W. Gallois: A History of Violence in the Early Algerian Colony

Cover
Titel
A History of Violence in the Early Algerian Colony.


Autor(en)
Gallois, William
Erschienen
Basingstoke 2013: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
£50.00 / € 63,33
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moritz Feichtinger, Universität Bern

Der Versuch die historische Gewalt- und Genozidforschung von ihrer Fixierung auf den Holocaust zu befreien und ihre Methoden auf außereuropäische, insbesondere koloniale Kontexte anzuwenden, scheint sich als fruchtbarer Ansatz zu etablieren. William Gallois, Senior Lecturer an der University of Exeter, schaltet sich mit seinem neuen Buch „A History of Violence in the Early Algerian Colony“ in diese Debatte ein. Sein in der Einleitung formulierter Anspruch ist es, mit seiner Darstellung der Eroberung Algeriens durch die französische Armée d’Afrique in den Jahren 1830–1847 einen Beitrag sowohl zur Geschichte des französischen Kolonialismus in Algerien als auch zur vergleichenden Genozidforschung zu leisten.

Diesen Beitrag sieht Gallois vor allem in zwei konzeptuellen Innovationen: Erstens einer Interpretation extremer Gewalt als ritualisierte und performative Form der Kommunikation und zweitens in der Analyse der Genese und Praxis der „Razzia“, deren inhärente Logik Gallois als letztlich genozidal interpretiert.

Im zweiten Kapitel zeichnet William Gallois die diskursive Konstruktion der „Barbary Coast“ in der frankophonen Reiseliteratur des 19. Jahrhundert nach; der Topos einer barbarischen Umwelt und Bevölkerung, so seine These, sei die maßgebliche Legitimation für das besonders gewaltsame Vorgehen der Armee gewesen.

Ein konstituierendes Element des Barbarei-Diskurses war die Betonung der religiösen Differenz. Hatte diese erstaunlicherweise im 18. Jahrhundert eine untergeordnete Rolle gespielt, so wurde der muslimische Glaube im 19. Jahrhundert durchwegs nicht nur als primitiv und dem Christentum unterlegen, sondern vor allem als besonders gewaltvoll charakterisiert. Des Weiteren verschmolzen in der Konstruktion der „Barbary Coast“ die Bevölkerung und die ebenfalls als feindselig empfundene Umwelt zu einem bedrohlichen Ensemble. Aus dieser Charakterisierung des Maghreb und seiner Bewohner als wesenhaft „barbarisch“ und gewalttätig schlussfolgerten die maßgeblichen Akteure in Politik und Armee, dass extreme Gewalt die einzige Sprache sei, die dort verstanden würde.

Im dritten Kapitel stellt William Gallois die Einsatz- und Lebensbedingungen der Armée d’Afrique dar. Deren faktische Stärke wuchs zwischen 1830 und 1847 auf eine durchschnittliche Präsenz von 50.000 Mann im Jahr an. Den Großteil seiner Verluste erlitt dieses gewaltige Heer in den zwei Jahrzehnten der Eroberung Algeriens aber nicht auf Schlachtfeldern, sondern in Krankenstationen. Angesichts ihrer langen Präsenz in Algerien und der zeitweise nur zögerlichen Unterstützung durch die metropolitane Politik entwickelte sich die Armée d’Afrique zu einem autonomen ökonomischen Akteur. Die Integration lokaler Ökonomien, so argumentiert Gallois, musste jedoch mit Gewalt durchgesetzt werden, die wiederum selbst wirtschaftliche Auswirkungen hatte, etwa durch die Zerstörung von Anbauflächen und die Konfiszierung von Viehbeständen.

Im vierten Kapitel führt Gallois die metropolitane Politik in Gestalt des Premiers und Kriegsministers Nicolas Jean-de-Dieu Soult ein. Dessen legalistische Position, die er in zahlreichen Briefen an die Kommandeure immer wieder vertrat, stand nur scheinbar im Widerspruch zu den Maßnahmen der Armee in Algerien. Generalgouverneur Thomas Robert Bugeaud genoss gleichzeitig vorbehaltslose Rückendeckung aus der Regierung. Die scharfe Verurteilung einzelner Aktionen und Ereignisse durch Soult zogen nie personelle Konsequenzen nach sich; der Grundsatz, man habe es mit einer neuen Form des Krieges zu tun und die Brechung des algerischen Widerstandes sei anders nicht zu erreichen, wurde von Armeeführung und Politik geteilt. Paradigmatischer Ausdruck dieses Verständnisses einer spezifischen, vor allem auf die Lebenswelt und Ressourcen der Bevölkerung abzielenden Kriegsführung war die „Razzia“. Dieser aus dem Arabischen entnommene Begriff (ghazia = Überfall, oft mit Viehdiebstahl verbunden) bezeichnete eine Form des Angriffs, mit dem die Armee glaubte, lokale Gewaltpraktiken zu adaptieren.

