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Titel
Protest der Professoren. Der „Bund Freiheit der Wissenschaft“ in den 1970er Jahren


Autor(en)
Wehrs, Nikolai
Reihe
Geschichte der Gegenwart 9
Erschienen
Göttingen 2014: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
539 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Schäfer

Nikolai Wehrs hat eine wichtige Studie zum „Bund Freiheit der Wissenschaft“ (BFW) in den 1970er-Jahren vorgelegt, die auf quellengesättigter Grundlage die Methoden der Politischen Kulturgeschichte, der Universitätsgeschichte und der Intellectual History kombiniert (S. 25). Die Berliner Dissertation umfasst den Zeitraum von der beginnenden „Demokratisierung“ nach 1968 und der 1973/74 einsetzenden „Tendenzwende“ (S. 16) bis etwa 1980 und ordnet sich in den übergreifenden Historisierungsdiskurs der westdeutschen 1970er-Jahre in der Zeit- und Wissenschaftsgeschichte ein. Der Verband verstand sich als parteienübergreifende Abwehr der hochschul- und gesellschaftspolitischen Impulse von 1968 und organisierte in einem mit den Mächtigen in Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft verknüpften Netzwerk konservativer Professoren – auf ihrem Höhepunkt Ende 1975 immerhin 5.200 Mitglieder in 42 Sektionen (darunter allerdings „nur“ circa 1.800 Professoren). Die selbsternannte Hochschullehrer-Elite konstituierte sich am 17./18. November 1970 als hochschulpolitischer Kampfverband mit dem Dreier-Vorstand aus Hermann Lübbe (Philosophie), Hans Maier (Politikwissenschaft) und Walter Rüegg (Soziologie). Zusammen mit E.K. Scheuch, Th. Nipperdey, W. Hennis, F. Tenbruck, E. Nolte, H.-D. Ortlieb, K. Häuser und anderen bildeten sie ein männerbündisches Gruppenbild mit einer Dame in der Gründungsriege (Edith Eucken-Erdsiek), was für den Autor geradezu eine Einladung zu einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive hätte sein können (S. 28).

Die Zielsetzung dieser Gruppe orientierte ganz in der Tradition des „Marburger Manifests“ vom April 1968 auf die – durch die häufigen „Störungen“ des Seminar- und Vorlesungsbetriebs angeblich notwendige – Wiederherstellung ordentlicher Studienbedingungen und der Freiheit von Wissenschaftlern, die ausschließlich über Methoden und Inhalte des Wissenschaftsprozesses zu entscheiden hätten. Diese Tendenz richtete sich vor allem gegen die Forderungen der Studierenden und Nachwuchswissenschaftler, aber auch des nichtwissenschaftlichen Personals nach drittelparitätischer Mitbestimmung. Interessant ist, so die These Wehrs’, dass die Gruppe dieser einstigen „Reformoptimisten“ und ihre Wandlung zu „Reformskeptikern“ mit den generationellen Erfahrungen dieser „45er“ (Dirk Moses) zusammenhänge: Sie waren meist bis Mitte der 1960er-Jahre auf ein Ordinariat gelangt, hatten innovative Beiträge in ihrer Disziplin geleistet, waren politisch-kulturell von „Westernisierung“ und historisch vom „antitotalitären Basiskonsens“ (S. 102) geprägt. Antinazismus und Antikommunismus (die parallelisierende Gleichsetzung ist für den Autor anscheinend unproblematisch) waren die Grundlagen ihrer hohen Identifikation mit dem liberal-demokratischen Projekt der Bundesrepublik. So sehr diese analytische Beschreibung der 45er-Generation einleuchtet, so wenig überzeugend ist die weitergehende Hypothese, dass der Umschlag vom Reformoptimismus in Reformskepsis sich „schon auf dem Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren“ (S. 21) vollzogen habe. Der starke optimistische Grundklang in den 1960er-Jahren erfuhr gerade durch die 68er-Bewegung und die Außerparlamentarische Opposition (APO) und den sozialliberalen Aufbruch einen enormen Schub und endete im Jahr 1973 mit dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods und der durch das Kartell der OPEC-Staaten ausgelösten Erdölpreiskrise mit sozialökonomischen, ökologischen und politischen Folgen.

Unabhängig von dieser Kontroverse scheint mir die intellektuellenhistorische Fragestellung des Autors fruchtbar, „inwieweit der intellektuelle Impuls von ‚1968‘ auch im konservativen Lager eine Intensivierung der Ideenproduktion bewirkte“ (S. 22). Das mit einem solchen Ansatz eröffnete Forschungsfeld ist im Hinblick auf die studentische Szenerie der Anti-68er noch nicht voll ausgeschöpft.1 Vor dem Hintergrund des politischen Polarisierungsprozesses und der Profilierung des Links-Rechts-Schemas sind die Um- und Neuformierung des konservativen intellektuellen Lagers mit Überschneidungen hin zum neofaschistischen Spektrum zum Teil schon früh diagnostiziert worden.2 Vereinzelt finden sich auch beim BFW Ausfransungen nach weit rechts (S. 217).

