L. Niethammer u.a. (Hrsg.): Bühne der Dissidenz

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Titel
Bühne der Dissidenz und Dramaturgie der Repression. Ein Kulturkonflikt in der späten DDR


Herausgeber
Niethammer, Lutz; Engelmann, Roger
Reihe
Analysen und Dokumente 35
Erschienen
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
362 S., 30 Abb.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katja Stopka, Deutsches Literaturinstitut Leipzig

Die Stasi galt der DDR-Politik spätestens seit dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 als „Allheilmittel der Überwachung”1 auch im schwer überschaubaren kulturellen Feld. Nicht wenige Dokumentationen geben inzwischen Auskunft darüber, welcher Maßnahmen der Observierung und Zersetzung sich die Staatssicherheit bediente und welche Auswirkungen dies auf Künstler und Institutionen aus dem Kulturbereich hatte.2 Vor allem in der Abteilung Bildung und Forschung des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) findet diese Aufklärungsarbeit statt. Auch die von dem Jenaer Historiker Lutz Niethammer initiierte und von der DFG finanzierte mikrohistorische Untersuchung zu repressiven Eingriffen in die Populärkultur der 1980er-Jahre in der thüringischen Provinz fand unter maßgeblicher Mitarbeit der BStU statt, namentlich der von Matthias Braun und Roger Engelmann. Grundlage für die Untersuchung, deren Ergebnisse in dem hierzu besprechenden Band vorgestellt werden, war der bei der BStU vorliegende umfangreiche Bestand des sogenannten “ZOV Bühne” der MfS-Bezirksleitung Gera. Dieser Vorgang stellte zwischen 1982 und 1985 die alternative Theater- und Musikszene unter Beobachtung, die in und um Gera ansässig war.

Im Unterschied zu einem „einfachen“ Operativen Vorgang (OV) besaß ein Zentraler Operativer Vorgang (ZOV) eine höhere Priorität. Eingeleitet wurde ein solcher, aus mehreren Teilvorgängen (TV) bestehender und mithin besonders personalintensiver Einsatz, wenn der Verdacht einer “hohen Gesellschaftsgefährlichkeit” bestand. Der ZOV Bühne umfasste insgesamt vier Teilvorgänge (TV). Betroffen waren die Mitglieder der Folkloregruppe Liedehrlich um Stefan Krawczyk, der Kunstwissenschaftler Hans-Peter Jakobson, das Gesangsduo Matthias Görnandt und Berndt Rönnefarth sowie der Puppenspieler und Dramaturg Martin Morgner. Als Begründung für die Überwachung der unabhängig voneinander agierenden Künstler in einem ZOV nannte die Staatssicherheit antisozialistische Aktivitäten. Diese suchten „mittels des Liedes, der Texte, in Ausstellungen und Kunstkritiken […] sich Zugang zu Bühnen und anderen öffentlichen Einrichtungen in der Kultur und des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, um von da aus […] in ‚ihrem‘ Sinne Öffentlichkeitswirksamkeit zu erreichen“ (S. 130).

Besonders erstaunlich erscheint, dass in einer Zeit, in der sich auf nationaler Ebene die Kulturpolitik liberalisierte, in der Provinz ein Kulturkonflikt provozierte wurde, der in keinem Verhältnis zu den Aktivitäten der lediglich lokal prominenten Akteuren der alternativen Geraer Kulturszene stand. Ziel der DFG-Studie war es, so Lutz Niethammer in der Einleitung der Ergebnisstudie, mit Hilfe von Oral-History-Interviews mit Mitarbeitern der Staatssicherheit, mit Kulturfunktionären und mit den betroffenen Künstlern sowie anhand von Akten der SED-Bezirksleitung, der MfS-Kreisdienststellen und des Rates des Bezirks die Darstellungen in den Stasi-Akten zu hinterfragen. Vielmehr sollte die Untersuchung die Motive der Verwaltungs- und Parteieliten rekonstruieren und die, so die vollmundige Ankündigung, „vorherrschende politische Engführung solcher Konflikte in der Stasi- und Oppositionsforschung im dualen Wahrnehmungsmuster Täter/Opfer bzw. Diktatur (Stasi) vs. Opposition (Künstler) überwinden” (S. 24f.). Die Befunde bzw. Erkenntnisse werden in vier längeren Einzelstudien dargestellt, deren größtes Manko darin besteht, kaum aufeinander bezogen zu sein. Somit wird auch die von Niethammer in Aussicht gestellte Überwindung dualer Wahrnehmungsmuster nicht transparent.

