Cover
Titel
Les musées d’ethnologie. Culture, politique et changement institutionnel.


Herausgeber
Mazé, Camille; Poulard, Frédéric; Ventura, Christelle
Reihe
éditions du CTHS, collection: Orientations et méthodes
Anzahl Seiten
295 S.
Preis
€ 27,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Gorgus, historisches museum frankfurt

Nicht die lang erwartete Eröffnung des Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée (MuCEM) in Marseille war der direkte Anlass für den Sammelband über ethnographische Museen in Frankreich, sondern eine Tagung. Aber das Museum – die Nachfolgeinstitution des Pariser Volkskundemuseum ATP – ist das herausragende Beispiel für die Problematik, um die die Aufsätze kreisen: Institutionen mit volks- und/oder völkerkundlichen Sammlungen sind insbesondere seit den 1990er-Jahren durch zahlreiche Krisen geschlittert und mussten ihre Legitimation deutlich machen. Es geht den Herausgeber/innen Camille Mazé, Frédéric Poulard und Christelle Ventura aber nicht um eine weitere Ausleuchtung vielfach beschriebener Krisen, sondern um eine Analyse der politisch bewirkten institutionellen Veränderungen und den erfolgten Anpassungsleistungen. Nicht nur die jüngere Vergangenheit wird beleuchtet; die Aufsätze haben auch längere Zeiträume im Blick.1

Der Band unterteilt sich in drei große Kapitel: Im ersten Block geht es um die völkerkundlich ausgerichteten Institutionen, im zweiten um die museale Repräsentation von Frankreich und im dritten um regionale Institutionen.

Der Blick auf die „fremden“ Objekte konzentriert sich auf Paris. Fabrice Grognet beschäftigt sich mit den tiefgreifenden Veränderungen des Musée de l’Homme, das auf Wunsch des damaligen Staatspräsidenten Jacques Chirac für die Gründung des Musée du quai Branly 2002 seine völkerkundlichen Sammlungen abgeben musste – eine Parallele zur Gründung 1878, denn auch diese kann in Folge der Weltausstellung als politischer Akt gesehen werden. Durch die Geschichte der Institution zieht sich auch eine Dualität zwischen Museum und Wissenschaft, die sich in einem strukturellen „rendez-vous manqué“ (S. 64) äußert. Natürlich dürfen dann zwei weitere Pariser Projekte nicht fehlen: Christelle Ventura beschäftigt sich mit der Genese des Musée du quai Branly, während sich Anne Monjaret und Mélanie Roustan der Institutionalisierung und Musealisierung der Migration widmen – ein Projekt, das mit viel weniger Fortune als das präsidial verordnete Projekt gestartet ist und auch weiterhin um Anerkennung kämpft. Der Sitz der Cité nationale de l’histoire de l’immigration im ehemaligen Palast der Kolonien von 1931 und vormaligen Museum für Afrikanische und Ozeanische Kunst erinnert ständig an die koloniale Vergangenheit, auch wenn sie gewissermaßen stets ausgeblendet wird.

Der zweite Block beginnt mit einer Übersicht von Richard Dupuis, wie sich das Themenfeld Landwirtschaft seit den 1930er-Jahren in den volkskundlichen Museen im Staatsinteresse institutionalisieren konnte, um sich dann der zentralen volkskundlichen französischen Institution Musée des Arts et traditions populaires (ATP) zu widmen. Die langjährige Mitarbeiterin des Musée national des ATP und Direktorin des angegliederten Forschungszentrums Martine Segalen zeichnet den Aufstieg und Fall des Hauses Rivière (dem Gründer des ATP 1937) nach. Sie fragt sich, ob die seit 2005 geschlossene Institution eine den umfangreichen Sammlungen angemessene adäquate Nachfolge in Marseille gefunden hat und ob nicht auch hier, ähnlich wie es im Musée du Quai Branly der Fall war, ein ästhetischer Zugang überwiegen wird. Camille Mazé spinnt dann die Institutionengeschichte weiter und beschreibt die Entstehung des MuCEM als einen langen fachlichen Diskussionsprozess, aber vielmehr auch als einen Seismographen der Politik. Mazé teilt die Planungen in zwei Etappen: die erste Phase dauerte von 1996 bis 2009, als die Neuorientierung des ATP noch (aufgrund der Regierungssituation) ein sozialistisches Projekt war. Der Brückenschlag zwischen Europa und dem Mittelmeer stand im Vordergrund, als der Standort Marseille feststand. Die zweite Etappe begann mit der Absetzung des Direktors Michel Colardelle. In der Folge konzentrierte sich das Konzept verstärkt auf das Mittelmeer. Dieser Perspektivenverengung hing eng mit dem ambitionierten Projekt der Mittelmeerunion zusammen, die der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy anstrebte. 2013 schließlich konnte das MuCEM im Rahmen der europäischen Kulturhauptstadt eröffnet werden, nachdem jahrelang über alle politischen Ebenen und Organisationsformen hinweg über die Finanzierung gestritten wurde.

