D. Blackbourn: Marienerscheinungen

Titel
Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen - Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes


Autor(en)
Blackbourn, David
Erschienen
Hamburg 1997: Rowohlt Verlag
Anzahl Seiten
704 S.
Preis
DM 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Constantin Goschler, Castrop-Rauxel

Vier Jahre nach dem Erscheinen der englischen Originalausgabe von David Blackbourns Studie ueber den Marienkult in Marpingen in der Bismarck-Aera, das 1996 von der American Historical Association als "bestes neues Buch zur deutschen Geschichte" ausgezeichnet wurde, liegt nun eine deutsche Uebersetzung vor. Damit wird das ausgezeichnet lesbare Buch auch in Deutschland einem breiteren Publikum nahegebracht. Blackbourn geht von einem einzelnen, scheinbar peripheren Ereignis aus, um ein breites gesellschafts- und kulturgeschichtliches Panorama einer ganzen Epoche zu entfalten: Drei kleine Maedchen aus dem saarlaendischen Marpingen hatten 1876 beim Beerensammeln im Wald eine Erscheinung der Jungfrau Maria. Diese Vision zog dramatische Vorgaenge nach sich: Als zahlreiche Pilger in das zum neuen Lourdes ausgerufene Dorf stroemten, kollidierte die katholische Wallfahrtsbewegung heftig mit dem preussischen Staatsapparat, es kam zur zeitweiligen militaerischen Besetzung des Dorfes, zu Gerichtsverfahren und Parlamentsdebatten. Vor dem Hintergrund des preussischen Kulturkampfes wurde Marpingen zu einem Symbol in der Auseinandersetzung zwischen Antiklerikalen und katholischer Erneuerungsbewegung.
Blackbourns Buch traegt damit zu der wachsenden Anerkennung der Bedeutung von Religion fuer die Lebenswelt des 19. Jahrhunderts bei. Auch in methodischer Hinsicht knuepft er dabei an seine frueheren Arbeiten an: Er versucht an diesen Vorgaengen "sichtbar zu machen, wie Oekonomisches, Soziales, Politisches und Kulturelles ineinandergreifen", wozu er sich vor allem einer Reihe klassischer sozialhistorischer analytischer Kategorien bedient: Herrschaft, Klasse, Status, Geschlecht. Dabei zeigt seine Verwendung dieser Begriffe die Verarbeitung von Ueberlegungen aus dem Umkreis des "linguistic turn", indem er Herrschaft unter anderem auch als sprachlich generiert begreift. So unterscheidet er in seinen Quellen zwei zentrale Diskurse: neben dem der katholischen Priester und Publizisten vor allem den liberal-fortschrittlichen. Das Gegenueber dieser beiden Diskurse strukturiert denn auch seine Erzaehlung, die die Ereignisse in Marpingen in den weiteren Zusammenhang des preussischen Kulturkampfes einbettet, der nicht allein einen Kampf um die Trennung von Kirche und Staat, sondern um die kuenftige Gestalt der deutschen Gesellschaft dargestellt habe.
Die Untersuchung erfolgt in drei Schritten: Erstens leuchtet Blackbourn den Hintergrund der Marpinger Ereignisse aus. Marienerscheinungen bildeten europaweit eines der grossen kollektiven Dramen im 19. Jahrhundert, als deren bekannteste Beispiele Lourdes und Fatima gelten. Diese versteht der Autor als volkstuemliche Krisenreaktionen, die sich vor dem Hintergrund des Wiederauflebens von Formen intensiver Gefuehlsfroemmigkeit entwickelten. Im Mittelpunkt der katholischen Erneuerung stand der Kult um die Jungfrau Maria, der zwar von der Amtskirche gefoerdert wurde, aber im Volksglauben eine eigene Dynamik entfalten konnte. Marpingen bildet fuer Blackbourn im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts ein Musterbeispiel dieser katholischen Erneuerung und zugleich einen Paradefall fuer die typische Konstellation vieler Orte, an denen Marienerscheinungen auftraten: Das saarlaendische Bergarbeiter- und Bauerndorf wurde von den Kraeften der Veraenderung erfasst, befand sich aber gleichzeitig in einer Randlage. So konstatiert Blackbourn in Marpingen viele Elemente des Uebergangs und der Ungewissheit: weit verbreitete Verschuldung, die Frage der Auswanderung, Konflikte mit dem Staat um die Nutzung des Gemeindewaldes. Diese verbanden sich zusammen mit den Auswirkungen des Kulturkampfes und der wirtschaftlichen Depression Anfang der siebziger Jahre zu einer Stimmung der Verzweiflung und der Sehnsucht nach Erloesung. Gerade die Schwaeche des organisierten Katholizismus in dieser Gegend beguenstigte dabei diffuse emotionale Reaktionen gegen die Drangsalierung der Katholiken als 'Reichsfeinde'. Dazu gehoerten stumme Renitenz gegen die staatliche Obrigkeit ebenso wie zunehmende religioese Inbrunst und Endzeitstimmung.
