Titel
Kleine Geschichte der DDR.


Autor(en)
Mählert, Ulrich
Reihe
Becksche Reihe, 1275
Erschienen
München 1998: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
DM 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Cammann, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Wohl jeder angehende Historiker träumt davon, irgendwann einmal im Laufe seiner anvisierten wissenschaftlichen Karriere eine Synthese seines bevorzugten Forschungsgebietes vorlegen zu können, vielleicht gar in einem renommierten Verlag, vielleicht auch in einer Form, die sein Themengebiet - endlich, endlich! - einem größeren Publikum zugänglich machen könnte und nicht immer nur auf die leicht vorhersehbare Resonanz der seit Jahren bekannten und ermüdenden/ermüdeten Gesichter aus den immer gleichen Forschungscolloquien und Spezialtagungen angewiesen bleibt. Während sich Historiker in den angelsächsischen Ländern diesen Traum manchmal erstaunlich rasch, gar als Mitdreissiger erfüllen können (verwiesen sei hier beispielsweise auf Orlando Figes monumentale Darstellung der russischen Revolution oder auf Niall Fergusons Neupräsentation des Ersten Weltkriegs, die jüngst für Aufsehen sorgte; von Daniel Goldhagen ganz zu schweigen), haben ihre Kolleginnen und Kollegen hierzulande die lange Durststrecke der Habilitation und Berufung zu überstehen, nach der dann nur ein kleiner Teil von ihnen, bald meist jenseits des Alters von fünfzig Jahren angelangt, noch die Kraft zu einer umfassenden Darstellung aufbringt. Und jene, die vor jahrzehntelanger Spezialforschung die Lust und den Sinn für ein derartiges Projekt verloren haben, dürfen dann genüßlich auf Kongressen oder in Rezensionen an den Gesamtdarstellungen ihrer Kollegen herummäkeln, weil sich dieser oder jener kleine Fehler eingeschlichen hätte oder die wichtigste Forschungskontroverse der letzten Jahre leider nicht angemessen aufgegriffen worden sei.

Unter diesen entmutigenden Umständen grenzt es gleich an ein mehrfaches Wunder, das ein kaum dreißig Jahre alter deutscher Historiker das Wagnis eingegangen ist, auf 200 Seiten die vierzigjährige Geschichte der DDR abzuhandeln. Jahrestage haben bekanntermaßen befruchtende Wirkung, und somit liegt hier, neben Klaus Schröders voluminösem "SED-Staat" (München 1998, Hanser) und Manfred Görtemakers nicht minder umfangreicher "Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" (München 1999, C.H. Beck), eine weitere Darstellung zur deutschen Geschichte seit 1945 vor - wenn auch in einer anderen Gewichtsklasse. Das Buch "ist für jene gedacht, die sich einen Überblick" über die DDR-Geschichte verschaffen wollen und erhebt nicht den Anspruch, "diese Geschichte in all ihren Facetten zu erzählen." (S. 9)

Ulrich Mählert arbeitet am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, promovierte mit einer Studie über "Die Freie Deutsche Jugend 1945-1949" (Paderborn 1995), ist Herausgeber des für jeden über die DDR forschenden Historiker zum unentbehrlichen Hilfsmittel gewordenen "Vademekum DDR-Geschichte" (Opladen 1997), das demnächst in einer aktualisierten Auflage erscheinen soll. Im Vorwort des hier zu rezensierenden Bandes dankt Mählert seinem akademischen Lehrer Hermann Weber, dem er das Buch widmet - wohl gleichsam als akademisches Geburtstagspäckchen zu dessen 70. Geburtstag im vergangenen Jahr.

Um hieran gleich anzuknüpfen: Schüler und Lehrer liegen in ihrer Sichtweise auf vierzig Jahre DDR nahe beieinander. Herrschaftssystem und Politik stehen im Mittelpunkt; Gesellschaft und Lebenswelt treten demgegenüber ein wenig zurück. Interessanterweise läßt sich auch bei Mählert die paradoxe Wahrnehmungsverschiebung der Forschung über die DDR feststellen: Die seit langem intensiv erforschten ersten Jahre der DDR bis ca. 1961 werden nach wie vor vorwiegend unter herrschaftszentrierter Perspektive analysiert, während für die politisch "ruhigere" Zeit von 1961-1989, über die nicht diese Fülle an Literatur existiert, eher Alltagskultur und der "Blickwinkel von unten" Gegenstand des Forschungsinteresses werden.

