Cover
Titel
Nachkriegskino. Eine Psychohistorie des westdeutschen Nachkriegsfilms 1946–1963


Autor(en)
Bliersbach, Gerhard
Reihe
Imago
Erschienen
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Koebner, München

Mit seinen Studien zum deutschen Heimatfilm hat Gerhard Bliersbach bereits bewiesen, wie hilfreich es für das tiefere Verständnis der verhandelten Konflikte zwischen den „dramatis personae“ sein kann, Filme als scharfsichtiger Psychologe zu kommentieren und durch die Analyse oft halb verborgene Ängste und Antriebe der Personen ans Licht zu heben. Mit einer neuen Studie erweitert er das Beobachtungsfeld. Von den ca. 1.400 deutschen und österreichischen Filmproduktionen, die zwischen 1946 und 1963 entstanden sind, hat Bliersbach 60 (schon eine beträchtliche Anzahl) ausgewählt, um sie – wenn dies etwas zugespitzt bemerkt werden darf – wie ein versierter Familientherapeut zu erläutern.

Vorweg schildert der Autor die „Abwehrmechanismen“ der überlebenden deutschen Bevölkerung schematisch, aber überzeugend: Die Kränkung durch die Niederlage (S. 17) und die Angst vor Schuldvorwürfen und Vergeltung halfen, eine Mauer des Selbstschutzes zu errichten. Man wollte nicht nur unschuldig sein, man wollte auch nichts mit dem zu tun haben, was sich in der Vergangenheit abgespielt hatte (S. 19). Wiederholt kehre die Klage wieder, dass die „Handlungsspielräume“ im „Dritten Reich“ versperrt gewesen seien: durch Opportunismus, Ressentiment oder Angst (das Leben zu verlieren) (S. 20), so dass sich als das vorherrschende „Narrativ“ der Nachkriegszeit die Rechtfertigung herausgeschält habe – „Wir konnten nichts machen.“ (S. 13). Bliersbachs Beobachtungen können durch die Untersuchungen anderer Zeugnisse bestätigt werden.1 Der Autor greift während der gesamten Untersuchung auf solche umgangssprachlich formulierten Klauseln zurück, um die Reaktion der in mancher Hinsicht beschädigten Charaktere (im Film) zu verdeutlichen.

Die Studie ist in chronologisch angeordnete Kapitel unterteilt, deren Überschriften den psychischen Zustand und die psychische Arbeit der sich allmählich transformierenden Nachkriegsgesellschaft am Beispiel der zerstörten und zum Teil wieder hergestellten Familien-Formationen illustrieren: Der Abschnitt „Beschädigungen (1946–1949)“ widmet sich den sogenannten Trümmerfilmen. Schon hier taucht in einzelnen Filmen eine Art Trauma auf, das Bliersbach auch in den Produktionen der folgenden Jahre entdeckt: Es handelt sich um den vermissten Vater, der später als „versteckter Vater“ (S. 86) figuriert, dann als „schwacher Vater“ (S. 158), als „Vater ohne Autorität“ (S. 169) zum überflüssigen Menschen reduziert wird, um schließlich als „abwesender Vater“ (S. 217) den Söhnen gestattet, jedwede Schuldverstrickung von sich selber, den „Nachgeborenen“, abzuweisen und Platz zu schaffen für eine andere Vaterinstanz, den „alliierten Vater“ (S. 217) – eine Identifikation mit dem Sieger (ließe sich schlussfolgern). Ob allerdings die ödipale Allianz zwischen Söhnen und Müttern gegen den Vater als „alte deutsche Koalition“ (S. 168) die Transformation in eine mütterliche Nachkriegs-Ordnung verheißt (S. 195), bleibt für mich fraglich.