Der zweite Hauptteil wendet sich den Erscheinungen selbst zu. Seinen Anspruch, eine "innere" und eine "aeussere" Sicht auf die geschilderten Geschehnisse zu verbinden und sowohl den Sinn der Marienerscheinung fuer diejenigen "Menschen, welche die unmittelbare Welt der Visionaerinnen teilten, als auch die Bedeutung, die Marpingen fuer andere bekommen sollte", zu beruecksichtigen, loest Blackbourn besonders ueberzeugend bei der Darstellung der Visionaerinnen ein. Das Erlebnis der Erscheinungen sei keineswegs trivial und auch nicht allein als Konstrukt von Erwachsenen interpretierbar. Das Leben der zugleich verspielten und verzweifelten Maedchen war durch sozialen Abstieg und gefaehrdete Familienrespektabilitaet gezeichnet. Mit Hilfe ihrer Visionen "schufen (sie) sich das Bild eines besseren Lebens und genossen den Rausch ihres neuartigen Status, aber sie wurden auch von Schuldgefuehlen bedrueckt und von Aengsten gequaelt." Dabei wurden sie von ihrer erwachsenen Umwelt unterstuetzt, bis ihre Erzaehlung schliesslich ein Eigenleben entwickelte.
Dazu trugen vor allem die Reaktionen des preussischen Staates bei, der auf die einsetzende Pilgerbewegung an den Ort der Erscheinung mit drakonischer Haerte reagierte. Indem dieser mit Polizisten, Militaer und Strafjustiz versuchte, das Entstehen eines neuen Wallfahrtsortes, eines deutschen Lourdes in Marpingen zu verhindern, machte er schliesslich eine Staatsaffaere daraus. Blackbourn will damit auch zeigen, dass der preussische Kulturkampf ein gewalttaetigeres Gesicht besass, als oftmals angenommen wird. Zugleich sieht er in Marpingen ein Musterbeispiel fuer katholische kommunale Selbstbehauptung, die letztlich auch katholischen Klerus und katholische Laienschaft enger zusammenruecken liessen.
Aber nicht der preussische Staat Bismarckscher Praegung, sondern vielmehr die Liberalen fungieren in Blackbourns Erzaehlung als die eigentlichen Antipoden des volkstuemlichen Katholizismus. Fuer diese stellte Marpingen einen Schock dar, den sie nur als Ergebnis des Zusammenwirkens einer rechtskatholischen Verschwoerung nach franzoesischem Vorbild und mangelnder Bildung des katholischen Volkes erklaeren konnten. So bestaetigte Marpingen "die Liberalen in der urspruenglichen Zielsetzung des Kulturkampfes, dem Kampf des Fortschritts gegen die Rueckstaendigkeit". Der liberale antikatholische Diskurs bediente sich dabei naturwissenschaftlicher Anleihen, insbesondere eines im Sinne eines teleologischen Fortschrittsglauben interpretierten Darwinismus sowie in der Anwendung von Krankheitsmetaphern auf die Katholiken, denen auf diese Weise verbale Gewalt zugefuegt worden sei. Hier zeigten sich, so Blackbourn, die "Grenzen liberaler Sympathie fuer die unteren Volksschichten", die als "Poebel" und "hysterische Weiber" begriffen wurden, aber auch die Grenzen des liberalen Fortschrittsoptimismus wurden hier mitunter bereits deutlich.
Ebenso wie in der Interpretation der Ereignisse zeigten sich die Liberalen auch in ihren Reaktionen auf die militaerischen und polizeilichen Massnahmen uneinheitlich: "Sie reichten von lebhafter Unterstuetzung durch fast alle Nationalliberalen bis zu Bedenken, die einige linksliberale Stimmen aeusserten." Waehrend die Nationalliberalen durch ihre Unterstuetzung eines harten Durchgreifens Loyalitaet zum Buendnis mit Bismarck demonstrieren wollten, sahen die Linksliberalen deutlicher das rechtsstaatliche Dilemma, in das sie der Kulturkampf-Kurs hinein fuehrte. Um so bemerkenswerter findet es Blackbourn, dass die Linksliberalen den preussischen Staat, unter dem sie in den fuenfziger und sechziger Jahren so sehr zu leiden hatten, nun in die Rolle der "fortschrittlichen Kultur-Dampfwalze" draengten.
