Cover
Titel
Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960–1975


Autor(en)
Büschel, Hubertus
Reihe
Globalgeschichte 16
Erschienen
Frankfurt am Main 2014: Campus Verlag
Anzahl Seiten
646 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Berthold Unfried, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien

Über ein halbes Jahrhundert schon gibt es „Entwicklungshilfe“ unter wechselnden Bezeichnungen – den Versuch, solchen Gesellschaften und Gegenden der Erde, die nicht auf der Höhe der höchst-entwickelten Gesellschaften und Gegenden zu sein scheinen, auf einen Entwicklungsweg zu verhelfen, der sie in der Tendenz auf das Niveau der Anderen bringen soll. Ein halbes Jahrhundert nur? Nein, so gleich ein Ergebnis von Hubertus Büschels Buch, diese Denkweise lässt sich weit in die koloniale Zeit zurückverfolgen! Da gibt es Kontinuitäten in Konzepten, Praktiken und Personal. In diese lang angesetzte Geschichte von „Entwicklungshilfe“ schlägt der Autor eine Schneise, indem er sie unter dem Aspekt der Konzepte von „Hilfe zur Selbsthilfe“ betrachtet, also jener entwicklungspolitischen Konzepte, die für sich reklamieren, diejenigen, denen sie „Hilfe“ angedeihen lassen, dadurch zur „Selbsthilfe“ zu befähigen.

Die Ursprünge findet Büschel in Konzepten der Kolonialzeit, nämlich in der französischen „Animation Rurale“ und im britischen „Community Development“. Damit bekommt er eine Richtschnur in die Hand, die ihn durch das hoch aufgehäufte Material führt. Auf der anderen Seite stellt sich einem derartigen Zugang ein Abgrenzungsproblem: Fallen nur solche Praktiken und Redeweisen in seinen Blickwinkel, die sich explizit als „Hilfe zur Selbsthilfe“ bezeichnen, oder reiht der Autor nah verwandte Redeweisen und Praktiken zu seinen Untersuchungsgegenständen, die sich selbst aber anders beschreiben? Beides kommt im Buch vor; maßgeblich scheint zu sein, was Büschel einer „Hilfe zur Selbsthilfe“-Diskursgemeinschaft zuordnet. Als deren grundlegende Prämissen beschreibt er: „[…] auf lokale Traditionen aufzubauen […], die Vorstellung […], dass es gerade in Afrika eine ganze Reihe ‚guter‘, aber durch den Kolonialismus vielfach verlorener oder vernichtender [sic] Traditionen gebe, die man durch Hilfe zur Selbsthilfe wieder beleben könne. Und drittens wurde als eine besonders wichtige dieser Traditionen die Genossenschaft angesehen, eine Form des gemeinschaftlichen, auf Entwicklungen abgestellten Wirtschaftens, die früher in Afrika sehr weit verbreitet und damit letztlich nur wieder herzustellen sei.“ (S. 85) Büschel versucht, die Rede von „Hilfe zur Selbsthilfe“ durch eine Vielzahl von Zitaten aus Publikationen von unterschiedlicher Bedeutung und Reichweite zu erfassen, ergänzt durch bildliche Quellen. Er sondiert ein gewaltiges Textkorpus und schöpft daraus Cluster an Aussagen, von denen nicht immer klar wird, welche Verbindlichkeit und Durchsetzungskraft mit ihnen verbunden war.

