S. Greiter: Flucht und Vertreibung im Familiengedächtnis

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Titel
Flucht und Vertreibung im Familiengedächtnis. Geschichte und Narrativ


Autor(en)
Greiter, Susanne
Erschienen
München 2014: Herbert Utz Verlag
Anzahl Seiten
426 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jutta Faehndrich, Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig

Bis heute ist nicht verlässlich ermittelbar, wie hoch der Anteil der Bundesbürger ist, deren Familie in der Folge des Zweiten Weltkriegs von Zwangsmigrationen betroffen war. Es dürfte ein erheblicher Teil, wenn nicht gar die Mehrheit der Bevölkerung sein. Allerdings befinden wir uns inmitten eines Prozesses, der sich als „Verschwinden der Zeitzeugen“ fassen lässt. Die jüngsten noch lebenden Zeitzeugen, die als Kinder die Vertreibung erlebt haben, sind 70 Jahre alt; diejenigen, die über eigene Erinnerungen verfügen, mindestens 75. Wie bei anderen historischen Ereignissen stellt sich angesichts des wachsenden zeitlichen Abstands zum Geschehen die Frage der Tradierung. Diese führt zu einer regen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema, die sich jüngst von der Ereignisgeschichte deutlich zur Erinnerungsgeschichte hin verschoben hat.1

Interessant scheint aber nicht nur die gesamtgesellschaftliche Erinnerung an Flucht und Vertreibung, sondern auch die Bedeutung, die ein familiärer „Zwangsmigrationshintergrund“ für die Nachgeborenen hat. Es geht – im Anschluss an die Theorie des kulturellen Gedächtnisses von Jan Assmann – um die Weitergabe des kommunikativen Gedächtnisses der Zeitzeugengeneration: Gibt es in Vertriebenenfamilien eine besondere, biographisch geprägte Perspektive auf Flucht und Vertreibung? Und wenn ja, wie wird diese über die Generationen vermittelt? Wie sehen Kinder und Enkelkinder Flucht und Vertreibung und welche Rolle spielen die Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern dabei?

Dies ist die Ausgangsfrage der Arbeit, mit der Susanne Greiter 2013 in München promoviert wurde. Greiters methodischer Zugang sind narrative Interviews mit Zeitzeugen und deren Nachkommen, die sie – getrennt voneinander – zu Flucht und Vertreibung in der Familiengeschichte befragt hat. Vermutlich weil Greiter dort wohnt, stützt sie sich auf Familien in Ingolstadt. Diese Einschränkung scheint nicht glücklich und erwies sich als nicht haltbar, ebenso wie die ursprüngliche Konzentration auf sudetendeutsche Vertriebene; im Verlauf der Arbeit wurden auch Vertriebenenfamilien aus anderen Herkunftsregionen einbezogen. Auch gelang es der Autorin nicht, ihren ursprünglichen Plan umzusetzen, zehn Familieninterviews zu führen, die je drei Generationen umfassen (S. 79), obwohl ihr Sample 39 Personen aus 18 Familien umfasst. Anhand der Übersicht der Interviewpartner im Anhang stellt man fest, dass die Demographie das Forschungsdesign bereits unterminiert hat: Die meisten Interviewpartner der Erlebnisgeneration waren 1944/45 Kinder oder Jugendliche, selbst 1940er-Jahrgänge (!) zählt Greiter bis Geburtsjahr 1944 zur Erlebnisgeneration. Es existieren einfach nicht mehr viele Familien, in denen die Vertriebenen noch selbst erzählen können. So erklärt sich auch, warum nur drei Gesprächspartner zur Kohorte der 1970er-Jahrgänge gehören: Die Großeltern dieser Kohorte – zu der die Rezensentin gehört – haben die Vertreibung als junge Erwachsene erlebt. Diese Großeltern sind jedoch heute aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr am Leben. Greiter fand lediglich eine Familie, in der sie mit drei Generationen sprechen konnte. Der Regelfall waren Gespräche mit zwei Generationen, teils nur mit Nachkommen. Insgesamt kann das Sample der Interviewpartner wohl nicht als repräsentativ gelten. Das muss aber kein Problem darstellen, wenn man sich auf eine Mikroanalyse einlässt. Und genau auf dieser Ebene liegen die Stärken der Arbeit, die auf anderen Feldern deutliche Schwächen zeigt.