Doch erlitt der Staat, wie Blackbourn im dritten Hauptteil zeigt, der sich mit den Folgen dieser Ereignisse beschaeftigt, schliesslich eine komplette Niederlage. Im preussischen Abgeordnetenhaus, wo die katholische Zentrumspartei 1878 den Antrag gestellt hatte, die gegen Marpingen verhaengten Massnahmen zu ueberpruefen, kam es zu einer erregten Debatte. Wie die Linksliberalen hier schon bemerkten, verteidigten die Nationalliberalen eine Politik der harten Hand gegenueber den Katholiken, von der sich Bismarck im Zuge seiner politischen Neuorientierung jedoch bereits absetzte. Die eigentliche Schlappe erfolgte aber vor den Gerichten: Aus den kompletten Freispruechen der im Zuge der Marpinger Ereignisse vor Gericht gestellten Angeklagten zieht Blackbourn den Schluss, dass das kaiserzeitliche Preussen ein Rechtsstaat war, in dem die Justiz im wesentlichen ihre Unabhaengigkeit bewahren konnte.
Die katholische Kirche, die durch den Kulturkampf stark geschwaecht war, vermied hingegen eine klare Stellungnahme zu den Marpinger Visionen. Dies naehrte unter der katholischen Bevoelkerung den Verdacht, dass hier eine echte Marienerscheinung unterdrueckt worden sei. So konnte der Kult in den Krisenzeiten des 20. Jahrhunderts immer wieder aufflackern, insbesondere als im Zuge des Kalten Krieges der Marienkult in Europa auch amtskirchlich gefoerdert wurde. Letztlich habe das Marpinger Marienwunder erst durch das Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik seine Kraft endgueltig verloren.
Blackbourn schliesst seine Untersuchung mit drei allgemeinen Schlussfolgerungen:
Erstens verweisen die Ereignisse auf die oft unterschaetzte Macht der Religion im Europa des 19. Jahrhunderts, wobei es ihm neben der Bedeutung der Amtskirche vor allem auf die Volksfroemmigkeit ankommt.
Zweitens, so Blackbourn, koenne weder Preussen, noch Preussen-Deutschland umstandslos als autoritaer bezeichnet werden.
Und drittens sei Marpingen als eine Art Revolte gegen die Moderne, das moderne Wirtschaftsleben und den modernen Staat anzusehen. Damit greift er auf das Interpretament der "Ambivalenz der Moderne" zurueck, das in den letzten Jahren den in modernisierungstheoretischen Ansaetzen implizit enthaltenen Fortschrittsoptimismus stark zurueckgedraengt hat. Freilich warnt er davor, einfach nur die Vorzeichen der Bewertung zu vertauschen und nunmehr die 'modernisierungsgeschaedigten' Katholiken den fortschrittsglaeubigen Liberalen gegenueber als moralisch ueberlegene Helden einer neuen "grossen Erzaehlung" auftreten zu lassen. Dabei bleibt nach der Lektuere seines Buches gleichwohl der Eindruck haften, dass der preussische Staat in seiner Bewertung positiver abschneidet als die Liberalen: Denn waehrend die autoritaeren Exzesse des Staates wenigstens noch durch Rechtsstaatlichkeit eingedaemmt wurden, blieb die Gewalt des liberalen antikatholischen Diskurses ungezuegelt und bediente sich dabei gar, so Blackbourn, menschenverachtender biologistischer Kategorien, die unter anderen Verhaeltnissen - dies wird nicht ausgesprochen - schliesslich auch in reale Vernichtung umschlagen konnten.
Die Hauptsympathie des Autors schliesslich, so darf man vermuten, gilt freilich der katholischen Bevoelkerung, deren Marienkult hier keineswegs als Form klerikaler Fremdbestimmung, sondern als eigensinnige Reaktion auf soziale und politische Bedrueckung verstanden wird. So wird das Verhalten der Marpinger gegenueber den gegen sie ergriffenen staatlichen Unterdrueckungsmassnahmen nicht nur als Renitenz, sondern sogar - in Anknuepfung an eine umstrittene Formulierung Martin Broszats, die sich auf die geringere Anfaelligkeit des katholischen Milieus gegenueber dem Nationalsozialismus bezieht, als 'Resistenz' bezeichnet. Bei diesen, in Blackbourns Buch freilich nur angedeuteten perspektivischen Verlaengerungen, besteht freilich Grund zu Vorsicht. Denn, so waere zu fragen, war die Abloesung des Marienwunders durch das Wirtschaftswunder die einzige historische Langzeitperspektive? Konnte vielleicht die von Blackbourn in den Vordergrund gestellte Trostfunktion des Marienkults beispielsweise auch durch den Fuehrerkult beerbt werden? Diese Fragen zu stellen, bedeutet nicht, Blackbourns Schlussfolgerungen zurueckzuweisen, sondern die von ihm betonte Ambivalenz seiner Schlussfolgerungen ernstzunehmen.

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