R. Oldenziel u.a.: Consumers, Tinkerers, Rebels

Cover
Titel
Consumers, Tinkerers, Rebels. The People Who Shaped Europe


Autor(en)
Oldenziel, Ruth; Hård, Mikael
Reihe
Making Europe
Erschienen
Basingstoke 2013: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
£65.00 / € 69,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jacob Krumrey, Europäisches Hochschulinstitut Florenz

„We, the authors of this volume, are card-carrying historians of technology“, erklären Ruth Oldenziel (Technische Universität Eindhoven) und Mikael Hård (Technische Universität Darmstadt) am Anfang ihres Buch „Consumers, Tinkerers, Rebels“ (S. 6). Ohne dieses stolze Bekenntnis empfände man das Etikett „Technikgeschichte“ etwas beengend für ein Buch, das europäische Geschichte auch dort erzählt, wo der unbedarfte Leser Technik zunächst nicht vermuten würde.

Das Lob gleich vorweg: Kaum hätte man sich einen schöneren Beweis vorstellen können für die kultur- und sozialgeschichtliche Erweiterung der Geschichte von der Technik. Dieses Buch erzählt davon, wie Nähmaschine und Schnittmuster, Heizungen und Baupläne für Mietkasernen, Zugabteile und Fahrräder, Kühlschränke und Konservendosen, Spielbaukästen und Computer das Alltagsleben der vergangenen anderthalb Jahrhunderte prägten: wohnen, essen, sich kleiden, sich fortbewegen, einkaufen, sauber machen, Müll recyceln, im Internet surfen. Und davon, dass Bürger wie Arbeiter, Hausfrauen, Dienstboten, Rentner wie Online-Aktivisten zu „Konsumenten, Tüftlern und Rebellen“ wurden, die auf eigensinnige Art technische Innovationen für ihre Zwecke nutzbar machten.

Mal waren diese Nutzer tatsächlich Rebellen, die mit Hilfe technischer Neuerungen Klassengrenzen einrissen, Geschlechterrollen hinterfragten oder gar politische Ordnungen herausforderten; ein andermal diente ihnen Technik eher dazu, die Gesellschaft zu festigen. Folglich lassen sich Oldenziel und Hård nicht festlegen auf eine einheitliche Sicht auf die Wirkung technischer Innovation. Zusammengehalten wird ihr Buch vielmehr durch einen bestimmten Blickwinkel: den auf die Nutzer von Technik. Wer ein Schlagwort braucht, probiere dies: Technikgeschichte von unten.

Nicht alles, was aus dieser Perspektive in den Blick gerät, überrascht: etwa dass Paris die Damenmoden der Welt bestimmte, Klassengrenzen einzuebnen begann und Frauen neu inszenierte. Gleichfalls nicht ganz neu ist die Erkenntnis, dass im Kalten Krieg Jeans zum Widerstand gerieten und Küchen zum Systemtriumph taugten. Neu indes ist die Montage dieser vielen Geschichten von der Technik zu einem Panorama des Langen 20. Jahrhunderts, das Oldenziel und Hård in drei Teile gliedern: von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, von der Zwischenkriegszeit bis hinein in die 1960er-Jahre und schließlich die jüngste Geschichte seit den 1960er-Jahren.

So breit ist dieses Panorama geraten, dass viele Debatten des Faches darin Platz finden – eine große Stärke des Buches. Der Leser erfährt etwas zur Geschichte der Geschlechterrollen, zu Hygiene und „social engineering“; aber auch etwas über trügerische Europa-Karten und über Europas innere Peripherien. Gleichzeitig liest er eine Geschichte der politischen Kultur, die erst von Fahrradvereinen und später von Internetaktivisten handelt, die einerseits eine durchaus patriotische Zivilgesellschaft erwachen ließen, andererseits aber NGOs avant la lettre inspirierten.

Wenn Oldenziel und Hård mahnen, den Eigensinn der Konsumenten nicht zu unterschätzen, scheint es, als diskutierten sie sogar mit dem politischen Feuilleton: Formt die Technik den Nutzer? Oder der Nutzer die Technik? Mit Blick auf die Debatte um das gegen Internetpiraterie gerichtete ACTA-Abkommen zum Beispiel stellen sie sich optimistisch an die Seite der „user citizen“. Ihre Schlussfolgerung ist gleichermaßen ein Plädoyer: „They become a force to be reckoned with.“ (S. 326)

Welch ein Glück für den Leser, dass die Autoren es mit dem eigenen Anspruch nicht so genau nehmen! Denn nicht nur Konsumenten, auch Produzenten kommen zu Wort, auch Stadtplaner, Sozialreformer und selbst staatliche Autoritäten. Chruschtschow und Nixon dürfen getrost nicht als alltägliche Anwender von Küchenmixer und Spülmaschine gelten und dennoch würde ohne einen Auftritt der beiden Herren der Geschichte der „Cold War Kitchen“ etwas fehlen.

Unvermeidlich, dass ein solch gewaltiges Panorama mitunter den scharfen Fokus einbüßt. Manchmal wird der rote Faden etwas dünn, den die Autoren zwischen Orten und Zeiten spinnen – etwa der, der von den Konserven englischer Hausfrauen der Zwischenkriegszeit zu den Hackern des Berliner Chaos Computer Club führt (im Buch übrigens fälschlicherweise als „Computer Chaos Club“ bezeichnet, S. 308).