Der Beitrag von Jeannette van Laak widmet sich dem ZOV Bühne aus dem Blickwinkel der Kulturpolitik und der Kunstszene. Dabei stehen das Kunstverständnis der regionalen Kulturfunktionäre und nicht zuletzt das Beziehungsgefüge zwischen diesen und den Protagonisten der Geraer Künstlerszene im Mittelpunkt. Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist die „Kehre“ in der Kulturpolitik der SED. Zu Beginn der 1980er-Jahre hatte der „Chefideologe“ Kurt Hager, der für die SED-Kulturpolitik zuständige ZK-Sekretär, dazu aufgerufen, Kunst und Kultur zukünftig nicht mehr ausschließlich in ihrer Funktion als Instrumente der SED-Politik zu verstehen (S. 65f.). Die Resultate von van Laaks langatmiger Studie, die vor allem den Biographien der Kulturfunktionäre und Künstlern zu großen Raum gewährt, zeigen, dass die Kulturfunktionäre der Thüringer Provinz den plötzlichen „‚liberalen‘ Kunstansichten“ Kurt Hagers (S. 74) kaum folgten und die altbewährten Auffassungen von der politischen Erziehungsfunktion der Kunst nicht aufgeben wollten. Dies lag nicht nur an einer erstarrten Linientreue, sondern auch daran, dass ihnen häufig jeder Kunstverstand fehlte. Hinzu kam, dass eine ältere Funktionärsgeneration sich nicht auf die innovativen Projekte und Experimente einer wesentlich jüngeren Künstlergeneration einzulassen bereit war (S. 74). Die Künstler wiederum reagierten auf die konservativen Vorstellungen der SED-Bezirkverwaltung mit ästhetischen Mitteln des „Anders-sein-Wollens“ (S. 116). Sie selbst verstanden sich nicht als dissident. Vielmehr wollten sie mit ihren Projekten und Auftritten neue populäre künstlerische Perspektiven eröffnen, wie sie von der Berliner Kulturpolitik in Aussicht gestellt worden waren.

Wie die MfS-Bezirksverwaltung bei Durchführung des ZOV Bühne vorging, dokumentiert Matthias Braun in dem ausführlichsten Beitrag des Bandes. In bewundernswerter Detailliertheit arbeitet er die vier Teilvorgänge aus den Materialien des MfS, der SED-Bezirksleitung, der Abteilung Kultur beim Rat des Bezirks sowie weiterer Entscheidungsträger im Kulturbereich in ihrer gesamten Komplexität heraus. Dabei erweist sich, dass die Kulturadministration die Künstler mitunter dort förderte, wo die Stasi sie behinderte (S. 152, 159, 163, 181f.). Am Beispiel der Observierung von Liedehrlich durch den Philosophie-Professor Werner Kahle (Deckname „Fritz Weiß“) wird andererseits deutlich, wie geschickt das MfS hochqualifizierte SED-Parteikader als IM einsetze, die ihren Sachverstand nutzten, um ideologisch Unverdächtiges zu manipulieren und mit „antisozialistischer“ Sprengkraft aufzuladen (S. 155). Die Erfolge der „Dramaturgie der Repression“ (S. 149), wie Braun die aufwändigen operativen Maßnahmen nennt, blieben allerdings äußerst mager. Den Mitarbeitern des MfS war es im Laufe von vier Jahren mitnichten gelungen, ausreichende Beweise für strafbare Handlungen vorzulegen. Das Resümee von Braun fällt entsprechend eindeutig aus. Er konstatiert, dass die Staatssicherheit im Bezirk Gera mit geradezu „obsessivem Furor“ vorging und sich als „der größte kulturpolitische Dogmatiker innerhalb des DDR-Machtapparats“ auswies (S. 125).