Der dritte Teil setzt sich mit den musealen Verflechtungen mit regionalen und kommunalen Strategien auseinander. Im Beitrag von Hélène Mélin geht es um die Rolle der Industriekultur im Norden Frankreichs. Ähnlich wie in Deutschland erfolgte die Aufwertung durch Musealisierung mit Beginn der 1970er-Jahre, als zahlreiche industrielle Standorte aufgegeben werden mussten. Mélin beleuchtet, wie die damals entstandenen Museen helfen, das Trauma des Verlustes zu überwinden und dabei zu Akteuren des kulturellen Tourismus wurden. Die Anpassungsleistungen gehen immer weiter: heute verlagern sich die politischen wie kulturellen Interessen eher auf Naturerbe und Nachhaltigkeit. Anne Hertzog untersucht die aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen erfolgten Neuorientierungen von Museen in der Region Picardie und zeigt auf, wie Themenfelder und Sammlungen in Vergessenheit geraten und nur bestimmte Teile der Geschichte berücksichtigt werden.

Zuletzt widmet sich Serge Chaumier dem Écomusée, ein Museumstyp, der in den 1970er-Jahren angetreten war, um aktiv mit den betroffenen Bewohner/innen Gegenwart und die Zukunft einer Region auszuhandeln. Das Écomusée, das aufgrund vieler Dynamiken zum „normalen“ Museum wurde hat es heutzutage versäumt, sich verstärkt Themen der Gegenwart anzunehmen. Chaumier beschreibt die „Neu-Erfindung des Écomusée durch das Écomusée“ am Beispiel einer Institution in St. Nazaire in der Bretagne. Verschiedene Etappen vom engagierten, politischen Museum über eine stark kommerzielle, touristische Ausrichtung hin zum Themenpark enden nun vorläufig in einem eher klassischen Stadtmuseum, das sich vielleicht doch noch etwas mehr auf die BewohnerInnen konzentrieren könnte.

Vielen Beiträgen merkt man an, dass dahinter ausführliche Forschungsleistungen wie etwa Dissertationen stecken und wie es bei Sammelbänden manchmal ist: manches ist bekannt, über anderes hätte man gerne mehr gewusst. Ethnographische Museen, so kann man nach der Lektüre zusammenfassen, sind dynamischer als vermutet – wenn auch mit einer eher negativen Bilanz. Die meisten Institutionen passen sich an und folgen den politischen gewollten Veränderungen. Der Preis erscheint hoch: Sammlungen werden verschoben, neu bewertet oder verschwinden gewissermaßen im Depot, Verantwortliche mit politisch genehmeren Personen ersetzt. Aber ist grundsätzlich solch eine Dynamik nicht auch notwendig, da sich ja auch die Welt ständig ändert, auf die sich das Museum bezieht? Das ethnographische Museum muss da wohl noch etwas stärker beweisen, dass es sehr wohl eine Berechtigung in unserer Gesellschaft hat.

Anmerkung:
1 Zu den Begriffen ‚musée ethnologique‘ und ‚musée de société‘ im deutsch-französischen Vergleich vgl. Anja Früh, Kulturpolitik und Geschichtspolitik in Europa. Zur Entwicklung ethnografischer Museen in Deutschland und Frankreich 1980–2010, in: Linda Erker (Hrsg.), Update! Perspektiven der Zeitgeschichte. Zeitgeschichtetage 2010, Innsbruck, Wien 2012, S. 681–691, bes. S. 682.

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