Den Zugang, Redeweisen wiederzugeben, hält Büschel ziemlich konsequent durch. Ein guter Teil des Buchs ist in indirekter Rede, also referierend verfasst. Das könnte man als eine Form der Zurückhaltung bezeichnen, die nicht Partei nimmt, sondern dem Leser die Freiheit der Positionierung lässt. Doch zu oft und zu massiv kommt Büschels eigene Position zu den vorgestellten Redeweisen durch, als dass diese Freiheit dem Leser gelassen würde. Die Praktiken, die mit dem Topos „Hilfe zur Selbsthilfe“ bezeichnet wurden, brächten ein anderes Bild zu Tage. Diese Reden interpretiert der Autor oft als Ausschmückung von üblen Praktiken des Zwangs, von Bevormundung, Gewalt und Rassismus; besser gesagt, von Praktiken, die in einer spezifischen Sicht unserer heutigen Zeit so erscheinen. Im zweiten und im dritten Teil des Buchs, das nach dem „Konzept“ den „Praktikern“ und der „Praxis“ gewidmet ist, verlässt Büschel den Boden der Darstellung von Redeweisen und versucht, zu einer Wirklichkeit dahinter vorzudringen. Das ist für ihn eine Wirklichkeit von Gewalt und Rassismus – so lautet ein Leitmotiv des Buchs.

„Hilfe zur Selbsthilfe“ bringe „Universalien des menschlichen Lebens als Wünsche der Afrikaner zur Sprache […] wie etwa sauberes Wasser und gehaltvolle Nahrung. Wenn dem nicht so war, Dorfbewohner sich beispielsweise vorstellten, repräsentative Gebäude zu errichten statt Brunnen zu bohren, dann ernteten sie Empörung, Spott und Unverständnis.“ (S. 532) So beschreibt Büschel jenen Grundwiderspruch von „Entwicklungshilfe“, die sich an einer Vorstellung von „Fortschritt“ orientiert: dass diejenigen, denen zu dieser „Entwicklung geholfen“ werden soll, die Zielvorstellung oft gar nicht teilen. Dann werden die auseinanderklaffenden Wirklichkeiten entweder durch Formen des Zwangs, wie sie Büschel schildert, oder – in der Darstellung nach außen – durch einen Partizipationsdiskurs forciert. Aber wird man sich in der Praxis des Lebens von universalistischen Vorstellungen freimachen können? Geht nicht auch ein Buchautor in der Praxis selbstverständlich von gewissen Universalien aus – der Erwartungshaltung etwa, dass ein Archiv (etwa in Tansania) funktioniert und Information liefert (grosso modo wie anderswo), ohne die das Buch nicht geschrieben werden könnte?

Im Postscriptum betont Büschel die Erkenntnis, die ihm bei der Archivarbeit auf Sansibar gekommen sei, dass es keine „Afrikaner“ als einheitliche Gruppe gebe (S. 643). Nun ist aber in seinem Buch häufig, nicht nur Redeweisen referierend, pauschal von eben solchen „Afrikanern“ die Rede (nur einige Beispiele: S. 24, S. 37, S. 246, S. 382, S. 507), wodurch Unterscheidungen auf Basis von Interessensgegensätzen und Positionierungen im internationalen Entwicklungsgeschäft in einer nebulösen Herkunftsbezeichnung verschwinden. Gleichzeitig ist es aber ein Verdienst Büschels, dass er die Aufmerksamkeit auf die post-kolonialen afrikanischen Entwicklungsbürokratien und das Heer an Entwicklungsexperten richtet, das sie hervorgebracht haben (zum Beispiel S. 278–283). Diese können nicht einfach als „Afrikaner“ oder als Objekt europäischer Entwicklungsbemühungen beschrieben werden. Sie sind vielmehr ein eigenständiger Teil des weltweiten Entwicklungsgeschäfts mit eigener Handlungsmacht – das sieht auch Büschel so (zum Beispiel S. 39). Doch zieht er aus dieser einfachen, aber, wie die Literatur zeigt, nicht selbstverständlichen Erkenntnis keine Schlussfolgerungen für eine Begrifflichkeit, welche die Heterogenität dieser Personengruppen wiedergeben würde.