Im fünften Kapitel wird die Entwicklung der Razzia zwischen 1837 und 1847 genauer nachgezeichnet. Vier verschiedene Typen von Razzien kann Gallois identifizieren, die gleichzeitig chronologisch aufeinanderfolgende Entwicklungsstufen darstellen: Die erste Form ist die „military razzia“, in der vor allem der kommunikative Aspekt der Gewalt im Vordergrund stand, die Brechung des Widerstandsgeists einzelner Stämme. Der zweite Typus, die „resource razzia“, hatte vor allem den Raub von Vieh und Versorgungsgütern für die französische Armee und ihre lokalen Verbündeten zum Ziel. Aus dieser Form entwickelte sich die „lifeworld razzia“, die durch Maßnahmen wie das Fällen von Frucht- und Obstbäumen oder das Niederbrennen von Feldern die wirtschaftlichen Ressourcen der widerständigen Stämme zerstören sollte. Die letzte Form, die „exterminatory razzia“ schließlich zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass nicht nur Anbauflächen, sondern ganze Dörfer und Siedlungen niedergebrannt wurden. Dieser Typ ging mit regelrechten Massakern an der Bevölkerung einher, die entweder mit verbrannt oder in Massenhinrichtungen ermordet wurde.

Das sechste Kapitel soll den Eskalationsprozess und die Dynamiken solcher Razzien genauer beleuchten, indem zwei exemplarische Expeditionen detailliert dargestellt werden. Als erstes Beispiel fungieren die Angriffe auf den kabylischen Stamm der Beni Menacer, als zweites die Operationen gegen die ostalgerischen Erdough, bei denen auch deren Anführer Zerdoud von den französischen Truppen gefangengenommen, verstümmelt und enthauptet wurde. Hier verlässt Gallois den Korpus der Militärquellen und zieht die Stimme eines außenstehenden Beobachters hinzu, die des britischen Journalisten Dawson Borrer, der 1847 ein Expeditionskorps in die Kabylei begleitete. Auch wenn die Dynamik der Razzia anhand der Beispielfälle deutlicher als bislang erkennbar wird, fällt gerade in diesem Kapitel eine gewisse Oberflächlichkeit in der Beschreibung der Gesellschaften auf, die unter der extremen Gewalt zu leiden hatten. Die widerständigen algerischen Stämme erscheinen austauschbar, weder geographische noch kulturelle oder historische Spezifika werden genannt. Dabei bestanden etwa zwischen nomadischen Gesellschaften in Westalgerien und der Berberbevölkerung der Kabylei mitunter ganz erhebliche sozio-ökonomische Unterschiede, die sich natürlich auch in ihrer jeweiligen militärischen Organisation und Taktik niederschlugen. Gravierender noch ist das Fehlen jeglicher „agency“ auf Seiten der Algerier. Bis auf den notorischen Emir Abdel Kader bleiben sowohl die militärischen Gegner der Franzosen als auch ihre autochthonen Verbündeten seltsam namen- und gesichtslos.

Das abschließende siebte Kapitel ist mit der erkenntnisleitenden Fragestellung überschrieben: „An Algerian Genocide?“ Mit Hinweis auf die Arbeiten Dirk Moses’ zur potentiell genozidalen Logik des Siedlerkolonialismus argumentiert Gallois hier für die Bewertung der Eroberung Algeriens als eine letztlich exterminatorische Politik. Damit versucht er, die Analyse Olivier Le Cour Grandmaisons, der für eine ähnliche Argumentationslinie scharf kritisiert wurde, zu rehabilitieren.1

Es ist bezeichnend, dass das Fragezeichen in der Überschrift des letzten Kapitels stehen bleibt. Ganz davon abgesehen, dass über das gesamte Buch der analytische Mehrwert des Genozidbegriffs unklar bleibt, scheint die empirische Basis von Gallois Studie eine endgültige Beantwortung der Frage, ob bei der Eroberung Algeriens von einem Genozid gesprochen werden kann, nicht herzugeben. Es fällt auf, dass eine Diskussion der Opferzahlen und des „demographischen Impacts“ – immerhin eines der wichtigsten Felder der Genozidforschung – erst auf den letzten drei Seiten des mit 170 Seiten ohnehin etwas knapp bemessenen Bandes und ausschließlich auf Basis von Sekundärliteratur erfolgt. Auch die Auswahl des Untersuchungszeitraums ist diskussionswürdig: Die Untersuchung 1847 enden zu lassen ist einerseits zwar nachvollziehbar, setzte doch in dieser Zeit mit dem Beginn der Migration und Besiedlung durch Europäer und der Integration der drei algerischen Départements in die Verwaltungsstruktur des Mutterlandes eine neue Phase des kolonialen Projekts ein. Andererseits vergibt Gallois damit die Chance, seine Konzepte der mimetisch-kommunikativen Gewalt und der lifeworld-razzia anhand des Kabylischen Aufstands unter Mokrani 1870–1871 zu überprüfen. Insgesamt wäre eine stärkere Gewichtung des Vergleichs mit anderen Kolonialkriegen wünschenswert gewesen. Dies hätte vielleicht dazu geführt, die Aussagen zu einem spezifischen „French colonial mind“ etwas abzuschwächen und gleichzeitig die sehr überzeugende Analyse der Razzia als Beispiel für eine gegen das gesamte ökologisch-ökonomische System gerichteten Kriegführung für andere historische Beispiele des Kolonialkrieges nutzbar zu machen.

Anmerkung:
1 Olivier Le Cour Grandmaison, Coloniser, exterminer. Sur la guerre et l’État colonial, Paris 2005. Kritik bei: Gilbert Meynier / Pierre Vidal-Naquet, Coloniser, Exterminer. De vérités bonnes à dire à l’art de la simplification idéologique, in: études coloniales, 10 mai 2006: <http://etudescoloniales.canalblog.com/archives/2006/05/10/2311101.html> (23.09.2013).

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