Organisationssoziologisch zeichnete sich der Verband durch eine zentralistische Führungsoligarchie aus, die eine starke Verfügungsgewalt über die einzelnen Sektionen ausübte. Die stärksten Sektionen befanden sich in Berlin und in Bonn, aber selbst in den neuen Hochschulgründungen wie in Bremen waren sie vertreten (S. 400). Hinsichtlich ihrer Finanzarchitektur ist auffällig, dass nach Wehrs’ Berechnungen der BFW nur zu acht Prozent von Mitgliedsbeiträgen und ganz überwiegend von Spenden der bundesrepublikanischen Großfinanz und Großindustrie lebte (S. 214). Das Interesse der Personalabteilungen der Großindustrie war dabei auf sehr konkrete Anliegen fokussiert – den Wert bestimmter Abschlüsse oder die „Gesinnung“ bestimmter Professoren (S. 215). So ganz „weltfremd“ waren die „linken“ Thesen von der Interessenkonkordanz von Wirtschaft und BFW, wie der Autor vorschnell bilanziert (S. 214), nicht.

Die Kritiker aus der Hochschullinken, voran Wolfgang Abendroth, sprachen in Bezug auf den BFW und seine politischen und ökonomischen Netzwerke vom „Rechtskartell“, eine These, die Wehrs in die Nähe einer Anleihe von Walter Ulbricht bringt – als ob es Abendroth nötig gehabt hätte, seine Begriffe in der DDR zu entleihen (S. 191). Die Darstellung dieser und der Passage zum 1972 maßgeblich von Reinhard Kühnl wieder begründeten „Bund demokratischer Wissenschaftler“ sowie zum Streit um die Habilitation Kühnls beruht stark auf Eindrücken und Urteilen Ernst Noltes, die leider nicht immer überprüft worden sind: Noltes Gutachten in diesem Streit enthielt zum Beispiel den höchst subjektiven Vorwurf einer fehlenden „Noblesse“. Kühnls Einordnung in die Nähe der kommunistischen Bewegung zum Zeitpunkt der Habilitation ist eindeutig falsch.3 Noch folgenreicher ist der ungeprüft wiedergegebene Eindruck Ernst Noltes von einem Vortrag Wolfgang Abendroths zum 100. Geburtstag im AudiMax der Marburger Universität, Abendroth habe den „‚roten Terror‘ der Bolschewiki“ (S. 135) gerechtfertigt. Der im April 1970 gehaltene Vortrag Abendroths kontextualisierte diesen unter anderem als Reaktion auf den „weißen Terror“. Wie leicht sich unreflektierte Fehlurteile in die Darstellung einschleichen, zeigt der Hinweis auf ein Urteil, das dem Marburger Institut für wissenschaftliche Politik „einen parteikommunistischen Kurs“ bescheinigte: weder die von E.O. Czempiel angeführte Quelle noch mein eigener Aufsatz in Anmerkung 163 (S. 135) liefern dafür Argumente. Wehrs variiert hier Ernst Noltes Position.

Anfangs war die Gründung des „Bunds Freiheit der Wissenschaft“ 1970 massenmedial beachtlich kommentiert worden, was sich dem Autor zufolge als „Danaergeschenk“ erwiesen habe, weil die „positive Resonanz fast komplett aus dem konservativen Medienspektrum kam“ (S. 193). Die Gegenkräfte wuchsen zur gleichen Zeit mit einem Kongress des „Verbands Deutscher Studentenschaften“ (VDS). Gleichwohl war es den BFW-Professoren mit ihren einflussreichen Netzwerken in die Politik gelungen, die Demokratisierung der Hochschulen zu behindern und das „Bündnis zwischen den Reformoptimisten und den Fundamentalreformern“ zu zerbrechen. Nikolai Wehrs’ hochschulpolitisches Fazit lautet demnach: „Die Versuche zur Etablierung marxistischer Lehrkörper waren nahezu komplett unterbunden worden. Die systemoppositionelle studentische Linke war isolierter denn je.“ (S. 325)

Im schulpolitischen Sektor war der BFW in Hessen partiell erfolgreich (S. 379/80), ebenso in Nordrhein-Westfalen. Die auch hier enge Abstimmung mit der CDU führte zu Unbehagen unter einem größeren Teil der Mitglieder. Richard Löwenthals Kritik an der bildungspolitischen Ausrichtung des BFW als einer „Vorfeldorganisation der Unionsparteien“ (S. 420f.) bestätigte sich ab 1978, bis der Verband in den 1980er-Jahren in der Bedeutungslosigkeit verschwand (S. 426).

