M. Bernsen u.a. (Hrsg.): Gründungsmythen Europas

Cover
Titel
Gründungsmythen Europas im Mittelalter.


Herausgeber
Bernsen, Michael; Becher, Matthias; Brüggen, Elke
Reihe
Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst 6
Erschienen
Göttingen 2013: V&R unipress
Anzahl Seiten
225 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Oschema, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Jenseits mancher aktuellen Tendenzen zur Abschottung des vorgeblich christlich-abendländischen Erdteils war Europa seit jeher von Austausch, Bewegung und Transfers geprägt – was könnte diese Einsicht besser ausdrücken, als die Tatsache, dass selbst die meist auf Stabilität und Legitimation durch Dauer und Alter bedachten Autoren des Mittelalters ihre Geschichten zu den Ursprüngen ihrer eigenen „Völker“ gerne mit dem Motiv der Wanderung einsetzen ließen. Ganz gleich ob es sich um die Franken, Goten oder Langobarden handelte (Alheydis Plassmann, S. 61–77), um die Waliser (Michael Richter, S. 79–86) oder die Isländer (Sabine H. Walther, S. 87–103): Die Behauptung, schon immer hier gewesen, ‚autochthon‘ zu sein, stand im europäischen Mittelalter nicht besonders hoch im Kurs. Angesichts der fundierenden Wanderungserzählungen in der römischen Tradition (zu den römischen Gründungsmythen und der damit verbundenen Tradition der Offenheit siehe Alexander Demandt, S. 11–20), die bekanntlich in Form des Trojamythos bis weit in das Mittelalter hinein und darüber hinaus ihre Strahlkraft behielten, erscheint das kaum verwunderlich: Rom glänzte auch nach seiner Transformation im europäischen Westen weiterhin mit Kultur und dem Bild imperialer Größe, so dass ein Anschluss an diesen Erzählkomplex in vielerlei Hinsicht verlockend erscheinen musste.

Handelt es sich hier aber um eine europäische Besonderheit? Wenngleich jüngst etwa für die Welt der Franken und mithin für weite Teile des lateinischen Europa im Mittelalter eine buchstäblich „exzentrische“ Selbstverortung als Sonderfall erneut plausibel gemacht wurde 1, so muss dies nicht für die Geschichten von den Wanderungen in diesen Erdteil gelten. Schließlich wussten die christianisierten Gesellschaften nicht zuletzt von der Wanderung des Volkes Israel, das erst in das ihm zugewiesene Land kommen musste. Es wäre zweifellos ein spannendes Unterfangen, die Präsenz eines solchen Motivs in einer global vergleichenden Perspektive näher zu untersuchen, denn faktisch gewandert wurde ja praktisch überall: von den Steppenvölkern Asiens bis zu den Bantu in Afrika.

Ein solch weiter Fokus übersteigt den Rahmen des vorliegenden Bandes natürlich. Er verdeutlicht aber, welche Vergleichsarbeit zu leisten wäre, um die europäische Spezifik angemessen in den Blick zu bekommen. Das erscheint umso wichtiger, als gerade die europäische Dimension, auf die der Titel Appetit macht, im Panorama der Beiträge zuweilen recht subtil anklingt: Fast alle der hier versammelten Studien fokussieren konsequent, wenn auch in unterschiedlicher Weise, auf „Gründungsmythen“ im Sinne von fundierenden und sinnstiftenden Erzählungen, die Gruppen von sich selbst entwarfen. Alle betreffen Gruppen oder Objekte, die man in geographischer Hinsicht in oder bei Europa ansiedeln kann, und alle beziehen sich unmittelbar oder reflexiv gebrochen auf die Zeit, die gemeinhin als Mittelalter bezeichnet wird. Für diesen Rahmen bieten sie ausnahmslos eine instruktive und gut zugängliche Lektüre.