Mählert folgt in seinen sechs Kapiteln der klassischen Chronologie, die sich auch nach der Öffnung der Archive nach 1990 bewährt hat: Nach dem Eingangskapitel, das die Jahre 1945-49 thematisiert, folgen zu jedem Jahrzehnt ein eigenes Kapitel, um dann im letzten Abschnitt die Zeit zwischen 9. November 1989 und 3. Oktober 1990 darzustellen.

Sämtliche dieser Abschnitte sind brillant geschrieben, stellenweise sogar packend. Mählert beweist einen ausgeprägten Sinn für die Dramatik historischer Prozesse, so daß zu keiner Zeit bei der Lektüre Langeweile aufkommt. Seinen didaktisch-aufklärerischen Impetus (vgl. Vorwort S. 7ff.) löst der Autor vorbildlich ein: Ein Leser, der sich nicht im aktuellen fachwissenschaftlichen Diskurszusammenhang befindet, ist nach der Lektüre über die wesentlichen Aspekte der DDR-Geschichte bestens informiert. Dies betrifft, die erwähnte Perspektive des Autors miteingerechnet, fast alle Bereiche: das politische System, die Wirtschaftsordnung, die Außenpolitik, den Alltag der Bewohner, die soziale Struktur. Leider völlig zu kurz kommen Kultur, Kunst, Literatur, Wissenschaft. Wichtige Namen wie Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Werner Tübke sucht der Leser vergeblich.

Ein gelungenes Beispiel für die Mischung aus Lese(r)freundlichkeit und Analyse ist gleich der Anfang des Buches (11ff.): Als Einstieg beginnt Mählert mit dem Besuch der SED-Spitze im September 1949 in Moskau, um danach noch einmal vier Jahre zuvor, beim Kriegsende 1945, wieder neu einzusetzen. Neben dem Spannungsmoment, der diesem "Am Anfang war Moskau"-Intro innewohnt, vermag es der Autor auf diese Weise geschickt, schon in den ersten Sätzen die Grunddeterminante der folgenden Jahrzehnte der DDR aufzuzeigen: die fortwährende Abhängigkeit von der Garantiemacht Sowjetunion. Mit Freude genießt man dann auf Seite 114f., wie Mählert die Leitmotivtechnik beherrscht und kurz vor der Absetzung Ulbrichts 1971 wieder ein Flugzeug gen Moskau fliegen läßt.

Ein Problem dieser "Kleinen Geschichte" erschließt sich schon beim Blick auf das Inhaltsverzeichnis und deutlicher dann auch bei der Lektüre: Allein das erste Kapitel (Zeitraum 1945-49) besitzt mit 14 Unterabschnitten so viele, wie die letzten drei Kapitel (Zeitraum 1971-1990) zusammen. Während die vier Jahre vor der Staatsgründung auf 45 Seiten erörtert werden, müssen sich die zwanzig Jahre nach 1961 mit 34 Seiten bescheiden. Mit anderen Worten: Das Schwergewicht der Darstellung liegt eindeutig auf den Jahren bis 1961. Dafür gibt es einige plausible Gründe: Die Forschung ist für diese Zeit sehr viel weiter vorangeschritten als für die kommenden Jahrzehnte. Gleichzeitig ist es einleuchtend, bei einem herrschaftszentrierten Blickwinkel vor allem die Entstehungs- und Ausprägungsphase des politischen Systems zu analysieren, da dieses in den kommenden Jahrzehnten kaum modifiziert wurde. Und zuletzt sei auf die bisherigen Forschungsschwerpunkte des Autors verwiesen, die ganz eindeutig in der Frühphase der SBZ/DDR liegen. Dieses fehlende Gleichgewicht, das man Mählert kaum anlasten kann, bleibt ein Manko, das jedoch für die Zielgruppe des Bandes, den interessierten Laien bzw. den am ersten Überblick interessierten Leser, kaum ins Gewicht fallen dürfte. Zu gut gelingt es dem Autor trotzdem, auch für die Zeit nach 1961 eine Fülle an Informationen über die DDR-Geschichte zu liefern, die von den politischen Krisen ebenso berichten wie von der Ausstattung der Haushalte mit Fernsehern und Waschmaschinen.

