W. Seidenspinner: Mythos Gegengesellschaft

Titel
Mythos Gegengesellschaft. Erkundungen in der Subkultur der Jauner


Autor(en)
Seidenspinner, Wolfgang
Erschienen
Muenster 1998: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 25,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Holger Th. Graef, Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde

Die Geschichte und Kultur der Gauner- und Raeuberbanden gehoert seit einigen Jahren zu den beliebten Themen der sozial- und kulturgeschichtlichen Forschung. Dieses Interesse hat seinen Niederschlag in einigen Monographien, Sammelbaenden und unzaehligen Zeitschriftenbeitraegen gefunden, die zu einem grossen Teil ueber die rund 40-seitige Bibliographie des hier besprochenen Werkes leicht zu greifen sind. Der Autor Wolfgang Seidenspinner ist nun bestrebt, sich diesem Gegenstand in volkskundlicher Perspektive zu naehern: Er beschaeftigt sich dazu mit der in Spaetmittelalter und frueher Neuzeit herausgebildeten unterstaendischen Schicht der Jauner, oder - um den heute eher gebraeuchlichen Begriff zu benutzen - der Jenischen. Dabei gelingt es ihm gewissermassen parallel zu seiner eigentlichen Untersuchung, eine Kritik an der Forschungsstrategie der herkoemmlichen Volkskunde als "buergerlich stilisierte Bauernkunde" (Hermann Bausinger) zu formulieren, die unter- oder randstaendische Gruppen der vorindustriellen Gesellschaft weitgehend ausgeklammert hatte - eben die Jauner und Raeuber oder etwa auch die Juden. Als wesentliche Ursache fuer diese eingeengte Perspektive fuehrt Seidenspinner das in der volkskundlichen Forschung lange Zeit vorherrschende Bild der traditionalen Gesellschaft als "einer an die Traditionen gebundenen statischen Gesellschaft" (S. 13) an. Diese Blickrichtung aenderte sich erst mit der Entwicklung der historischen Volkskunde nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ausgehend von diesem diagnostizierten Befund naehert sich Seidenspinner den Jaunerbanden vornehmlich in Sued- und Suedwestdeutschland im 18. und fruehen 19. Jahrhundert von verschiedenen Seiten. Neben den herangezogenen gedruckten Quellen - Rechtsquellen und Aktenpublikationen, zeitgenoessische Reiseberichte, Woerterbuecher, Sagensammlungen u.ae. - stuetzt er sich dabei auch auf ungedrucktes Archivmaterial aus dem Bayerischen Staatsarchiv Wuerzburg und dem Generallandesarchiv in Karlsruhe.

In sich zwar schluessig - in einzelnen Aspekten wuerde der Allgemeinhistoriker allerdings wohl anders akzentuieren und vor allem datieren - legt Seidenspinner in einem ersten Schritt dar, wie die alteuropaeische Gesellschaft zunaechst "sesshaft" wurde, sich in staedtischen und laendlichen Gemeinden und Staenden gliederte und die Gruppen ueber diese korporativen Organisationsformen ihre je spezifische Selbststilisierung und -konstituierung erlebten. (Es faellt wohltuend auf, dass sich der Autor dem in letzter Zeit in diesen Zusammenhaengen inflationaer benutzten Begriff "Identitaeten" enthaelt!) Wesentlich fuer den Erfolg dieser Prozesse war die Herausbildung eines Gegensatzes, eines Feindbildes, das die Angehoerigen der gemeindlich-korporativen Subsysteme in den nichtsesshaften, unehrlichen und unterstaendischen Teilen der Bevoelkerung fanden. Mit der Ausbildung der territorialen Staatlichkeit ab dem 14. und 15. Jahrhundert erlebten diese Vorgaenge insofern eine Beschleunigung und Verschaerfung als die "Fahrenden" und "Vagierenden", denen die Obrigkeit mit ihrem fiskalischen, religioesen und allgemein polizeilichen Ueberwachungsbestreben nicht habhaft werden konnte, jetzt grundsaetzlich marginalisiert und kriminalisiert wurden. Dabei verlief die Entwicklung allerdings in zwei Richtungen. Einerseits konnten sich die staendisch ausgegrenzten Angehoerigen bestimmter Gewerbe aufgrund fuerstlicher Privilegien quasi-zuenftisch bzw. korporativ organisieren, wie der Verfasser anhand der Spielleute, dem sog. Koenigreich der Pfeifer, den Kesslerkreisen oder dem Basler Kohlenberg exemplarisch aufzeigt. Andererseits darf man die lebensweltliche Wirksamkeit dieser Einrichtung freilich nicht zu hoch einschaetzen und eine fortschreitende Ausgrenzung und Verfolgung des Landstrassenvolkes wird wohl die Regel gewesen sein. Dabei stellt Seidenspinner die abgeschotteten, auf Erhalt ihrer Lebensgrundlagen und ihres Selbstverstaendnisses bedachten Angehoerigen der staendischen Gesellschaftsgruppen und die Gruppe der Jauner allerdings ein wenig zu dychotomistisch gegeneinander. Letztere will er in etwas anachronistischer Sicht und Begrifflichkeit gar als "Sammelbecken" fuer die "Verlierer der sozialen Neugestaltungen und Umwaelzungen des Spaetmittelalters und 'Repraesentanten‘ der sozialen Frage der fruehen Neuzeit" sehen. Und ob fuer die "in den fruehneuzeitlichen Territorien entfaltete ... Staatsraeson ... die Verachtung des Poebels konstitutiv war" (S. 79) werden viele Fruehneuzeithistoriker anzweifeln.