Allerdings hatte die Berliner Sektion eine Generation von jungen Wissenschaftlern unter Linksextremismus-Verdacht gestellt – selbst Wolf Lepenies und Ossip K. Flechtheim wurden im Deutschen Herbst 1977 in die Gruppe der Sympathisanten des Terrors eingeordnet (S. 404). Viel gravierender noch waren die „Schwarzen Listen“ der „Notgemeinschaft für eine Freie Universität“ (NoFU), die in der Tradition der „Berufsverbote“ vom Januar 1972 1.664 Namen auflisteten (S. 408ff.), die von staatlichen Behörden oder privaten Konzernen bei ihrer Einstellungspolitik verwendet wurden: Der BFW entpuppte sich ganz im Gegensatz zu seinem Toleranzgebot im Gründungsaufruf als Denunziationsinstanz. Es ist schwer für einen Autor des Jahrgangs 1978, sich diese Atmosphäre der Angst und Einschüchterung einer ganzen Generation in concreto vorzustellen: Es gab 1,5 Millionen Überprüfungen, 11.000 Verfahren und Anhörungen, 1.100 Frauen und Männern wurde der Zugang zum öffentlichen Dienst verwehrt – überwiegend Mitglieder der DKP, aber auch Sozialdemokraten und Unorganisierte. Erst ganz allmählich beginnt eine parlamentarische Aufarbeitung.

In einem Schlusskapitel behandelt Wehrs die bereits erwähnte „Tendenzwende“, an deren Popularisierung einige opinion leaders aus der Führungsriege des BFW teilnahmen. An die gemeinsam mit dem Klett-Verlag organisierten Tagungen schlossen sich verschiedene Diskurse an, die gegen führende Linksintellektuelle (insbesondere der „Frankfurter Schule“) gerichtet waren und die Wiedergewinnung der konservativen Deutungshegemonie anstrebten. Die Diskurse reichten von der Legitimations- und Regierbarkeitskrise über die Rolle der Soziologie als einer Wissenschaft der Kolonialisierung des gesellschaftlichen Lebens bis zum Kampf um die Köpfe der Intellektuellen, die ein Helmut Schelsky allerdings mit seinem Bestseller von 1975 als Nicht-BFW-Mitglied noch effektiver in Szene setzen konnte (S. 436ff.). Sie alle arbeiteten an einer Umgruppierung der Intellektuellenszenerie im Sinne einer Rechtsverschiebung des politischen Spektrums, die als (kläglich gescheiterte) Vorarbeit für Helmut Kohls „geistig-moralische Wende“ 1982 gewertet werden kann. Der Begriff „Tendenzwende“ ist also ein politischer Kampfbegriff von rechts.

Besonders gelungen erscheint dem Rezensenten die Fortsetzung der biographischen Porträts der Gründungsgeneration des BFW, die sowohl ihr wissenschaftliches Profil in ihren Disziplinen als auch ihre Rolle als public intellectuals herausarbeitet. Die Namen: Hermann Lübbe, Wilhelm Hennis, Friedrich H. Tenbruck, Erwin K. Scheuch, Thomas Nipperdey, Richard Löwenthal (hier sind Einschränkungen vorzunehmen) und Ernst Nolte gehören zu diesen konservativen Intellektuellen, die in den 1970er-Jahren „maßgeblich zu einer Richtungsumkehr in der Hochschulpolitik beigetragen“ (S. 483) haben. Dieses Resultat ist zwar zutreffend, obwohl die illiberalen Hypotheken dieses Versuchs bei der kritischen wissenschaftlichen Bilanz stärker in Rechnung zu stellen sind.

Anmerkungen:
1 Dietrich Heither, Verbündete Männer. Die Deutsche Burschenschaft – Weltanschauung, Politik und Brauchtum, Köln 2000; Massimiliano Livi u.a. (Hrsg.), Die 1970er Jahre als schwarzes Jahrzehnt. Politisierung und Mobilisierung zwischen christlicher Demokratie und extremer Rechter, Frankfurt am Main 2010.
2 Ludwig Elm, Hochschule und Neofaschismus. Zeitgeschichtliche Studien zur Hochschulpolitik in der BRD, Berlin 1972.
3 Dies zeigt ein Blick in Reinhard Kühnl, Deutschland zwischen Demokratie und Faschismus, München 1969, S. 161.

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