Büschel schreibt die Geschichte der Entwicklungsprojekte, die sich auf das Konzept von „Hilfe zur Selbsthilfe“ beriefen, als eine Geschichte des Scheiterns. Dieses Scheitern zeichnet er an drei Fallbeispielen von Musterprojekten nach – zwei westdeutschen in Togo und Kamerun, einem ostdeutschen in Sansibar. Die Beispiele lesen sich als Geschichten hermetisch unterschiedlicher Interessen und Einstellungen zwischen „Deutschen“ und „Afrikanern“, die fast zwangsläufig zu einem bösen Ende führen mussten. Das liegt einerseits in dem „von vornherein zum Scheitern verurteilte[n] Versuch, das nicht Planbare planen zu wollen“ (S. 482). Andererseits wird man den Eindruck nicht los, dass der Autor dieses Scheitern auch der radikalen Andersartigkeit zuschreibt, die zwischen „Deutschen“ (West und Ost) und „Afrikanern“ geherrscht habe. Das habe zu Rassismus und Gewalt auf Seiten der Ersteren geführt, zu Passivität und Obstruktion auf Seiten der Letzteren. Sind wir hier nicht wieder bei Essenzialismen gelandet, die eigentlich mit Hilfe der Diskursanalyse verflüssigt werden sollten?

Ungeachtet dieser kritischen Nachfrage sind die Vorzüge des Buchs hervorzuheben: Büschel organisiert die Vielzahl an Quellenmaterialien in ein kommunizierbares Ganzes. Das als Habilitationsschrift entstandene Werk ist anregend, flüssig und streckenweise witzig geschrieben. Für einen Sechshundertseiter mit vielen direkten und indirekten Zitaten liest es sich leicht. Büschel ist ein Pionier der Geschichte von deutschen Entwicklungsbemühungen und Entwicklungsdiskursen in Afrika; und zwar beider Deutschlands, also der Bundesrepublik und der DDR. Die „Internationale Solidarität“ der DDR sieht er als Pendant des westdeutschen „Hilfe zur Selbsthilfe“-Konzepts. Unter dem Aspekt „Hilfe zur Selbsthilfe“ findet er über die Systemgrenzen hinweg für den Untersuchungszeitraum 1960–1975 mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede von Entwicklungspolitiken, die sich immerhin gegenseitig als Erfüllungsgehilfen sowjetischer Weltbeherrschungspolitik und als Lakaien neokolonialistischer Fortführung von Abhängigkeit bezeichneten. Die Entwicklungspolitik der DDR jener der Bundesrepublik auf gleicher Höhe gegenüberzustellen ist kein geringes Verdienst. Büschel gehört zu der kleinen, aber wachsenden Forschungsgemeinde, welche die staatssozialistischen Entwicklungspraktiken als Objekt globalhistorischer Forschung aus der Verdammung und dem Vergessen hebt, in die sie als politische Praktiken mit dem Zusammenbruch der Systeme geraten sind, deren Teil sie waren.

Das Buch markiert zweifellos einen Fortschritt an Erkenntnis. Ein Desiderat bleibt die Untersuchung von Alltagshandeln, Erfahrungen und Lebensweisen der Entwicklungspraktiker/innen vor Ort aus „Ost“, „West“ und „Süd“, welche die beschriebenen Redeweisen hervorbrachten. Aber brachten sie diese wirklich hervor? Sind nicht sensible Bereiche von Moralpolitik wie „Entwicklungshilfe“ gerade davon gekennzeichnet, dass sie Redeweisen verwenden, welche die Praktiken wegen ihres hohen Normativitätsgehalts nicht sehr gut beschreiben? Führen sie uns nicht wie die zahllosen auf eine Außendarstellung gerichteten Projektberichte eher in die Irre, statt uns Hinweise auf die Wirklichkeit zu geben? Umgekehrt ist aber auch zu überlegen: Ist es tatsächlich ertragreich, auf die Kluft zwischen Rede und Praxis immer wieder hinzuweisen? Dies sind Fragen von Methode und Darstellung, an denen sich künftige Studien abarbeiten müssen. Sie werden auf Hubertus Büschels monumentaler Arbeit aufbauen können. Büschel hat sein Teil zum Fortschritt der Geschichtsschreibung von „Entwicklungshilfe“, einem expandierenden Forschungsfeld, beigetragen. Da kommt sie in der Praxis wieder rein, die Denkweise vom Fortschritt – wie eine schlechte alte Gewohnheit, an deren Stelle noch keine bessere gefunden worden ist.