Im naechsten Schritt wird die prekaere Lebenssituation der Landstrassenbewohner beschrieben, die im Laufe des 18. Jahrhunderts einer rigider und vor allem effektiver werdenden Verfolgung durch die obrigkeitlichen Ordnungskraefte ausgesetzt waren. Unterstuetzt wurde diese Entwicklung einerseits durch die sich bis weit in das 18. Jahrhundert hinein weiter stabilisierende staendisch bestimmte Gesellschaftsordnung und andererseits durch das zunehmend rationalistische Gedankengut der Aufklaerung, das in ihnen nicht nur die "unnuetzen, sondern auch ueberlaestigen Mitglieder des gemeinen Wesens" (Joh.H.G. Justi) sah. Gleichzeitig drifteten immer mehr Menschen durch die sich verschlechternden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab und vergroesserten das Heer der Fahrenden und Vagierenden. Die soziooekonomischen, staatlich-politischen und nicht zuletzt mentalen Verunsicherungen und Umbrueche im Gefolge der Revolutions- und Napoleonischen Kriege verschaerften diese Problematik weiter. Anhand der Karriere eines Odenwaelder Raeuberhauptmanns exemplifiziert der Verfasser diese Zusammenhaenge. Die damals aktiven Raeuberbanden wurden von der Obrigkeit und der buergerlichen Oeffentlichkeit allgemein als Gefahr von Ruhe und Ordnung und subjektiv als existentielle Bedrohung von Leib und Besitz empfunden. Demgegenueber wurde die Figur des Raeubers im Volk einerseits mit zauberischen und daemonischen Kraeften in Verbindung gebracht oder andererseits zum Freund der Entrechteten und Armen stilisiert; eine Rolle, die von der historischen - von Seidenspinner in diesem Bereich zu Recht kritisierten - Forschung mit dem Konzept des "Sozialrebellen" (Hobsbawm) wiederaufgenommen worden ist.

Trotz der aggressiven Abgrenzung der staendischen Gesellschaft sieht der Verfasser die Jauner nicht als distinkte Bevoelkerungsgruppe oder als Subkultur. Aufgrund einer Auswertung von ueber 530 Steckbriefen im Hinblick auf das Kleidungsverhalten vermeint er zwar einen "als individuell zu bezeichnenden Zug" (S.237) und die "Konstituierung eines eigenen Stils der Jauner" nachweisen zu koennen, stellt aber im gleichen Atemzug einschraenkend fest, dass dieser Stil letztlich "im untersuchten Zeitraum Veraenderungen unterworfen und grundsaetzlich abhaengig war von Kleidungsangebot und Kleidungsverhalten der Gesellschaft" (S.238). - Nach fast 90 Seiten detailliert beschreibender und statistischer Ausfuehrungen ein etwas enttaeuschendes Ergebnis.

Intensiv beschaeftigt sich Seidenspinner schliesslich mit der "Vorstellung einer Gegengesellschaft der Jauner" (S. 239). Dabei stellt er das von Carsten Kuether und anderen entworfene und verteidigte Bild der Raeuber- und Jaunerbanden in die Tradition des Gegengesellschaftsdiskurses des 19. Jahrhunderts (besonders Wilhelm H. Riehl). Anschliessend zeigt er in einem Parforceritt, wie die von der pikaresken Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts entworfenen, letztlich utopischen Bilder einer Gegengesellschaft und des edlen Raeubers im oeffentlichen Diskurs des 18. und vor allem 19. Jahrhunderts auf die Realitaet uebertragen worden sind. Zum einen konnten sie damit zwar zu einem Topos der buergerlichen Staats- und Gesellschaftskritik werden, zum anderen verstellten sie aber die unvoreingenommene sachliche Sicht auf das Phaenomen fuer die Zeitgenossen wie fuer die nachfolgenden Forscher.

Allerdings muss der Historiker an einigen Stellen des Buches ein dickes Fragezeichen setzen, was allerdings auch an dem mitunter nicht immer ganz klaren und gelegentlich schwer verstaendlichen Stil des Verfassers liegen mag. So wurde die Resistenz der alteuropaeischen Lebens- und Sozialformen wohl kaum "durch obrigkeitliche und kirchliche Normierung und Disziplinierung" begruendet, sondern doch eher unterstuetzt oder besser gesichert - oder fehlt hier ganz einfach ein Praedikat? (S.37). Die historische Forschung hat sich zwar mittlerweile an die Krise des Spaetmittelalters und vor allem die Krise des 17. Jahrhunderts gewoehnt. Auch die "Crisis of the 1590's" (vgl. den von P. Clark herausgegebenen Sammelband) ist mittlerweile eingefuehrt. Aber das gesamte 16. Jahrhundert zu einem weiteren "krisengeschuetteltenen" Jahrhundert zu erklaeren (S. 79), laesst die begriffliche Praezision und vor allem den heuristischen Wert eines wissenschaftlichen Gebrauchs des Krisenbegriffs vollends verdampfen.(vgl. Th. Rabb, The struggle for stability, besonders S.34)

Allerdings sollte diese Kritik nicht das wesentliche Verdienst der Arbeit ueberdecken. In der Kombination von kritischer Ueberpruefung bzw. Revision der volkskundlichen Forschung sowie des zeitgenoessischen Diskurses mit eigenen historischen Untersuchungen und insbesondere durch die Einbindung des Phaenomens "Jauner" in die Entwicklung der alteuropaeischen Staendegesellschaft gelingt Seidenspinner eine zum Teil neue Sicht auf diese randstaendische Bevoelkerungsgruppe und eine gelungene Abrechnung mit liebgewonnenen Stereotypen.

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