Als „Schattenriss einer Parallelgesellschaft“ kennzeichnen Katharina Lenski und Agnès Arp ihre instruktive Milieustudie über die in den ZOV Bühne involvierten hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Auf Grundlage des Vergleichs von drei Kohorten (die sie den Geburtsjahrgängen 1927–1934, 1935–1945 und 1945–1953 zuordnen) werden die Berufswege sowie die soziale, politische und militärische Sozialisation der 20 beteiligten Stasi-Offiziere erkundet. Da aufgrund der mangelnden Bereitschaft der am ZOV Bühne beteiligten Offiziere die geplanten Oral-History-Interviews nicht zustande kamen, dienten deren Kaderakten und Arbeitsbücher als Quellengrundlage. Diese machen einerseits sichtbar, wie unterschiedlich die Lebensläufe der Angehörigen der drei Kohorten verliefen: So konnten die ersten beiden Kohorten ihre Legitimationen noch weitgehend aus ihren antifaschistischen und sozialistischen Überzeugungen beziehen, was der dritten Kohorte nicht mehr möglich war. Andererseits galten allen drei Kohorten ein klares Freund-Feind-Schema sowie die „Trias aus Gehorsam, Konspiration und Parteilichkeit“ als wesentlicher Maßstab ihrer Arbeit (S. 316). Gleichwohl lässt sich aus dem vermehrtem Sucht- und Gewaltverhalten der dritten Kohorte schlussfolgern, dass das geheimpolizeiliche System der sozialen Abschirmung brüchig und damit der gesamte Apparat zunehmend unkontrollierbar wurde. Dieser Befund bestätigt Brauns These vom unangemessenen „Furor“ der Geraer Staatssicherheit.

In dem letzten Beitrag der Studie kommt mit Martin Morgner ein Stasi-Opfer des ZOV Bühne selbst zu Wort, dessen Überwachung man in den vorangegangenen Beiträgen aus mehreren Perspektiven verfolgen konnte. Als Prozess des „Zusammensetzens des Zersetzten“ (S. 325) rekonstruiert Morgner seinen 20-jährigen Umgang mit den eigenen Stasi-Akten. Dabei versteht sich Morgner nicht nur als „Betroffener“. Er war als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Lutz Niethammer in das Forschungsprojekt zum ZOV Bühne einbezogen. Als solcher beschreibt er so klug wie selbstreflektiert, wie ihm mit der Möglichkeit, sich in die „Umbau-Dynamik vom Zeitzeugen zum Zeitgeschichtler“ hineinzubegeben, die Chance eröffnet wurde, die mit der Akteneinsicht zwangsläufig verbundenen psychischen und emotionalen Belastungen zu verarbeiten (S. 343). Diese abschließende Perspektive tut der hauptsächlich auf die „Täter“ konzentrierten Studie gut. Jedoch reicht sie allein nicht aus, die einleitend versprochene Aufhebung der in der Forschung vermeintlich vorherrschenden dualen Wahrnehmungsmuster von Tätern und Opfern einzulösen.

Anmerkungen:
1 Jens Gieseke, Hauptamtliche Mitarbeiter, in: Karsten Dümmel / Melanie Piepenschneider (Hrsg.), Was war die Stasi? Einblicke in das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, 4. Aufl., St. Augustin 2012, S. 69–75, hier S. 69.
2 Vgl. etwa Rainer Kunze, Deckname „Lyrik“. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1990; Matthias Braun, Kulturinsel und Machtinstrument. Die Akademie der Künste, die Partei und die Staatssicherheit, Göttingen 2007; ders., Die Literaturzeitschrift „Sinn und Form“. Ein ungeliebtes Aushängeschild der SED-Kulturpolitik Bremen 2004; Siegfried Suckut (Hrsg.), Die DDR im Blick der Stasi 1976. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen 2009.

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