Aus Scham über den gescheiterten Vater, der die klagenden Überlebenden verlassen oder gar verraten habe, eine Beschämung, nach der Enttarnung der nationalsozialistischen Herrschaftsdoktrinen und Herrschaftspraxis „ausgeschlossen und drittklassig“ zu sein (S. 100), gesteigert durch die „Enttäuschungswut“ über Hitler und die Gefolgschaft vieler Deutscher (S. 24), entwickelt sich schon bald in Filmen der folgenden Jahre die Sehnsucht nach einem „guten und großzügigen“ Vater, also einem Vater ohne historischen und moralischen Makel. Diesem Impuls, die Vaterfigur wieder zu „idolisieren“ (S. 96), zumindest zu „rehabilitieren“ (S. 100), liegt die Erfahrung der Jahre nach 1945 zugrunde, dass die „Demontage“ des Wunschbilds vom vertrauenswürdigen Oberhaupt eine klaffende Lücke in der traditionellen Imponier-Konstruktion der intakten und stolzen Familie hinterlassen hat. Allerdings wäre zu fragen, ob der ins Radikale ausgreifende Zweifel an der Vaterautorität nicht über eine länger zurückreichende Tradition verfügt. Unter deutschen Verhältnissen kommt es zur Opposition der „enttäuschten“ Söhne bereits im literarischen Expressionismus oder, noch früher, in der Sturm-und-Drang-Periode des 18. Jahrhunderts. Bliersbach erschließt aus den Filmen der eigentlichen Nachkriegszeit zwischen 1949 und 1963 eine durchaus schon an der Oberfläche der Dialoge und Figurenzeichnung sichtbare Problematik, die in der deutschen Literatur erst wieder in den 1970er-/80er-Jahren verstärkte Aufmerksamkeit auf sich zog – in den kritischen „Abrechnungen“ mit dem mehr oder weniger durch das „Dritte Reich“ korrumpierten Vater (von Christoph Meckel, Ruth Rehmann, Elisabeth Plessen und vielen andere).

Der Autor verfolgt weitere Stufen der familiären Konflikte in westdeutschen Filmen, zunächst unter dem Stichwort „Reparaturen (1950–1962)“, wobei er einen Bogen von den frühen Heimatfilmen bis zu „Sissi“ und der „Trapp-Familie“ schlägt und die „demütigende Armut der Nachkriegszeit“ ebenso im Blick hat wie anders motivierte Gefühle der Unterlegenheit, die sich in leicht erreichtem Gekränktsein ausprägen (S. 102). Im Kapitel „Rechtfertigungen (1954–1960)“ identifiziert Bliersbach die Entlastungsformeln „Ich habe nichts gewusst“ und „Man konnte nichts machen“ als Strukturmerkmale in Filmen, die bisweilen die Geschichte verfälschen „um dem ‚guten Deutschen in Uniform‘“ Geltung zu verschaffen: etwa dem Geheimdienstchef Canaris im gleichnamigen Film. Im Abschnitt „Ausbrüche (1956–1958)“ wird der (in den Filmen vorwiegend kriminalisierte) Aufstand oder die Krise der Jungen, der „Halbstarken“, auch als Reflex auf die amerikanische Spielart des Streits zwischen den Generationen (wie in „Blackboard Jungle“) in Erinnerung gerufen. Der folgende Abschnitt „Abrechnungen (1958–1963)“ erörtert das politische Kino von Rolf Thiele („Das Mädchen Rosemarie“), Wolfgang Staudte („Rosen für den Staatsanwalt“) oder Kurt Hoffmann („Wir Wunderkinder“), das die Satire auf selbstgefällige, die Vergangenheit verdrängende Wirtschaftswunder-Mentalität mit Warnungen vor dem Fortwirken des alten „braunen“ Denkens verbindet. Die rhetorisch versierte Polemik dieser Filme scheint es zu erleichtern, die Befunde zu benennen, zugleich aber auch zu erschweren, noch womöglich verborgene Komplexe auszuforschen.