Auf diesen Einwand erwidern Oldenziel und Hård: Der rote Faden führt nach Europa. Ob Hausfrau in Kent oder Hacker in Berlin, es seien diese Rebellen der Technologie, die Europa geschaffen hätten – „the people who shaped Europe“. Dass Technik – genauer: Ingenieure, Konstrukteure, Planer oder eben auch Konsumenten – Europa „schufen“, dies ist der Gedanke, der seit einem Jahrzehnt das internationale Forscher-Netzwerk „Tensions of Europe“ leitet, aus dem heraus das vorliegende Buch sowie dessen Reihe „Making Europe“ entstanden ist, die Johan Schot (Technische Universität Eindhoven) und Phil Scranton (Rutgers) herausgeben.1

Hier ist der Moment für einen Exkurs zur beeindruckenden Aufmachung dieses Buches – wie die der gesamten Reihe. Der Verleger Palgrave Macmillan ist vom seinem üblichen, sachlichen Design abgewichen und legt stattdessen ein großformatiges Hardcover vor samt Hochglanzpapier und aufwändig reproduzierten Fotografien. Ästhetische Maßstäbe setzt das Projekt aber nicht nur in einem Medium: Die Reihe „Making Europe“ hat einen hervorragenden Internetauftritt und, wichtiger noch, ein digitales Museum namens „Inventing Europe“, in dem es als Website und App zu jedem der sechs Bände eine eigene virtuelle Ausstellung gibt.2

„A New European History“ nennt sich die Reihe selbstbewusst im Untertitel. Für eine Geschichte Europas liest man erstaunlich viel über New Yorker Modehäuser, Computer aus Kalifornien, Supermärkte in Kansas, Nähmuster, die den Atlantik westwärts überqueren, und Jeans, die in die Gegenrichtung reisen. Oldenziel und Hård – in Einklang mit der Konzeption der Reihe – geben dafür eine kluge Begründung: Europa finde sich eben nicht auf der Landkarte, sondern in den Köpfen der Nutzer: Europa sei immer dort, wo Konsumenten Europa sähen.

Es gibt gute Gründe, diesen sozialkonstruktivistischen Ansatz für den überzeugendsten zu halten; im vorliegenden Buch zeigt sich jedenfalls die Konsequenz: Europa kann letztlich überall sein. Allerdings: Wer sich zum Sozialkonstruktivismus bekennt, verpflichtet sich zum Nachweis, dass Nutzer auch tatsächlich Europa im Sinn hatten, als sie Pariser Kleider in New York oder amerikanische Supermärkte in Bulgarien nachahmten – ein Nachweis, der Oldenziel und Hård in vielen Kapitel gut, in manch anderen nicht ganz so gut gelingt.

Am Ende des Buch stellen die Autoren fest: „In the end, however, the United States rather than Britain came to shape a shared European culture.“ (S. 324) Ist dies die These des Buches in Kurzform: Ist Europa eine Konsumkultur, die sich definiert durch, mit und gegen Amerika? – Vielleicht. Vielleicht ist genau das aber auch zu einseitig gedacht. Mit Blick auf das reiche Material des Buches ließe sich mit gleichem Recht über einen Begriff nachdenken, der bislang eher, oft mit normativem Ballast, aus der Ideengeschichte oder Politikgeschichte kommt: der Westen.

Wer Lust an der provokanten Zuspitzung hat, mag in Oldenziels und Hårds Buch die kulturgeschichtliche Replik auf Heinrich August Winkler sehen3: Mochten die Staatsmänner des Westens sich auch streiten über ihre politischen Ideale, die Konsumenten konnte der Atlantik nicht aufhalten, nicht einmal der Eiserne Vorhang. War Konsum am Ende der festere Kitt als die Ideen der Französischen Revolution? Muss man sich den Westen gar als eine Gemeinschaft von eigensinnigen Konsumenten vorstellen?

Aber auch dann entkommt man nicht der ewigen Frage: Wie imaginär war diese Gemeinschaft? Wie durchlässig ist sie heute? Während des Langen 20. Jahrhunderts, gab es da keine Automobile in Teheran, keine Computer in Santiago de Chile, keine Turnschuhe in Nairobi?

Diese Fragen wirft das Buch eher auf, als dass es sie beantwortet. Aber sind das zulässige Klagen? Nein! Nicht bei einem Buch, das es vermag, den Bogen zu schlagen von Nähmaschinen und Fahrrädern zu den ganz großen Fragen des Fachs.

Anmerkungen:
1 Das Netzwerk hat einen Internetauftritt: <http://www.tensionsofeurope.eu/> (05.11.2014). Vgl. außerdem das Themenheft der Zeitschrift „History and Technology“ vom März 2005. Einen Überblick gibt dessen Einleitung: Thomas J. Misa / Johan Schot, Inventing Europe: Technology and the Hidden Integration of Europe, in: History and Technology 21 (2005), S. 1–19.
2 Zur Reihe „Making Europe“ siehe <http://www.makingeurope.eu/> (05.11.2014); zur virtuellen Ausstellung siehe <http://www.inventingeurope.eu/> (05.11.2014).
3 Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, 3 Bde., München 2009–2014.

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