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Titel
Die Schärfe der Konkretion. Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie


Autor(en)
Oy, Gottfried; Schneider, Christoph
Erschienen
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Alexander Glienke, Hannover

Im November 1959 präsentierte der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) in Karlsruhe im Rahmen der Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ Kopien von Verhandlungsprotokollen und Todesurteilen nationalsozialistischer Sondergerichte. Zahlreiche der dort aufgeführten Richter waren wieder im Justizdienst tätig. Sie waren zuvor bereits vom Ostberliner Ausschuss für Deutsche Einheit im Rahmen der Westpropaganda der DDR namentlich bekannt gemacht worden. In einer durch die Systemkonkurrenz der beiden deutschen Staaten geprägten Zeit sahen sich die Studierenden bald dem Vorwurf ausgesetzt, der DDR-Propaganda Vorschub zu leisten; im Kontext der bestehenden Unstimmigkeiten führte die Aktion zu einer Verschärfung der Auseinandersetzung zwischen SPD und SDS, die 1961 im Unvereinbarkeitsbeschluss endete. Veranstaltungsräume wurden gekündigt, Ausstellungsmaterialien verschwanden und der Hauptinitiator der Ausstellung, Reinhard Strecker, erhielt zahlreiche Drohbriefe. Schnell wurde unterstellt, dass es sich bei den von dem Studenten Strecker in Archiven der DDR, Polens und der Tschechoslowakei gesammelten Aktenkopien um Fälschungen handele – ein Vorwurf, der jedoch an Kraft verlor, nachdem der amtierende Generalbundesanwalt Max Güde den Unterlagen in einem bundesweit veröffentlichten Interview Authentizität bescheinigte. In der Folgezeit behandelte die Presse das Thema zunehmend differenzierter. Es wurden Strafanzeigen gegen wieder amtierende ehemalige nationalsozialistische (NS) Justizjuristen wegen des Vorwurfs der Beteiligung an Justizverbrechen erstattet, Staatsanwaltschaften im gesamten Bundesgebiet setzten sich mit den Fällen auseinander. In der Folge beschäftigte das Thema die Rechtsausschüsse der Landtage und des Deutschen Bundestages. Schließlich wurde über Paragraf 116 Deutsches Richtergesetz die freiwillige vorzeitige Pensionierung von Richtern und Staatsanwälten ermöglicht. Bis zum Sommer 1962 traten insgesamt 149 Justizjuristen in den vorzeitigen Ruhestand. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war eine kleine studentische Ausstellung, die in den Jahren 1959 bis 1962 in zahlreichen Städten im Bundesgebiet und in Westberlin gezeigt wurde.

Gottfried Oy und Christoph Schneider widmen ihren Band „Die Schärfe der Konkretion“ Reinhard Strecker, dem Hauptinitiator der Ausstellung. Unter Bezugnahme auf diese und andere Aktionen widersprechen sie dem „dominanten Narrativ des Verhältnisses der 68er-Bewegung zum Nationalsozialismus“ (S. 9) und „der (erinnerungspolitischen) Großerzählung von der erfolgreichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit“ (S. 10). Der Band ist in drei sich aufeinander beziehende Abschnitte aufgeteilt: ein Zeitzeugengespräch mit Reinhard Strecker sowie zwei Aufsätzen von Gottfried Oy und Christoph Schneider. Die Ausführungen Reinhard Streckers bilden dabei den Fixpunkt des Bandes.

Im ersten Teil gibt Reinhard Strecker Auskunft über einige Stationen seines Lebens. Den Schwerpunkt bildet sein politisches Engagement in Bezug auf die Aufklärung über den Nationalsozialismus und seine Nachwirkungen. So geht er unter anderem auf den Frankfurter Kongress des SDS ein, auf die Umstände der ersten Ausstellung in Karlsruhe im November 1959, auf den von ihm 1961 publizierten Dokumentenband zum damaligen Staatssekretär im Bundeskanzleramt Hans Globke und auf seine Arbeit im Rahmen einer Berliner Arbeitsgruppe zur Geschichtsschreibung in Schulbüchern.

In dem sich anschließenden zweiten Teil des Bandes widmet sich Gottfried Oy in seinem Beitrag „Die Neue Linke und der Nationalsozialismus“ der Rezeption der personellen Kontinuitäten „durch die anhebende Studentenbewegung“. Er skizziert die Stationen der studentischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus: von der Unterstützung der von Erich Lüth initiierten „Aktion Friede mit Israel“ durch die Hochschulgruppen des SDS in Bonn und München im Jahre 1951 über die Proteste gegen Veit Harlan Anfang der 1950er-Jahre, den Berliner „Studentenkongress gegen Atomrüstung“ im Januar 1959 und die im Februar 1960 vom SDS-Landesverband an der Freien Universität Berlin durchgeführte Tagung „Die Überwindung des Antisemitismus“ sowie über die 1963 durch Studierende in Tübingen und ein Jahr darauf in Marburg geäußerte Kritik an der mangelnden Thematisierung von NS-Kontinuitäten an deutschen Hochschulen bis hin zu den Studentenprotesten der Zeit um 1968. Hier verortet er ein „Scheitern der Aufklärung“ (S. 145) und konstatiert, dass kaum ein Jahrzehnt, nachdem „die Analysen zum Nationalsozialismus und Antisemitismus zu klaren Schwerpunktsetzungen in der Politik des SDS“ geführt hätten, „am Ende der Studentenbewegung kaum noch von der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Bekämpfung des Antisemitismus die Rede“ gewesen sei (S. 156).