Schließlich wendet sich Bliersbach noch den Erfolgsserien der deutschen Kinoproduktion Anfang der 1960er-Jahre zu: den Edgar-Wallace- und den Karl-May-Verfilmungen. Wenn der Autor bei den Wallace-Versionen hervorhebt, es käme bei der Schlusslösung dieser Filme darauf an, den stets maskierten Täter als rachsüchtigen Einzelgänger mit entgleisten sexuellen Impulsen zu entlarven, der aus „Kränkungsrage“ (S. 203f.) zum Mord fähig ist, wird nicht immer deutlich, wie diese zweifellos scharfsichtig umrissene Täter-Charakteristik zur inneren Befindlichkeit des deutschen Publikums passen könnte. Indes überzeugt der Hinweis, dass diese Individualverbrechen, die in psychischer Anomie wurzeln, nicht in gesellschaftlicher Verfassung (auch deshalb im englischen Milieu angesiedelt), akzeptiert werden, weil die Vergangenheit der Handelnden wie der Aufklärer in keiner Weise politisch belastet ist. Das Urteil, Wallace-Filme seien Heimatfilme in Schwarzweiß (S. 213), kann nur überzeugen, wenn man diese Filme so sehr skelettiert, dass nur einige wenige, gemeinsame Komponenten übrig bleiben – aber sind diese Komponenten dann auch spezifisch für das jeweilige Genre? An Old Shatterhand fällt Bliersbach unter anderem auf, dass er ein „Sohn ohne Eltern“ (S. 222) ist, also auch nicht von Nazi-Eltern abstammt. Ist also der freischweifende Abenteurer ein Repräsentant einer vaterlosen Gesellschaft, der Opfer und nicht Täter ist? Schlussnotizen über Heinz Rühmann als „Protagonist des Klagens“ (S. 228) und den „Scham-Akrobaten“ (S. 234) Heinz Erhardt könnten die Studie abschließen. Doch ein (der Konzeption des Buches aufgezwungener) Ausblick auf „‚Führerfilme‘“, die Jahrzehnte später versuchen, die Privatperson Hitler in der Not der letzten Tage zu rekonstruieren, eröffnet eine neue Fragestellung.

Bliersbach beschränkt sich auf in der „Parallelwelt“ der Fiktion artikulierte Streitpunkte und auf Subtexte, um die defizienten Familienkonstellationen nachzuweisen. Er bringt – das ist durchaus hoch zu schätzen – Argumente und Begriffe in die Diskussion derer ein, die die westdeutsche Filmproduktion der ausgewählten Epoche, also „Opas Kino“ (in der Sprache der jungen Filmleute, die sich im Oberhausener Manifest 1962 zu Wort meldeten), als Spiegel einer therapiebedürftigen Gesellschaft verstehen. Die „Appellfunktion“ der visuellen und auditiven Zeichen, die Physiognomik der „Sinn-Bilder“, die unterschiedlichen Qualitäten der Inszenierung und schauspielerischen Vergegenwärtigung, auch die Regeln der Komposition, die Motiv-Präferenzen der Genres und die Schematisierung von Handlungen in sogenannten Standardsituationen – kurz: die ästhetische Dimension muss eine Psychohistorie des Nachkriegsfilms außer Acht lassen. Bisweilen drängt sich der Gedanke auf, dass dem Autor selbst diese Einschränkung des Blickwinkels nicht willkommen ist, denn er reagiert wiederholt auf „artistische“ Elemente und Momente der behandelten Filme, auf die Sinnlichkeit der Filme. Dafür sprechen mehrere (sprachliche) Skizzen, in denen er die Stimmung von Eingangssequenzen durchaus anschaulich wiedergibt. Es ist erfreulich zu sehen, dass der Analytiker auch Enthusiasmus für seinen Gegenstand aufbringt.

Anmerkung:
1 Vgl. Thomas Koebner / Gerd Sautermeister / Sigrid Schneider (Hrsg.), Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939–1949, Opladen 1987.

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