Eine dieser Schwächen hat mit eben dem „Verschwinden der Zeitzeugen“ zu tun. Susanne Greiter hat nicht wirklich nachvollzogen, dass die Erlebnisgeneration, mit der sie es zu tun hat, die letzte ist, und sie es somit ganz überwiegend mit den Erinnerungen von Kindern zu tun hat. Erinnerung also, die noch viel stärker märchenhaft, fantastisch-verdreht und medial überlagert ist, als es die Erinnerungen von Erwachsenen ohnehin schon sind. Stattdessen haftet ihren Analysen trotz allen Respekts vor den Zeitzeugen ein Duktus an, der auf die Entlarvung der „falschen“ (S. 29), der „konstruierten“ (S. 99), der „Deckerzählung“ (S. 21), das „Verharmlosen“ und „Ausblenden“ (S. 95) abzielt. Eine Zeitzeugin verwechselt die chemisches Substanz der Phosphor-Brandbomben des Zweiten Weltkriegs mit Napalm – für Greiter medial induzierte „false memories“ (S. 6). Der Zusammenstoß zweier Kampfflieger erscheint der Kindererinnerung vor allem faszinierend – der Gesprächspartner verharmlost die Realität des Krieges (S. 95). Greiter hat große Probleme, diese, wie sie meint, „beabsichtigte ‚unschuldige’ Perspektive“ (S. 102) der Kindererinnerung als authentische Erinnerung zu akzeptieren. Die Zeitzeugen haben jedoch ein Recht darauf, auch in ihren Erinnerungen ein Kind gewesen zu sein.

Die Arbeit gliedert sich in sieben große Kapitel, von denen drei (Kap. IV–VII) die eigentliche Analyse ausmachen. Hinzu kommen zwei Schlussbetrachtungen (VIII, IX) sowie ein umfangreicher Anhang (X, XI). Die Auswertung wird thematisch gruppiert in die Komplexe „Das Ich und die Geschichte“, „Loyalität und Generation“, „Perspektivwechsel: Die anderen Opfer“ und „Migration – Integration“. Insgesamt finden sich in den Interviews und in der klugen Auswertung zahlreiche interessante Aspekte. Besonders gewinnbringend ist die Anwendung der volkskundlichen Erzählforschung auf die Zeitzeugen-Interviews, die Greiter richtig als erst mit Hilfe der Interviewerin produzierten Erinnerungstext begreift. Ausgehend von der Märchen- und Erzähltheorie identifiziert und typisiert die Autorin bestimmte Narrative – etwa „Krieg als Abenteuer“, „Flucht als Reisegeschichte“ und „Helfer- und Rettungsgeschichten“ (S. 92–129), wobei diese Narrative wiederum deutlich machen, wie weitgehend es sich eben um Kindererinnerungen handelt. Tatsächlich ist es nach wie vor eine Schwachstelle der auf Flucht und Vertreibung bezogenen Oral-History-Forschung, die Kindlichkeit in der Situation des traumatischen Erlebens nicht als solche zu begreifen und als ganz andersartig als die Erinnerungen der Erwachsenengeneration zu verstehen, die beispielsweise das Korpus der „Dokumentation der Vertreibung“2 ausmachen.