Bedauerlicherweise ist nirgendwo in diesem Buch, das immerhin eine Gesamtschau der DDR bietet, von Begriffen wie "Totalitarismus", "moderne Diktatur" oder ähnlichem die Rede. Auch der anvisierten breiteren Leserschaft hätte Mählert eine 5-10 Seiten-Reflektion der aktuellen theoretischen Konzepte zum Charakter der DDR durchaus zumuten können - denn mittlerweile finden die entsprechenden Debatten ja auch in fast jeder Tageszeitung statt. Es bleibt offen, ob den Autor derartige Debatten als unfruchtbar nicht interessieren, oder ob sich hier ein Nachwuchshistoriker, berechtigt oder nicht, vor einem karrieregefährdenden Minenfeld fürchtet.

Mit besonderem Lob muß die gelungene Auswahl der 29 Fotografien bedacht werden, die auch für den DDR-Ikonografie-Kundigen Überraschungen bereithält. Die Bilder machen die DDR wirklich anschaulich.

Die kommentierte Literaturübersicht auf zehn Seiten ist eine weise und für den Anfänger sehr hilfreiche Alternative zu einer an Vollständigkeit orientierten Bibliographieflut. Sie macht in ihrer sinnvollen Titelauswahl den tieferen Einstieg in die Thematik (bis hin zu Angaben über die Archive und die wichtigsten Forschungsinstitutionen) unkompliziert möglich.

Nach soviel Lob seien dem Rezensenten noch die eingangs erwähnten obligatorischen Mäkeleien desjenigen, der noch keine Synthese vorgelegt hat, gestattet:

In seiner Fabulierfertigkeit schießt der Autor manchmal über sein Ziel hinaus. Ein Satz wie "Was gestern war, wurde zur Vergangenheit." (17) ist unfreiwillig komisch; die Charakterisierung des saarländischen Dachdeckers Honecker als "roten Zar" (146) nicht unbedingt treffend. Das Wort "Vereinigungsvertrag" (173) sollte durch die übliche Bezeichnung "Einigungsvertrag" ersetzt werden; und nicht jedem Gymnasiasten im Allgäu wird - leider, leider - der Terminus "Tschekisten" (172) ohne Erläuterung verständlich sein. Der Rezensent konnte die "Konsultationen Valentin Falins in Bonn" (174) nicht eruieren; vielleicht ist hier dessen Mitarbeiter Nikolai Portugalow gemeint, der im Auftrag Falins im November 1989 bei Kanzlerberater Teltschik sondierte. Und den Rechtsanwalt und IM Wolfgang Schnur mit dem Vornamen "Manfred" zu versehen (178 und 207), gehört sicherlich in den erheiternden Bereich "Freudscher Verschreiber" eines Historikers der DDR, der nur ein paar Kilometer von der Potsdamer Staatskanzlei entfernt tätig ist.

Alles in allem kann man dieser "Kleinen Geschichte" möglichst viele Auflagen und weite Verbreitung in Ost und West wünschen. Die Aufgabe einer "kleinen" Synthese hat der Autor insgesamt bravourös gemeistert. Sie leistet wertvolle Arbeit gegen die von Mählert konstatierte weitverbreitete "Unkenntnis" über die Geschichte der DDR (8). Eine letzte Anmerkung: Daß der Autor selbst in diesem Zusammenhang die DDR-Geschichte als "die andere deutsche Nachkriegsgeschichte" charakterisiert (9), mag zwar den Realitäten des wiedervereinigten Deutschland entsprechen und der Rezeption des Allgäuer Gymnasiasten, aber nicht unbedingt der seines Geraer Cousins.

Und schließlich: Jeder angehende Historiker, der seinen Traum von der Gesamtdarstellung noch nicht aufgegeben hat, sollte dieses Buch zwecks Vorbild und Ansporn zur Hand nehmen - ebenso aber auch gestandene Ordinarien.

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