Problematisch bleibt damit die Grammatik, denn der Weg von den ‚Gründungsmythen in Europa‘ zu den „Gründungsmythen Europas“ ist lang und kurz zugleich: Wer sich für frühe Reflexe europäischer Identitätskonstruktion interessiert, wie sie im Mittelalter hier und da bereits aufscheinen2, wird in den Beiträgen nur eingeschränkt fündig. Dafür bieten jene Autoren, die sich bewusst der Frage nach dem ‚Europäischen‘ zuwenden, äußerst anregende Überlegungen: So nimmt der Kunsthistoriker Harald Wolter-von dem Knesebeck die viel zitierte und gezeigte ‚Ebstorfer Weltkarte‘ zum Ausgangspunkt für eine gleichermaßen präzise wie originelle Analyse (S. 105–123), in der er Europa als „auf den ersten Blick unspektakulär“ beschreibt (S. 108). Der Vergleich mit den Darstellungsgewohnheiten der zeitgenössischen Buchmalerei führt ihn aber schließlich zu einem viel umfassenderen Ergebnis, weil Europa „nicht nur als der am stärksten geordnete Kontinent der Städte und Wege“ erscheint, „bei dem sich Monstren nur an seinen Grenzen im Osten tummeln“ – kurz als eine Art ‚Normalraum‘. Durch seine Platzierung zur Rechten des auferstandenen Christus ergibt sich zudem eine religiös-theologische Aufwertung des Erdteils (S. 118), der just in der Zeit, in der die Karte vermutlich entstand, zum Gegenstand einer zunehmenden „Nostrifizierung“ durch die Autoren der lateinischen Christenheit wurde.3

Auf ähnlich anregende Weise löst auch die Germanistin Elke Brüggen das Versprechen des Titels ein, indem sie den erfolgreichen Weg des „Nibelungenlieds“ zum Status des „Weltdokumentenerbes“ kritisch beleuchtet (S. 201–225). Die Tatsache, dass die erste Strophe eines mittelalterlichen Textes bei vielen Menschen zumindest einen Moment des Erkennens hervorruft (ob wirklich „nicht wenige Menschen“ diese Strophe „auswendig hersagen“ können [S. 201], wird man wohl davon abhängig machen, wie viele Individuen nötig sind, um das „wenig“ abzuschütteln), ist an sich erstaunlich genug. Ironisch erscheint dieser Befund angesichts seines überlieferungs- und editionsgeschichtlichen Hintergrunds, da diese Strophe gerade nicht zur Überlieferung des ansonsten bestimmenden B-Textes zählt. Die gemeinsame Erhebung der drei Handschriften A, B und C zum „Weltdokumentenerbe“ ist aber vor allem deswegen beachtenswert, als die Begründung mit der ‚europäischen Bedeutung‘ des Nibelungenlieds argumentiert (S. 207). Damit ergibt sich eine eigentümliche Gemengelage zwischen einem Werk der „mittelhochdeutschen Klassik“, der europäischen Kultur und der „Weltliteratur“ (S. 207f.), wobei die argumentativen Strategien der Begründung zudem markant von den Positionen der jüngeren Nibelungenlied-Forschung abweichen.

Solche Einblicke bergen viel Potential für weiterführende Diskussionen, die aus dem Blick auf mittelalterliche Befunde sowie auf deren moderne Inanspruchnahme Anregungen für die kritische Analyse unser eigenen Gegenwart und ihrer Geschichtsbezüge gewinnen können. Ähnliches gilt auch für die Untersuchung der berühmten Taufe des Merowingers Chlodwig in der Zeit um 500, die Matthias Becher beiträgt (S. 133–148), wenngleich hier bereits der europäische Fokus etwas aus dem Blick gerät. Bechers Entscheidung, den Bericht Gregors von Tours als in seinen Grundzügen durchaus verlässlichen Reflex älterer Quellentraditionen zu akzeptieren (S. 144), bedeutet eine klare Positionierung in einer schon lange geführten und weiterhin kontroversen Debatte, so dass nicht jeder dieses Urteil unwidersprochen annehmen wird. Die lange Wirkungsgeschichte dieses Gründungsmythos' vor allem in der französischen Geschichtsschreibung fordert aber zweifellos zu einer immer wieder neuen Auseinandersetzung heraus.

Andere Beiträge laden hingegen stärker zu kritischen Rückfragen ein: So setzt etwa Michael Bernsen mit der vielversprechenden Frage ein, was passiere, „wenn der Mythos von Karl [dem Großen] als pater Europae und mit ihm die entsprechenden Symbole parodiert werden?“ (S. 150). Dass Karl im gesamten Mittelalter überhaupt nur von einem Text, der nur in einer (fragmentarischen) Handschrift überliefert ist, als pater Europae angesprochen wird, erwähnt er leider nicht. Damit wird die Darstellung des Frankenherrschers im Epos „Rollan a Saragossa“ aber gerade nicht zu einer Parodie auf den Vater des Erdteils, sondern schlicht auf die Figur Karls. „Komisch“ (S. 159) mag das Epos weiterhin bleiben, von systematisch-kritischem Interesse erscheint bei näherer Lektüre aber vor allem die moderne Neigung, Zuschreibungen ineinander zu blenden, die sich aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts ergeben und nicht aus jener der Zeit um 1400. Für die damaligen Zeitgenossen mag Karl der Große je nach Standort Deutscher oder Franzose gewesen sein, mit Sicherheit aber nicht Europäer.4

