsvereine immer auch eine nähere Betrachtung einzelner herausragender Protagonisten und/oder des Liedguts. Hier zeigt die Untersuchung ihre Stärken, kann sie doch sehr detail- und faktenreich die Genese der Vereinsstrukturen nachzeichnen. Kenntnisreich führt Nickel eine Vielzahl von Quellen und vor allem Sekundärliteratur zusammen. So gelingt es ihm sehr gut, die Entwicklung der Vereinsgeschichte des Männergesangs in den vier Städten nachzuzeichnen und die meist sukzessive Politisierung durch die Wirkung herausragender Akteure und schrittweise Öffnung nach außen durchaus glaubhaft zu machen.

Ob sich daraus insgesamt schon eine Geschichte des Männergesangs in Mitteldeutschland abstrahieren lässt, sei dahingestellt. Das Buch darf aber auf jeden Fall als ein sehr wichtiger Beitrag zur Erschließung der mitteldeutschen Gesangsvereine bezeichnet werden. Konsequent arbeitet es die politischen Haltungen der einzelnen Akteure heraus und verweist auf die sich verstärkenden Tendenzen des auch offensiver vermittelten politischen Dissenses. Besonders die breite Einbeziehung von weiteren Gruppierungen wie etwa der evangelischen "Lichtfreunde" oder der Deutschkatholiken zeigen nach Nickel die enge Verflechtung der Vereine im Politischen auf.

Die Analyse bleibt hier immer stringent der Fragestellung verpflichtet. Sie folgt allerdings meist der chronologischen Abfolge von historischen Ereignissen, nicht so sehr einzelnen Aspekte der analytischen Betrachtung. Dies macht es im Zweifelsfall zwar etwas schwierig, einzelne Forschungsbefunde systematisch zu erschließen. Dieses Manko fängt aber die gute Zusammenfassung auf, da das Fazit breit entfaltet wird und jeweils auf den Analyseteil zurückverweist. Nickel umgeht jede abstrahierende Typisierungen von Vereinen, Protagonisten oder die Herausstellung von typischen Praktiken bzw. Merkmalen der symbolisch-politischen Kommunikation. Sehr prominent verweist er immer wieder auf die herausgehobene Rolle einzelner Protagonisten, die über ihre charismatische Führung weitere Mitglieder für ihre Sache vereinnahmen und so die entscheidende Sogwirkung (und politische Ausrichtung) erzeugten.

Während Sebastian Nickel sich bei der Entwicklung der Forschungsfrage noch skeptisch zeigte, wie weit von einer Politisierung der Gesangsvereine zu sprechen sei, verweist er nun konzentriert auf eine dichte politische Ausrichtung der Vereine. Was in Anschluss an die Arbeiten von Düdings und Klenke 2 wenig überraschend erscheint, erhält in Gestalt der musiktheoretischen Analyse der Lieder nochmals Bestätigung. Hier enttäuscht das nur knapp skizzierte Ergebnis fast ein wenig, hätte doch eine intensivere musikwissenschaftliche Interpretation gerade für die "laienmusikalische" historische Zunft eine wichtige Ergänzung geleistet. Stattdessen verweist Nickel auf weitere künftige Forschungsfelder wie Netzwerkbildung, Nationalgedenken, Judenemanzipation etc. und weitere vergleichende Forschungen zum politisch-oppositionellen Männergesang. Etwas vernachlässigt bleibt ebenso die Frage nach der Genese der neuen Formen bürgerlicher Vergemeinschaftung in der "neuständischen" Gesellschaft. Wie aus der frühneuzeitlichen Musikpflege plötzlich eine politische Vereinskultur erwächst und mit welchen symbolischen Praktiken hier Opposition sichtbar gemacht wird, bleibt ausgespart. Dazu wäre es zwingend notwendig, die Vereinsgeschichte jeweils nicht nur ab der Gründung im frühen 19. Jahrhundert zu fassen, sondern sie zeitlich nach vorne auszudehnen. Grundsätzlich wäre auch eine breitere Einbeziehung aller Gesangsgemeinschaften wichtig, um nicht in eine sehr einseitige politisierende Darstellung zu verfallen, die schon fast das Ergebnis vorbestimmt. Sie eröffnen vielleicht auch die Möglichkeit zur Einbeziehung der weiblichen Seite dieser Geschichte.

Anmerkungen:
1Außen vor bleiben unkommentiert etwa die Stadt Halle mit ihren zwei sehr frühen Gründungen (Akademische Liedertafel 1813 / Singakademie 1814 [Gemischter Chor]) oder das ähnlich wie Halle für die politisch-oppositionelle Entwicklung wichtige Jena.
2 Dieter Düding, Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1800–1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung, München 1984; Dietmar Klenke, Der singende "deutsche Mann". Gesangvereine und deutsches Nationalbewußtsein von Napoleon bis Hitler, Münster u.a. 1998.