Das abschließende, von Christoph Schneider verfasste Essay nimmt seinen Ausgangspunkt bei den Verhältnissen, die Reinhard Strecker vorfand, als er 1954 über Celle nach Berlin zurückkehrte. Schneider spannt einen weiten Bogen von den Amnestiebestrebungen der Regierung Adenauer über Artikel 131 Grundgesetz und die damit einhergehende Wiedereinstellung von Tausenden ehemaligen Beamten des NS-Staates, über einzelne Ereignisse mit nachhaltiger Wirkung auf die Aufarbeitung des Nationalsozialismus – wie den Ulmer Prozess gegen die Einsatzgruppe Tilsit, die Errichtung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, die antisemitischen Zwischenfälle des Winters 1959/60 –, über die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ bis zur 1963 begonnenen, aber letztlich im Jahre 1969 gescheiterten strafrechtlichen Verfolgung der Schreibtischtäter des Reichssicherheitshauptamtes. Schneider bietet in seinem Beitrag einen Überblick über die Reintegration von NS- Belasteten und die Aufarbeitungsbemühungen Einzelner. Er spannt dabei einen weiten Bogen zu den ausländerfeindlichen Ausschreitungen und Gewalttaten der Jahre 1991/92 in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen und den im Frühsommer 2012 aufgedeckten Verbindungen zwischen rechtem Milieu und den bundesdeutschen Sicherheitsbehörden. Daraus schlussfolgert er, dass „Staat und Gesellschaft einen Nazifundus konservieren, ihn mit V-Mann-Salär und themenspezifischer Nonchalance reorganisieren“ (S. 243).

Mit dem Zeitzeugengespräch bietet sich dem Leser ein durchaus interessantes Narrativ, das erhellende Einblicke in die subjektive Deutung der behandelten lebensgeschichtlichen Episoden aus der Retrospektive des beteiligten Zeitzeugen bietet. Es ist bedauerlich, dass die Hinterfragung und Prüfung der Ausführungen Streckers, wie jene, vom polnischen Innenminister Mieczysław Moczar „als zionistischer Agent entlarvt“ (S. 23) worden zu sein, dem Leser überlassen bleibt. Streckers Erklärung, wonach die Unterschriftenaktion der Berliner Hochschulen zur Stützung einer Petition „natürlich absolut nichts bewirkt“ (S. 25) habe, gibt die Nachwirkungen der Aktion nicht hinreichend wieder, da sie an anderen Hochschulen aufgegriffen worden ist und die parlamentarische Behandlung des Themas angeregt hat. Die Aussage erlaubt jedoch Rückschlüsse auf die Erwartungshaltung Streckers, der sich durch das „Scheitern“ der Aktion auch rückblickend in seiner zeitgenössischen Einschätzung der Erfolgsaussichten bestätigt fühlt. Hier wären ergänzende, über schlichte Anmerkungen zu einzelnen Personen hinausgehende Fußnoten wünschenswert gewesen, die dem mit der Materie nicht vertrauten Leser als Hilfestellung hätten dienen können. Zudem wäre ein tabellarischer Lebenslauf oder die Auflistung einiger grundlegender gebündelter Angaben zu den Lebensstationen des Interviewten zur Orientierung der Leser hilfreich gewesen.

Der Wendung von Gottfried Oy gegen die „Fixierung auf 1968“ (S. 95) kann nicht widersprochen werden, das von beiden Autoren kritisierte „Narrativ des Verhältnisses der 68er-Bewegung zum Nationalsozialismus“ (S. 9) ist jedoch längst nicht mehr so dominant wie von ihnen behauptet. Die zeithistorische Forschung ist sich inzwischen weitgehend einig, dass der 68er-Bewegung und dem Konflikt der Generationen um die Versäumnisse im Umgang mit der NS-Vergangenheit eine längere Zeit des gesellschaftlichen Wandels vorausging. Auch dem Bild des SDS vor 1961 als „Parteisoldaten, die stramm ihren Hochschulverband auf Parteilinie führten, um sich ihre spätere Karriere nicht zu verbauen“ (S. 95), ist bereits in zahlreichen Publikationen zur Studentenbewegung, zur Geschichte des SDS, der Antiatombewegung und allgemein in den Untersuchungen zur Vergangenheitspolitik der 1950er-Jahre widersprochen worden.1 Ebenso ist die von beiden Autoren konstatierte Großerzählung, in der die „Jahre bis Ende der 50er als eine Verzögerung, die die erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem NS nur aufschob“ (S. 15), dargestellt werden, bereits in zahlreichen Untersuchungen der letzten Jahre aufgebrochen worden.

Gerhard Oy und Christoph Schneider kommt das Verdienst zu, sich in ihrem Band mit Reinhard Strecker einem „[e]ngagierten Demokraten“2 zu widmen, dessen Beitrag zur Aufarbeitung der Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der historischen Forschung bislang nur punktuell behandelt worden ist. Dabei legen die beiden Autoren durchaus lesbare Überblicksartikel zur Reintegration belasteter Funktionsträger und zu den Bemühungen um eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus vor. Der in der Einleitung suggerierte Anspruch von Tabubruch und Revision vorgeblich dominanter „Großerzählungen“ kann jedoch schon aufgrund mangelnder Dominanz dieser Erzählungen nicht eingelöst werden.

Anmerkungen:
1 Tilman Fichter, SDS und SPD. Parteilichkeit jenseits der Partei, Opladen 1988; Willy Albrecht, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Vom parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken, Bonn 1994; Wolfgang Kraushaar, Die Protest-Chronik 1949–1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie. 3 Bde., Hamburg 1996.
2 Claudia Fröhlich/Michael Kohlstruck (Hrsg.), Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999.

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