Die weiteren Beiträge zu diesem Band stellen Gründungsmythen in unterschiedlichen Varianten vor und machen den Leser dabei auf eingängige Weise mit dem Gegenstand vertraut: Dietmar Rieger untersucht die Darstellung der ‚Jungfrau von Orléans‘ in Christine de Pizans „Ditié de Jehanne d’Arc“ (S. 163–176), Karina Kellermann fragt nach den millenaristischen Bildern rund um „Kaiser Friedrich“ im zeitlichen Längsschnitt (S. 177–199) und Franz Lebsanft zeigt die widersprüchlichen und wechselhaften Zuschreibungen an der Figur des Boethius auf (S. 35–57), der je nach Bedarf zum heidnischen Philosophen, zum christlichen Autor und sogar zum Heiligen gemacht werden konnte. Während diese Texte sich im Kern auf Bilder und Geschichtskonstruktionen konzentrieren, geht es Manfred Groten in seinen Überlegungen zur „mittelalterlichen Stadt als Erbin der antiken ‚civitas‘“ (S. 21–33) darum, eine Entwicklungslinie in der Sache herauszustellen, und er legt hierzu eine kenntnisreiche Skizze der hochmittelalterlichen Umbrüche und Rückbezüge auf die Antike vor. Wenn er zum Abschluss aber eine durchgehende Linie von der ‚civitas‘ der Antike über das Mittelalter zum „Stadtbürger des ancien régime“, dem „revolutionären citoyen“ und schließlich dem „Staatsbürger unserer heutigen demokratischen Gemeinwesen“ (S. 30) ziehen will, so überspannt dies wohl den genealogisch-historischen Bogen.

Wie dieser knappe Überblick zeigt, hat der vorliegende Band für ganz unterschiedliche Interessen einiges zu bieten, wobei der Akzent – denkt man an den Titel zurück – ausdrücklich auf den Gründungsmythen liegt, und nur eingeschränkt auf Europa. Tatsächlich betonen die Herausgeber in ihrem recht kurzen Vorwort (S. 7–9), dass es ihnen weniger um Mythen gehe, „die den Begriff Europas thematisieren“ (S. 7), als vielmehr um die Frage „welchen Beitrag […] vormoderne Gründungsmythen zur wie auch immer gearteten Identitätsstiftung Europas leisten [können]“ (S. 8). Selbst wenn man ausblendet, dass das „können“ hier die Gefahr historischer Instrumentalisierungen zumindest anklingen lässt: Gerade bei dieser Selbstvorgabe wäre zu erwarten gewesen, dass die einzelnen Beiträge stärker über die ‚europäischen Implikationen‘ ihrer Gegenstände reflektieren, wenngleich diese selbst nicht unbedingt mit dem Etikett ‚Europa‘ verbunden sind. In diesem Sinne kann der Band also nicht ganz überzeugen, auch wenn die Beiträge in ihrer Gesamtheit ein schönes Panorama entfalten, das in seiner geographischen und chronologischen Weite spannende Einblicke bietet.

Anmerkungen:
1 Bernhard Jussen, Die Franken. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, München 2014, S. 11f.
2 Ich erlaube mir hier den Hinweis auf meine jüngst publizierte Habilitationsschrift: Klaus Oschema, Bilder von Europa im Mittelalter, Ostfildern 2013.
3 Vgl. Oschema, Bilder, S. 432–439. In der Datierung folgt Wolter-von dem Knesebeck den Vorschlägen von Hartmut Kugler, siehe Ders. (Hrsg.), Die Ebstorfer Weltkarte, 2 Bände, Berlin 2007.
4 Hierzu mit weiteren Literaturweisen Klaus Oschema, Ein Karl für alle Fälle – Historiographische Verortungen Karls des Großen zwischen Nation, Europa und der Welt, in: Gregor Feindt / Félix Krawatzek / Daniela Mehler / Friedemann Pestel / Rieke Trimçev (Hrsg.), Europäische Erinnerung als verflochtene Erinnerung. Vielstimmige und vielschichtige Vergangenheitsdeutungen jenseits der Nation, Göttingen 2014, S. 39–63.

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