Auch mit Blick auf die Frage der Tradierung in der zweiten, seltener auch dritten Generation hat Greiter wichtige und faszinierende Beobachtungen machen können. Die Nachkommen interpretieren mehr, während die Erlebnisgeneration Geschichten erzählt (S. 72). Häufig setzen sich die Kinder ganz bewusst in Relation zur Elterngeneration, sei es loyal oder in Opposition („Loyalität und Generation“, S. 193–269) – eine dritte, gleichgültige Haltung scheint erst den Enkeln möglich. Mehrfach findet sich in den jüngeren Generationen eine Affinität zu Osteuropa, die von der familiären Herkunft inspiriert ist, doch als von den Eltern abgesetzt erscheint. Diese Affinität zeigt sich oft in intensiven Auseinandersetzungen mit der Region in Form von Reisen, Sprachenlernen und sogar Eheschließungen (S. 265–268). Jedoch, so das Fazit eines Teilkapitels: „Ein festes Generationsmuster [...] ist nur partiell erkennbar“ (S. 342). Auch die Beobachtungen zur Funktion von Sprache sind aufschlussreich. So erinnert sich die Kindergeneration einer Familie aus Böhmen, dass ihre Eltern eine mysteriöse „Geheimsprache“ nutzten, wenn die Kinder nichts verstehen sollten (S. 258). Dass dies schlicht Tschechisch war, fällt angesichts des Narrativs von der „rein deutschen“ Heimat keinem der Kinder ein.

Die Ausführungen zur Erinnerung an und Erzählung über sexualisierte Gewalterfahrung (S. 129–177) sind ebenso erhellend. So wird beispielsweise deutlich, dass in diesem Aspekt die Kindererinnerungen der Erlebnisgeneration deutlich nach Geschlechtern differieren (S. 164–168): Fremde waren für Mädchen eine Bedrohung, für Jungs ein Abenteuer. Jedoch, so das Fazit, „Erzähltypen und Verortung bleiben [...] markant unterschiedlich.“ Während in der Erlebnisgeneration das Erzählen der Verarbeitung biographischer Erfahrungen dient, schieben die Nachkommen die Erlebnisse ihrer Mütter und Großmütter narrativ an den Rand und es offenbaren sich „Erzählsperren“ zwischen den Generationen (S. 190f.).

Leider gelingt es der Autorin zuletzt nicht, aus den Einzelbeobachtungen ein Ganzes zusammenzufügen. Die Schlusskapitel handeln von einer Interviewpartnerin, die erst aus dem Gespräch mit der Autorin die Kraft zog, eine Reise in ihre alte Heimat anzutreten, und von der Notwendigkeit einer transnationalen Erinnerung. Warum trotz 361 Seiten Text eine doch so wünschenswerte Zusammenfassung fehlt, bleibt unklar.

Zuletzt, wie so oft, ein Wort an den Verlag: Ein Lektorat hätte dem Buch gutgetan, dessen Lektüre teils durch Schachtelsätze, wilde Interpunktion, Stilblüten und schiefe Bilder erschwert wird. Da wird Familiengeschichte „auf die Folie der kollektiven Erinnerung [...] geklebt“ (S. 11), man „beugt sich der Richtschnur des ritualisierten Gedenkens“ (S. 103), zeigt ein Thema „sein Gesicht in alten Gewändern“ (S. 187) und sind Interviewpartner „im Rahmen von Familiengedächtnissen aufgewachsen“ (S. 239). Auch die „Flaghelfergeneration“ geistert hartnäckig durchs Buch (S. 28, 51).

Trotz der erwähnten Kritikpunkte hat Susanne Greiter eine im Detail inspirierende und unser Wissen über die narrative Tradierung von Flucht und Vertreibung in der Familie beträchtlich erweiternde Studie vorgelegt, der eine rege Rezeption zu wünschen ist.

Anmerkungen:
1 Maren Röger, Ereignis- und Erinnerungsgeschichte von „Flucht und Vertreibung“. Ein Literaturbericht, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 62 (2014), S. 49–64, hier S. 60.
2 Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, in Verbindung mit Adolf Diestelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow und Hans Rothfels, bearb. von Theodor Schieder, hrsg. vom Bundesministerium für Vertriebene, 5 Bde. in 8 Teilbänden, Bonn: Bundesministerium für Vertriebene, 1954–1963.

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